Zu sehr habe ich begriffen, wer von Kriegen profitiert
Kurt Gutmann
Zu sehr habe ich begriffen, wer von Kriegen profitiert
Von Kurt Gutmann
Bis heute zucke ich zusammen, wenn mich jemand von hinten antippt. Jungen aus meiner Klasse taten sich in Grüppchen zusammen, um mich zu verprügeln. Sie schlichen sich von hinten an, klopften mir auf die Schulter, warfen mich zu Boden, prügelten und traten. Das passierte wieder und wieder. Wenn ich blutverschmiert nach Hause kam, kühlte Mutter mir die Wunden. Nur einer beteiligte sich nicht an den Brutalitäten; der Stärkste der Klasse, ein Bergarbeiterkind. Sohn eines Kommunisten.
Ende Juni 1939 schickte mich meine Mutter mit einem der letzten Kindertransporte nach Schottland. Knapp drei Monate später begann der II. Weltkrieg. An jenem Tag, an dem ich siebzehneinhalb Jahre alt wurde, meldete ich mich freiwillig zum Schottischen Hochlandregiment. Ich diente bis 1948 in der britischen Armee.
Im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns würdigte der polnische Präsident Lech Kaczynski (ich zitiere) „alle Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland und den bolschewistischen Totalitarismus gekämpft haben“. Solch eine Deckungsgleichheit zwischen Antikommunismus und Irrationalismus in nur einem Satz ist eher selten. Kaczynski würdigt faktisch die gegen die Sowjetunion ausgezogenen faschistischen Mörderbanden in einem Atemzug mit den sowjetischen Soldaten, welche die Nazihorden zerschlugen und Polen vom Faschismus befreiten. Ob er das wohl bemerkt? Oder hält er die Geschichtsrevision für so weit fortgeschritten, daß dieser Schwachsinn nicht mehr wahrgenommen wird?
Meine Hoffnungen, daß meine in Deutschland verbliebene Familie vielleicht doch überlebt, verbanden sich maßgeblich mit dem Kampf der Sowjetunion gegen den Faschismus. Im November 1945, ich hatte in Schottland Kontakte zu Kommunisten, wurde ich Mitglied der KPD, und auch jenes Mißtrauen, das mir, dem Westemigranten, so manches Mal in der DDR entgegengebracht wurde, hat meine kommunistischen Überzeugungen nie ernsthaft erschüttert. Zu sehr habe ich begriffen, wer von Kriegen profitiert und selbst aus dem Zyklon B Gewinn zog, in dem Millionen elend erstickten. Ich weiß nicht genau, wann meine Mutter umkam, wann mein ältester Bruder starb, der sie begleitete, obwohl er sich vielleicht hätte verbergen können.
2005 fuhr ich im Zug mit meiner Enkelin Tanja nach Polen, auf dem Weg, auf dem meine Mutter und Hans 1942 in den Tod deportiert wurden. Meine Nachforschungen haben ergeben, daß ihre Namen auf der Transportliste von Mühlheim nach Izbica vermerkt sind. Izbica war eine kleine polnische Ghetto-Stadt. Von dort wurden sie dann Ende April 1943 zur Vergasung in das Vernichtungslager Sobibor gebracht. Allein in Sobibór wurden 250.000 Menschen industriell ermordet. Hier kamen also meine Mutter und mein Bruder Hans um. Es bleibt die Unabänderlichkeit, daß ihre Spuren hier enden. Nach dem einzigen erfolgreichen Aufstand in einem Vernichtungslager machten die Nazis das Gelände von Sobibor dem Erdboden gleich und ließen dort Bäume pflanzen. Jetzt ist da die Allee der Erinnerung. Eine Gedenkplakette auf einem Feldstein dieser Allee trägt die eingemeißelten Namen meiner Lieben. Eine Tanne, gepflanzt von meinem Sohn, steht daneben. Es sind viele solcher Feldsteine und Tannen dort. Die Arbeit von jungen Deutschen. Ich bin beruhigter, seit ich dies weiß. So können die Ermordeten den Menschen im Gedächtnis bleiben, und ich habe meiner Mutter und Hans eine Grabstelle gegeben – trotz alledem.
Jedes Jahr kommen neue Steine der Erinnerung hinzu, wird die Allee gegen das Vergessen ergänzt. Die Nazis wollten die Zeugnisse ihrer Untaten unkenntlich machen. Aber die wenigen Überlebenden des Aufstandes kannten den Weg, der von der Bahnrampe direkt in die Gaskammern führte. Er wächst heute zur Allee der Erinnerung. Mit jedem, der herkommt, eine Blume oder einen Stein niederlegt, im Museum die Geschichten nachliest, erfahren die Ermordeten die Achtung, die man ihnen verwehrte, als man ihnen das Kostbarste, was uns Menschen gegeben ist, raubte: Das Leben. Damit dies nirgendwo mehr passiert, bin ich aktiver Antifaschist, werde ich als Nebenkläger und Zeuge im Prozeß gegen Demjanjuk aussagen.
Unfaßbar eigentlich, daß Nazis wieder ihr Haupt heben, auf den Straßen grölen, in Parlamenten pöbeln, Linke und Ausländer jagen und in alten Faschisten ihre Vorbilder sehen. Doch das Unfaßbare ist Realität, weil – wie Brecht sagte – der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch. Der Schoß, das sind kapitalistische Verhältnisse, die nicht zwangsläufig Faschismus erzeugen müssen, aber es jederzeit könnten, würden zivile Formen der Kapitalherrschaft die Profitmaximierung nicht mehr zu Genüge absichern. Weil ich das weiß, bin ich Antifaschist und – als Mitglied der LINKEN – Kommunist.
Nachtrag: Mumia Abu Jamal sitzt nun 26 Jahre in der Todeszelle und soll nach den letzten Urteilen einem Justizmord zum Opfer fallen – ich bitte Euch alle, wenn dazu aufgerufen wird, gegen den vorgesehenen Justizmord zu protestieren. Ich möchte Euch jetzt noch ein Lied vorsingen, das ich im FDJ-Chor in Glasgow gelernt habe: „Join in the fight“.