Zehn Jahre Atomkonsens - zehn Jahre Blockade
Eva Bulling-Schröter, MdB
Vor zehn Jahren verkündete Rot-Grün den Atomausstieg: am 22. April 2002 trat das novellierte Atomgesetz in Kraft. Die damalige PDS war die einzige Partei im Bundestag, die den "Atomkonsens" als das bezeichnete, was er war: Eine Atomverstromungs-Garantie, die es so bis dato nie gegeben hatte. Die Restlaufzeiten für die Meiler von 32 Jahren seit dem jeweiligen Beginn der kommerziellen Nutzung waren schließlich einklag- und übertragbar, bei langen Instandhaltungen stoppte die Uhr.
Aber vor allem war das "Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität" rückholbar. Gerade für diese Einschätzung wurde die linke Partei von SPD und Grünen überheblich abgekanzelt. Dass sie zutreffend war, musste die Antiatombewegung schmerzlich erfahren, als SPD und Grüne acht Jahr später die Regierungsgeschäfte an Union und FDP abgab.
Die Atomkonzerne hatten zwischenzeitlich selbstverständlich alle Regeln und Lücken des Gesetzes für ihre Interessen genutzt: etwa durch ein geschicktes Management von Instandhaltungen und Revisionen oder die Übertragung von Strommengen von einem AKW aufs andere. In der Folge konnten die EVUs einige AKWs, deren Restlaufzeit eigentlich längst abgelaufen gewesen wäre, bis zur Regierungsbildung von Schwarz-Gelb hinüber retten. Das war exakt das Szenario, welches die PDS aufgemacht hatte. Bis zum Jahr 2010 waren dadurch gerade einmal zwei AKW vom Netz gegangen: das Atomkraftwerk Stade 2003 und Obrigheim 2005.
Der eigentliche Schlag gegen die Energiewende folgte Ende Oktober 2010. Mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition beschloss der Bundestag, die Laufzeiten der älteren Atomkraftwerke (die bis 1980 gebauten) um 8 Jahre, die der jüngeren (die ab 1981 gebauten) um 14 Jahre zu verlängern. Während bis zum dahin geltenden Stand der letzte Atommeiler im Jahr 2025 abgeschaltet worden wäre, wäre es nach der elften und zwölften Atomgesetznovelle erst im Jahr 2040 der Fall gewesen, vorausgesetzt, es wäre nicht durch Strommengenübertragungen, Drosselung der Leistungen, Abschaltung aufgrund von Reparaturen, Störfällen o.ä. zu weiteren Verzögerungen gekommen.
Dann kam Fukushima – die größte Freisetzung von Radioaktivität der Menschheitsgeschichte. Die Bundesregierung zwang die Katastrophe zu einer erneuten Kehrtwende in der deutschen Energiepolitik. Und zwar zum Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg.
Es hätte schneller gehen können
Mit 513 der abgegebenen 600 Stimmen [www.nachhaltig-links.de/images/stories/Energie_und_Ressourcen/PDF/Deck_1._Nam._Abst._30.06.11.pdf] stimmte am 30. Juni 2011 der Bundestag der neuen Atomgesetznovelle [www.nachhaltig-links.de/index.php/atom/atomausstieg/710-nichts-ist-gut-elf-weitere-jahre-atomkraft-] zu. Die sieben vom "Atom"-Moratorium betroffenen Alt-AKWs – Biblis A+B, Neckarwestheim 1, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg 1 – sowie der Pannenmeiler Krümmel wurden mit Inkrafttreten des Gesetzes stillgelegt. Für die neun weiteren Atomkraftwerke sieht das Gesetz einen anlagenspezifischen Abschaltplan vor. Das AKW Grafenrheinfeld soll bis Ende 2015, das AKW Gundremmingen B bis Ende 2017 und das AKW Philippsburg 2 bis Ende 2019 vom Netz gehen. Es verbleiben sechs AKWs, die längstens bis zum 31. Dezember 2021 (Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf) bzw. 2022 (Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2) weiterbetrieben werden können.
Der Gesetzesentwurf sieht also das Abschalten der letzten drei AKWs Ende 2022 vor. Mit Ausnahme einiger weniger ewig-gestriger Atomfreunde in Union und FDP stimmte nur die Fraktion DIE LINKE dagegen [www.nachhaltig-links.de/images/stories/Energie_und_Ressourcen/PDF/Gesamt_1._Nam._Abst._30.06.11.pdf], die sich weiter für einen wesentlich schnelleren Ausstieg bis zum Jahr 2014 [www.nachhaltig-links.de/index.php/atom/atomausstieg/681-konzeptatomausstieg] einsetzt. Alle anderen Fraktionen sprachen erneut von der "Unumkehrbarkeit des Ausstiegs". Dem Gesetzesentwurf der LINKEN zur Verankerung des Atomausstiegs im Grundgesetz [dokumente.linksfraktion.de/drucksachen/21908_1705474.pdf] wollte aber keine/r der anderen ParlamentarierInnen zustimmen, nicht einmal die Grünen. Sie, die auf ihrem Sonderparteitag noch für ein Festschreiben des "Nein" zur Atomkraft in der Verfassung waren, enthielten sich bei der Abstimmung [www.nachhaltig-links.de/images/stories/Energie_und_Ressourcen/PDF/Gesamt_3._NamAbst._30.06.pdf.pdf].
Der Fahrplan der LINKEN ist begründet, keine Utopie. Er sieht vor, die sieben ältesten AKWs – Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg 1 – und das Pannen-AKW Krümmel, das wegen seiner Lage in einem Erdbebengebiet gefährdete AKW Neckarwestheim 2, sowie die AKWs Gundremmingen B und C sofort und auf Dauer stillzulegen. Die verbleibenden sechs Atomkraftwerke mit einer gesicherten Erzeugungsleistung von etwa sieben Gigawatt sollten spätestens im Laufe des Jahres 2014 überflüssig und damit abgeschaltet werden.
Die Deckung der Jahreshöchstlast wäre aus zwei Gründen sicher geblieben: Erstens sind zahlreiche Gas- und Kohlekraftwerke mit einer Leistung von mindestens elf Gigawatt bereits heute im Bau und gehen in den kommenden drei Jahren ans Netz. Bleiben zudem einige fossile Kraftwerke wenige Jahre länger als geplant am Netz, bedeutet dies einen erheblichen Netto-Zuwachs an Kraftwerkskapazitäten. Schon die gesicherte Erzeugungsleistung dieser Kraftwerksneubauten übersteigt die der sechs verbleibenden Atomkraftwerke.
Zweitens ist entscheidend für die Versorgungssicherheit die Deckung des Strombedarfs in den Stunden des Jahreshöchstverbrauchs, üblicherweise an Winterabenden im Dezember oder Januar. Durch ein aktives Lastenmanagement kann diese Jahreshöchstlast auch kurzfristig deutlich verringert werden. Entsprechend müssen weniger gesicherte Kraftwerkskapazitäten vorgehalten werden. Da die Zeiten der höchsten Stromnachfrage immer nur stundenweise auftreten, würde schon eine zeitlich geringfügige Verschiebung eines gewissen Teils des Stromverbrauchs ein deutliches Absenken der Jahreshöchstlast bedeuten. Laut Öko-Institut kann eine Verlagerung des Stromverbrauchs aus den fünfzig lasthöchsten Stunden nur um eine oder wenige Stunden den Spitzenlastbedarf um zwei bis fünf Gigawatt reduzieren. Eine die Jahreshöchstlast senkende Betriebsplanung bei Großverbrauchern wie Kühlhäusern und ausgewählten Anlagen der Metallerzeugung sowie in der chemischen Industrie kann innerhalb von 1-2 Jahren realisiert werden.
Durch die Kombination von neuer Kraftwerksleistung und dem Absenken der Jahreshöchstlast wäre also ein schneller Atomausstieg bis zum Ende des Jahres 2014 technisch möglich. Es stünde jederzeit genügend gesicherte Erzeugungsleistung zur Verfügung, um auch auf den umstrittenen Kohlekraftwerksneubau in Datteln und die noch im Genehmigungsprozess befindlichen Kohlekraftwerke verzichten zu können. Laut einer Studie von Prof. Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung, sichert die regionale Verteilung der Erzeugungsanlagen sowie das bestehende Stromnetz dabei auch die Versorgung Süddeutschlands, das bislang einen besonders hohen Atomstromanteil aufweist.
Fazit: Es hätte also auch schneller gehen können. Aber das ist nach Lage der Dinge wohl Geschichte. Die längeren Laufzeiten bis 2022 vergrößern nicht nur das Risiko einer Kernschmelze und den Berg von radioaktivem Müll. Sie spülen den Atomkonzernen auch enorme Gewinne in die Kassen.
Nach einer Faustformel generiert ein abgeschriebenes Atomkraftwerk täglich eine Million Euro Gewinn. Dazu kommen noch Extraprofite aus dem CO2-Emissionshandel. Diese Sondergewinne der Stromversorger fallen seit Einführung des Europäischen Emissionshandelssystems im Januar 2005 an. Dabei preisen die Unternehmen die Marktpreise der CO2-Emissionsberechtigungen als Opportunitätskosten in die Strompreise ein – unbeschadet der Tatsache, dass 91 Prozent der Zertifikate den Kraftwerksbetreibern kostenlos zugeteilt wurden. Auf diese Weise erzielen die Energieversorger jährliche Sondergewinne in Milliardenhöhe, welche die Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihrer Stromrechnung bezahlen.
Sondergewinne abschöpfen!
Am durch die Zertifikatskosten erhöhten Strompreis verdienen nicht nur Betreiber fossiler befeuerter Stromerzeugungsanlagen, etwa von Kohle- oder Gaskraftwerken, die als direkte CO2-Emittenten dem Emissionshandel unterliegen. Gleichfalls profitieren davon Betreiber von Atomkraftwerken, obwohl ihre Anlagen nicht emissionshandelspflichtig sind. Schließlich setzten die laufenden Kosten jenes Kraftwerks den Handelspreis für alle Börsengeschäfte am Elektrizitätsmarkt, welches als letztes noch benötigt wird, um die aktuelle zahlungsbereite Nachfrage nach Elektrizität zu bedienen. Dieses Kraftwerk ist in der Regel ein Steinkohle- oder Gaskraftwerk; beide preisen den jeweils aktuellen CO2-Handelspreis in ihr Angebot ein. So steigen auch bei Atomkraftwerken durch den nunmehr höheren Strompreis die Einnahmen, da sich diese als Differenz zwischen den eigenen laufenden Kosten und dem jeweiligen Stromhandelspreis inklusive genannter CO2-Kosten bilden.
Weil ab 2013 die CO2-Emissionszertifikate vom Staat an die emissionshandelspflichtigen Anlagenbetreiber versteigert werden, entfallen ab diesem Zeitpunkt die winfall profits für fossile Kraftwerke. Gleichzeitig bleiben jedoch die Extragewinne der AKW-Betreiber aus dem Emissionshandel solange bestehen wie Atomkraftwerke am Netz sind. Dies käme einer dauerhaften Subvention der Atomwirtschaft gleich. Eine im Juni 2008 vorgelegte Studie des Öko-Instituts im Auftrag des WWF Deutschland berechnet die geschilderten Extragewinne für Atomkraftwerke aus dem Emissionshandel in der zweiten Handelsperiode 2008 bis 2012 mit etwa 4 Mrd. Euro. Allerdings bei CO2-Preisen von 25 Euro je Tonne. Gegenwärtig liegt dieser Preis bei nur etwa 7 Euro, was diese Gewinne vermindern dürfte.
Zudem kommen den AKW-Betreibern über die genannten Sonderprofite hinaus zusätzliche geldwerte Vorteile zu, die allerdings schwer zu quantifizieren sind bzw. sich kaum einzelnen Kraftwerken zuordnen lassen. So etwa durch geringere Aufwendungen infolge der jahrelangen staatlichen Subventionen zur Entwicklung der Atom-Technologien. Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) errechnete hier Finanzhilfen und Steuervergünstigungen in Höhe von 125 Mrd. Euro von 1950 bis 2008. Hinzu kommen geldwerte Vorteile durch die Übernahme von Langzeitrisiken und Langzeitkosten durch die Gesellschaft, welche durch die Atomwirtschaft verursacht wurden.
Auch eine verursachergerechte Anlastung der Folgekosten durch Errichtung, Betrieb und Stilllegung von Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle steht aus. Schließlich werden allein der Rückbau und die Stilllegung alter Atomanlagen (wie etwa Kosten für die Atommüll-Endlager Asse und Morsleben) den Bund mindestens 7 Mrd. Euro kosten. Ferner fallen Sondergewinne an, die durch die Marktmacht der vier großen Energieversorger in Deutschland im Sinne von Oligopolprofiten erzielt wurden und werden.
Um die leistungs- und risikolos erzielten Gewinne abzuschöpfen, wollte die LINKE Sondersteuern erheben. Die Einnahmen von zunächst jährlich rund 6,4 Mrd. Euro sollten nach dem Bundestagsantrag erstens dafür verwendet werden, Haushalte mit niedrigem Einkommen bei den rasant gestiegenen Energiepreisen zu entlasten. Zweitens sollten sie zur Finanzierung von Energieeffizienzmaßnahmen, etwa einem "Energiesparfonds" sowie für die verbesserte Förderung erneuerbarer Energien eingesetzt werden. Der Antrag wurde natürlich abgelehnt.
Chancen einer Energiewende
Das alles ist ernüchternd. Es wäre aber ignorant, nicht auch die Chancen zu sehen, die die jetzt eingeleitete Energiewende bietet und die nicht nur auf dem Papier steht. Natürlich: Der Begriff "Energiewende" wird seit Fukushima wie selbstverständlich auch vom konservativen Teil des Parteiensystems verwandt, obgleich er mehrheitlich kaum die Absicht haben dürfte, große Energiekonzerne zu entmachten, ein Energiesystem "von unten" aufzubauen oder ernsthafte Schritte weg von der Automobilgesellschaft hin zu einer nachhaltigen Mobilität zu gehen. Widerstände gegen einen Umbau existieren auch in Teilen jener Gewerkschaften, deren Mitglieder in der fossil-atomaren Energieversorgung oder der Automobilindustrie arbeiten.
Dennoch wächst der Anteil erneuerbarer Energien seit Jahren rasant, vor allem auf Grund der Dynamik, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz bietet. Ob dies tatsächlich der Beginn der vollständigen Ablösung der fossil-atomaren Energiewirtschaft durch eine vollständig auf regenerative Energien und Energieeinsparung basierende Wirtschaftsweise ist, hängt vor allem vom gesellschaftlichen Druck ab, diesen Weg zu gehen. Genauso, wie der Atomausstieg letztlich ein Erfolg der Antiatombewegung ist, wird der Kampf gegen neue Tagebaue und Kohlekraftwerke vor allem auf der Straße entschieden. Das beweisen unzählige BIs gegen neue Kohlemeiler oder gegen die Verpressung von CO2 im Untergrund (so genannte CCS-Technologie). Die unverständliche Pro-Braunkohle-Politik der rot-roten Regierung in Brandenburg ist darum eines der größten Probleme der LINKEN.
Unbenommen allen Gegendrucks und der permanenten Gefahr eines Rollbacks wendet sich der Kampf um die Energiewende bundesweit heute zunehmend vom Ob zum Wie. Außer Frage steht dabei, dass die Transformation technisch und wirtschaftlich machbar ist. Doch Struktur und Umfang des künftigen Versorgungssystems sind noch in wichtigen Eckpunkten offen – nicht nur wegen des Widerstandes der Energie- und Automobilkonzerne. Denn im Übergang zu einem hochflexiblen und sparsamen Erzeugungs- und Verbrauchssystem sind auch eine Vielzahl von Variablen miteinander verknüpft, von denen sich einzelne wegen technischer Entwicklungen und Marktbewegungen fortwährend ändern oder sogar noch unbekannt sind.
Welches Ausmaß beispielsweise der Netzausbau haben muss, hängt davon ab, welche Art von Erzeugungsanlagen wo installiert werden, in welchen Regionen künftig Verbrauchszentren liegen und ab wann mit wirtschaftlichen Stromspeichern zu rechnen ist. Darüber hinaus fehlen im Wärmebereich überzeugende Finanzierungs- und Mietrechtsmodelle, die eine Vertreibung sozial Schwacher infolge von Sanierungen verhindern. Im Mobilitätsbereich ist mit dem Auto gar eine ganze Kultur in Frage zu stellen. Und über allem liegt der Kampf darum, wer für die vorübergehenden Zusatzkosten der Energiewende zu zahlen hat.
Eva Bulling-Schröter ist im Bundestag umweltpolitische Sprecherin der Fraktion die LINKE und Vorsitzende des Umweltausschusses.