Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wut im Bauch

Dr. Dietmar Bartsch, MdB

 

Erinnerungen an eine Partisanenaktion vor 30 Jahren

 

Am 2. Dezember 1994 gegen 4:30 Uhr zog ein kleiner Trupp vom Berliner Karl-Lieb­knecht-Haus, der PDS-Parteizentrale, zur gegenüberliegenden Volksbühne. Intendant Frank Castorf höchstselbst schloss mit kleinen »Schwierigkeiten« den Gästen mit einem imposanten Schlüssel sein Haus auf. Wir, die Theatergänger, waren hungrig, übermüdet und trugen Sportklamotten. Wir schlugen Feldbetten auf, campierten fortan Tag und Nacht im Musentempel, gaben Pressekonferenzen und zwei von uns sahen sich gelegentlich von der letzten Reihe des Balkons aus Inszenierungen des Hauses an.

Die merkwürdigen Theatergänger waren Lothar Bisky, Vorsitzender der Partei des Demo­kratischen Sozialismus (PDS) und der PDS-Fraktion im Brandenburger Landtag; André Brie, Mitglied des Parteivorstandes und Wahlkampfleiter; Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe; Hanno Harnisch, Pressesprecher des Parteivorstandes; Micha­el Schumann, Mitglied des Parteivorstandes und des Brandenburger Landtages; Heinz Vietze, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Landtagsfraktion Brandenburg; und ich, Bundesschatzmeister der PDS.

Wie kam es zu dieser skurrilen Situation?

Die PDS gewann Anerkennung

Die Jahre 1993/94 waren für die um ihre Existenz kämpfende Partei des Demokrati­schen Sozialismus sehr erfolgreich. Im März führte der Parteivorsitzende Lothar Bisky in Bonn Gespräche mit Wolfgang Thierse und Hans-Ulrich Klose (SPD), mit Otto Graf Lambsdorff (FDP), Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen) und weiteren Politikern. Erste, zarte Anzeichen dafür, dass die von der herrschenden Klasse und dem politi­schen Establishment in die Schmuddelecke gestellte PDS nicht dauerhaft würde igno­riert werden können. Im Dezember ergab eine Forsa-Umfrage, dass 62 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland die PDS für wählbar hielten. Im Juni 1994 konnte sich mit Horst-Dieter Brähmig in Hoyerswerda erstmals ein PDS-Kandidat bei einer Oberbürgermeisterwahl durchsetzen. Sensationell! Die Landtagswahlen in Sach­sen-Anhalt brachten der PDS 19,9 Prozent und damit den dritten Platz. Allem Drohen, vor allem der wutschäumenden CDU, zum Trotz bildete SPD-Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) eine Minderheitsregierung, die von der PDS toleriert wurde, das »Mag­deburger Modell«. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im September '94 legte die PDS zu und wurde jeweils dritte politische Kraft. Gleiches geschah wenige Wochen später, am 16. Oktober, in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern.

Eine Fete sondergleichen

Dieser Herbsttag wurde jedoch vor allem deshalb zu einem Triumph der Sozialisten, weil sie nach der Bundestagswahl an diesem Tag durch vier in Berlin errungene Direkt­mandate wieder als Gruppe in das höchste deutsche Parlament einzogen. Das Husaren­stück gelang neben Gregor Gysi Christa Luft, einst Wirtschaftsministerin im Modrow-Ka­binett, dem Schriftsteller Stefan Heym und dem Gewerkschafter Manfred Müller. Sie zählten zu »Gysis bunter Truppe«, in der sich Mitglieder und Nichtmitglieder der PDS zur Bundestagswahl stellten. Zu denen, die so als PDS-Gruppe in den Bundestag einzogen, gehörten unter anderen die Speerwurf-Olympiasiegerin Ruth Fuchs, der Kali-Bergmann Gerhard Jüttemann aus Bischofferode, der Bismarck-Enkel Heinrich Graf von Einsiedel und der Schriftsteller Gerhard Zwerenz. Die Wahlfete in der Berliner Kongresshalle am Alex, das sei nicht nur am Rande vermerkt, war die heftigste Party, die ich je erlebt habe. Der Saal platzte von freudetrunkenen Menschen aus allen Nähten, vor den Türen begehrten noch Hunderte vergeblich Einlass. TV-Teams aus aller Welt berichteten. Zum Schluss gab es dort nichts, aber auch gar nicht mehr zu trinken. Kein Wasser, kein Alkohol, nichts.

Mit roten Socken gegen Hetze und Verleumdung

Gegen Ende des Jahres 1994 mussten unsere politischen Gegner erkennen, dass dieser PDS mit »normalen« Mitteln nicht beizukommen war. Die Partei des Demokratischen Sozialismus widerstand allen Hetz- und sonstigen Kampagnen mit Geschlossenheit, Zähigkeit und nicht zuletzt mit Humor und Selbstironie. So hatte CDU-Generalsekretär Peter Hintze inmitten des Bundestagswahlkampfes im Juli 1994 200.000 Plakate drucken lassen mit roten Socken, die mit grünen Klammern an einer Leine hingen. »Auf in die Zukunft, aber nicht auf roten Socken«, lautete die Botschaft. Daraufhin strickten Dutzende Genossinnen und einige Genossen kleine rote Söckchen, die zum absoluten Wahlkampfschlager und zum inoffiziellen Parteiabzeichen wurden. Die PDS bedankte sich artig bei Hintze für die Wahlkampfhilfe.

Aber die der PDS feindlich gesonnenen Kräfte, Teile der Bundesregierung und des Berli­ner Senats eingeschlossen, wollten nicht aufgeben und griffen zu einem besonders per­fiden Mittel der Auseinandersetzung. Unmittelbar nach der für uns erfolgreichen Bun­destagswahl 1994 ging in der PDS-Parteizentrale ein abstruser Steuerbescheid ein. Gefordert wurden über 67 Millionen D-Mark, die das Finanzamt Berlin für das erste Halbjahr 1990 (!) gegenüber der Partei erhob. Als Schatzmeister erklärte ich damals: »Mit diesem Bescheid sowie den Vollstreckungsschritten des Berliner Finanzsenators Pieroth wird nicht nur die politische Existenz der PDS gefährdet, sondern zugleich der demokratische Rechtsstaat lächerlich gemacht.«

Jetzt ging es um Sein oder Nichtsein

Fieberhaft überlegten wir, was wir der irrsinnigen Forderung, die sofort vollstreckbar war, entgegensetzen konnten. Wir wussten: Für die sozialistische Partei ging es nun um Sein oder Nichtsein. So entschieden wir uns letztlich für das äußerste Mittel, einen Hunger­streik. Diesen begannen wir am 29. November '94 in zwei Gruppen in den Gebäuden der »Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massen­organisationen der DDR« und der Treuhandanstalt. Dort sowie später im Abgeordneten­haus wurden wir jeweils durch die Polizei geräumt. Nachdem das geschehen war, disku­tierten wir am 2. Dezember ab 2 Uhr im Liebknecht-Haus darüber, wo wir möglichst unbe­helligt, zugleich aber öffentlichkeitswirksam, unsere Aktion fortsetzen könnten. Wir ent­schieden uns für die benachbarte Volksbühne und lagen richtig mit der Vermutung, dass uns deren Chef, Frank Castorf, keine Steine in den Weg legen würde. Das Ganze hatte überdies den Vorteil, dass wir aus dem gegenüberliegenden Karl-Liebknecht-Haus gut unterstützt werden konnten. Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Parteizentra­le engagierten sich ideenreich und leidenschaftlich, koordiniert durch Volker Steinke.

Auf einer Welle der Solidarität

Nach acht Tagen konnten wir den Hungerstreik am Mittwoch, dem 7. Dezember 1994, beenden. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte Anträgen der Partei stattgegeben, das widersinnige Verlangen war zunächst vom Tisch und die PDS bekam eine Atempause, bis die strittigen Vermögensfragen 1995 in einem Vergleich zwischen PDS und Treu­handanstalt abschließend geklärt wurden.

Unser Hungerstreik und dessen Erfolg ermutigten nicht wenige Menschen im Osten Deutschlands, beherzt und selbstbewusst ihre Interessen zu verfechten. Über 50.000 Bürgerinnen und Bürger gingen in der ersten Dezembertagen ‘94 auf die Straße, erklär­ten sich solidarisch mit den Sozialistinnen und Sozialisten und dokumentierten trotzig: Wir lassen uns nicht alles gefallen! Namhafte Intellektuelle und Künstler stärkten uns den Rücken, darunter Stefan Heym, Stephan Hermlin, Steffi Spira, Käthe Reichel und Erwin Geschonneck. Ihren Unmut über das rechtsstaatswidrige Gebaren der Behörden äußerten auch Menschen, die nichts mit der PDS am Hut hatten, zum Beispiel Thomas »Monster« Schoppe von der Gruppe Renft, Tamara Danz, Joschka Fischer und Lothar de Maiziére. Ex-Innenminister Peter-Michael Diestel und seine Frau kamen mit Hagebut­tentee bei uns vorbei. In Potsdam war Rolf Wettstädt, Landtagsabgeordneter von Bünd­nis 90/Die Grünen, in den Hungerstreik getreten. Ganz besonders berührte uns die Solidarität der Kalikumpel aus Bischofferode, die selbst mittels Hungerstreik für die Zukunft ihrer Betriebe gefochten hatten. Die Solidarität war vielfältig und riesig. Uns erreichten Briefe und Blumen, Obstsäfte, die wir nicht trinken durften, Decken, Bücher und Medikamente. Die Führungen europäischer Linksparteien grüßten ebenso wie zahl­reiche Verbände und Vereine.

Eine Partisanenaktion für linke Kultur

Der Hungerstreik war eine »Partisanenaktion«, nicht mit dem Vorstand abgestimmt und gewiss kein demokratisches Lehrstück. Doch unzählige Parteimitglieder stellten sich vorbehaltlos an unsere Seite, einige traten selbst in Hungerstreiks. Wir genossen die Sympathie und Solidarität vieler Genossinnen und Genossen, die später auch unter­schiedliche Wege gingen. Manche haben die Partei verlassen, andere waren lange oder sind bis heute in der LINKEN in Verantwortung. Exemplarisch nenne ich Petra Pau, Dag­mar Enkelmann, Helmuth Markov, Kerstin Bednarsky, Christine Ostrowski, Barbara Höll, Angela Marquardt, Rolf Kutzmutz, Elke Herer und Brigitte Zschoche. Mit dem Hunger­streik entstand etwas im politischen Geschäft sehr Seltenes, belastbare Freundschaf­ten. Tief traurig bin ich, dass meine Mitstreiter Lothar Bisky und Michael Schumann nicht mehr unter uns sind.

Der Hungerstreik der PDS-Politiker warf die Frage auf, ob es gerechtfertigt ist, für eine Partei seine Gesundheit, gar das Leben auf’s Spiel zu setzen. Lothar Bisky hat sie so beantwortet: Die PDS sei für ihn »nicht nur Partei, sondern ein Stück linker Kultur, ein Stück vorweggenommener sozialer Gerechtigkeit, ein Stück solidarischer Umgang mit­einander; wenn man so will, ein Stück antizipierter demokratischer Sozialismus«, für den er streite. Nachzulesen ist das in einem Büchlein, das Lothar Bisky über den Hun­gerstreik schrieb. Sein Titel: Wut im Bauch.