Zu Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" (1963)
Auszüge
"Im Herbst 1959", schreibt Rolf Hochhuth, "ließ ich mich ein Vierteljahr beurlauben, um in Rom den ‚Stellvertreter’ zu skizzieren, den ich im Frühjahr 1961 beendete". Zwei Jahre später, im Februar 1963, wurde dieses Schauspiel in Westberlin unter Erwin Piscator uraufgeführt. Zahllos waren die Proteste der katholischen Kirche: Der Autor hatte das Schweigen des Papstes angesichts des Judenverfolgungen als moralische Schuld definiert. Und: Hochhuth lässt die Motive dieses Schweigens nicht im Dunklen.
(Aus dem 3. Akt: "Die Heimsuchung")
Kardinal: Ihr Deutschen, ja! Ihr entsetzlichen Deutschen.
Ich habe euch ja so gern, nicht wahr, der Chef
hat euch lieb - aber laßt doch das
mit den Juden, nicht wahr! Ihr ewigen
Friedensstörer und Protestanten, ja. Treibt
ihr es nun so weit, daß auch der Papst
euch jetzt vor aller Welt blamieren muß!
Hier unter seinem Fenster ...
verschleppt ihr Frauen und Kinder, und
jeder weiß, nicht wahr, daß keiner wiederkommt!
Ihr zwingt uns ja dazu, nun
zwingt ihr den Papst, nicht wahr,
von den Verbrechen öffentlich
Kenntnis zu nehmen, ja.
Riccardo: Gott sei gedankt! Endlich muß …
Kardinal (fährt empört auf Riccardo los, der das provozierend spöttisch hinnimmt): Das verbitte ich mir, Graf Fontana!
Sind Sie so engstirnig zu übersehen, ja,
daß jeder Fluch der Kurie gegen Hitler
zur Siegesfanfare
der Bolschewisten wird, nicht wahr?
Herr Stalin marschiert auf Kiew. Hitlers
Sommeroffensive ist total gescheitert ...
(Zu Gerstein, fast weinend:) Was tut ihr nur, ihr Deutschen!
(Aus dem 4. Akt: "Il GRAN RIFIUTO")
Papst: [...] Die Generalität hat keine Meinung,
wenn Hitler fällt, wird sie nach Hause gehen ...
Kardinal: Und Stalin hätte freie Fahrt nach Warschau,
Prag, ja Wien - ja, bis zum Rhein, nicht wahr.
Papst (hat sich wieder gesetzt): Ob sich der Präsident darüber klar ist?
Stalin läßt sich nicht einmal sprechen von ihm.
Seit Casablanca führt die Vernunft
im Weißen Haus nicht mehr allein das Zepter.
Und Mr. Churchill ist zu schwach. Er scheint
auch nicht gewillt, im Westen
eine zweite Front zu bilden. Er sieht es gern,
wenn sich die Russen an den Deutschen
erst gründlich erschöpfen, so wie
die Deutschen an den Russen.
Kardinal: Wir können auch nicht bös darüber sein, nicht wahr.
Papst (klopft bei jedem Wort auf die Lehne seines Thrones): Hitler allein, lieber Graf, verteidigt jetzt Europa.
Und er wird kämpfen, bis er stirbt,
weil ja den Mörder kein Pardon erwartet.
Dennoch, der Westen sollte ihm Pardon gewähren,
solange er im Osten nützlich ist.
Wir haben öffentlich im März erklärt, nichts,
gar nichts zu tun zu haben mit den Zielen
der USA und Großbritanniens.
Die sollen sich mit Deutschland erst vertragen.
Der spanische Außenminister hat das leider
vor aller Welt schon propagiert.
Wie dem auch sei: die Staatsräson verbietet,
Herrn Hitler als Banditen anzuprangern,
er muß verhandlungswürdig bleiben.
Wir haben keine Wahl.
(Aus dem 5. Akt: "Auschwitz oder Die Frage nach Gott")
Müller (liest vor): Also, kurz und grob: Grundlaache des Vertraachs,
das Auschwitzer Gebäude hundertzwanzig
mal hundertachtzig Meter
wird die SS an Friedrich Krupp verbachten.
Zwotens: Die Schaltstation, von Krupp erbaut,
von Krupp auch eingerichtet, wird der SS-Verwaltung übereichnet. [...]
Rutta: [...] Kollege Streifer
von IG-Farben hat weiß Gott nicht übertrieben,
als er rühmte, wie musterhaft SS und Industrie
in Auschwitz harmonieren.
Fritsche: Ja, auch Siemens beschäftigt Zwangsarbeiter
aus einigen KZs.
Müller: Alfred von Bohlen wollte im September
’nen Herrn ja schon nach Auschwitz schicken.
Und Herr von Bohlen weiß, daß sein Büro in Breslau
das technische Büro, aufs engste
mit Auschwitz Verbindung hält ...
Rutta (unvermittelt): Die Leute hier sind leicht zu kontrollieren!
Fritsche: Hier ja! Wie aber kann denn Krupp
in Essen die zwanzigtausend Ausländer
im Zaume halten?
Rutta: Viele parieren. Und wenn nicht:
Die Stapo - dein Freund und Helfer.
Die holt den einen oder andern ab.
Post - manche kriegen Post und schreiben Briefe -
die Post der Leute aus dem Osten
wird zweimal wöchtlich verbrannt.
Schon eine Last, das Pack.
Wir nehmen sie nicht mal gern.
Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter, Schauspiel, Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1965, Auszüge von den Seiten 140f, 199f und 252f.