Wirtschaftssanktionen, der leise Krieg
Żaklin Nastić, MdB für DIE LINKE
»Die Weltkonferenz über die Menschenrechte stellt nachdrücklich fest, dass Nahrungsmittel nicht als Werkzeug politischen Drucks verwendet werden dürfen.« So heißt es in Artikel 31 der Wiener Erklärung von 1993. Auch sollten Staaten keine Maßnahmen ergreifen, »die Hindernisse für die Handelsbeziehungen zwischen den Staaten [schaffen] und die volle Verwirklichung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankerten Menschenrechte [behindern], insbesondere des Rechts jedes Menschen auf einen für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden hinreichenden Lebensstandard, einschließlich Nahrung und medizinischer Betreuung, Unterkunft und der erforderlichen Spezialleistungen.«
Es steht außer Frage, dass die gegen zahlreiche Staaten weltweit insbesondere von den USA und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen nicht nur völkerrechtswidrig sind, weil sie eine kollektive Bestrafung der gesamten Bevölkerung darstellen, einseitig verhängt und nicht über den UN-Sicherheitsrat legitimiert sind, sondern darüber hinaus der in der Wiener Erklärung formulierten Anforderung in keinster Weise gerecht werden. Nicht umsonst hat UN-Generalsekretär António Guterres seinen Appell vom Frühjahr mehrfach wiederholt, gerade in der Corona-Pandemie, die genau wie die Sanktionen die Ärmsten der Armen am härtesten trifft, die »Strafmaßnahmen«, wie die Wirtschaftskriege von den Regierungen der westlichen Industrienationen gerne beschönigend genannt werden, auszusetzen. »Jetzt ist es Zeit für Solidarität, nicht für Ausschluss«, hatte Guterres damals in beachtlicher Deutlichkeit an die G20-Staaten geschrieben. Gerade in der Covid-19-Pandemie müsse der »Zugang zu Nahrung, zur notwendigen gesundheitlichen Versorgung und zu Covid-19-Medikamenten« weltweit sichergestellt werden.
Zerstörte Gesundheitssysteme
Wirtschaftssanktionen treffen eben nicht in erster Linie die Urheber von Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen oder Korruption. Stattdessen erschweren oder verhindern sie den Wiederaufbau benötigter Infrastruktur wie etwa in Syrien und gefährden die Nahrungssicherheit der Zivilbevölkerung. In Syrien sind die Preise für Lebensmittel seit Beginn des Krieges um das Acht- bis Zehnfache gestiegen, während 69 Prozent der Bevölkerung zugleich in Armut leben. Der Preis für ein Kilogramm Zucker erhöhte sich gar von 40 auf 400 syrische Lira, ein Liter Öl kostet inzwischen 800 Lira statt 75 vor dem Krieg. Ganz besonders fatal in Pandemie-Zeiten ist aber, dass die Wirtschaftssanktionen ganz besonders nachhaltig auch die Gesundheitssysteme in den betreffenden Ländern zerstören. In Venezuela haben laut einem UN-Bericht aus dem Jahr 2019 79 Prozent der Gesundheitseinrichtungen keinen ausreichenden Zugang zu Wasser, Seife und anderen hygienischen Produkten. In den Krankenhäusern sterben Menschen aufgrund von Stromausfällen, die auf die Sanktionen zurückzuführen sind. Im April 2019 legten Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs dar, dass zwischen 2017 und 2018 mindestens 40.000 Venezolaner wegen der »Strafmaßnahmen« gestorben sind. Und auch der UN-Menschenrechtsrat ist zu dem Schluss gekommen, »die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und damit die humanitäre Situation des venezolanischen Volkes« seien durch diese »weiter verschärft« worden.
EU und BRD mitschuldig
Im Iran sind laut einer Studie von Human Rights Watch die Preise für Lebensmittel, aber auch für Medikamente, als Folge der Sanktionen um 40-60 Prozent gestiegen. Das Fazit der nicht als besonders iranfreundlich bekannten Organisation: die US-Sanktionen gefährden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und hier insbesondere das Menschenrecht auf Gesundheit, der iranischen Bevölkerung. Wenn auch humanitäre Importe offiziell von den Sanktionen ausgenommen seien, könne der Iran diese kaum noch finanzieren. Firmen und Banken zögen sich auch von Handelsgeschäften, die eigentlich nicht unter das Sanktionsregime fielen, in vorauseilendem Gehorsam zurück – aus Sorge vor rechtlichen Konsequenzen und um ihre Gewinne auf dem US-Markt. Ganz ähnliche Dynamiken sind für das seit inzwischen 60 Jahren mit einer US-Blockade belegte Kuba bekannt. Da sie hier nicht gegensteure, vernachlässige die US-Administration ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Auswirkungen der von ihr verhängten Sanktionen auf die Menschenrechte abzumildern, so Human Rights Watch – mit dem Resultat, dass etwa Krebs- und Epilepsiemedikamente nicht oder nicht in ausreichendem Maß verfügbar seien und so Menschenleben gefährdet würden. In der Pandemie gilt dies dies im besonders betroffenen Iran auch für Testkits und Medikamente zur Behandlung von Infizierten.
Ähnlich negative Auswirkungen auch auf das syrische Gesundheitssystem haben die UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (UN-ESCWA), das Welternährungsprogramm (WFP), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der UN-Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen, Idriss Jazairy, in zahlreichen Studien belegt. Dort waren vor dem Krieg über 90 Prozent der Medikamente lokal produziert worden. Da aber gemäß der US-amerikanischen Sanktionsbestimmungen keine Produkte, die zu zehn Prozent oder mehr aus US-amerikanischen Komponenten bestehen, mehr nach Syrien exportiert werden dürfen und auch die EU seit bald zehn Jahren währende Sanktionen gegen das Land verhängt hat, sei dies nicht mehr möglich, weil die notwendigen Rohmaterialien nicht mehr eingeführt werden könnten. Zugleich habe der Krieg den Bedarf an Pharmazeutika noch deutlich erhöht.
Die EU und die Bundesregierung machen sich mitschuldig am Tod von Menschen und der Verletzung der Rechte von Millionen. Entweder, weil sie selbst Wirtschaftssanktionen verhängt haben, oder weil sie ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, die von der US-Administration verhängten extraterritorialen Sanktionen und deren Auswirkungen zu bekämpfen. So definiert die Verordnung 2271/96 des Europäischen Rates vom November 1996 unmissverständlich, dass die extraterritoriale Wirkung der US-Sanktionen gegen Kuba illegal ist und von der EU nicht anerkannt wird. Es handelt sich um eine verbindliche und für alle EU-Mitgliedstaaten gültige Verordnung, die Firmen und Einzelpersonen in die Lage versetzen soll, Entschädigungen zu beanspruchen, sofern ihre Interessen durch die US-Blockade beeinträchtigt werden. Artikel 5 der Verordnung verbietet es in der EU ansässigen Personen und Unternehmen, auf den illegalen Blockadegesetzen beruhende Anweisungen oder Forderungen von US-Stellen nachzukommen. Bei Zuwiderhandlung ist jeder Mitgliedstaat laut Artikel 9 verpflichtet, »wirksame, verhältnismäßige und abschreckende« Sanktionen zu verhängen. Faktisch ist dies aber noch nie geschehen und der Anspruch auf Schadensersatz ist in der Praxis nicht wirksam, da er vor Gerichten erst durchgesetzt werden müsste und in den USA wohl nie umgesetzt würde. Aber Unternehmen wie PayPal und Ebay setzen die extraterritorialen Sanktionen ganz ungeniert auch in Deutschland um und scheren sich dabei noch nicht einmal um Gerichtsurteile. Dass die EU und die Bundesregierung faktisch nichts tun, um die Opfer der US-Sanktionen zu schützen, lässt ihre alljährliche Stimme in der UN-Vollversammlung für ein Ende der Kuba-Blockade zur Farce verkommen. Dazu passt, dass ein von der Linksfraktion in den Bundestag eingebrachter Antrag auf Aufhebung der Wirtschaftssanktionen mitten in der Coronapandemie abgelehnt wurde.
Wirtschaftskrieg und Kriegsverbrechen
Wirtschaftssanktionen sind keine freundlichere oder sanftere Alternative zu Kriegen. Geführt werden Wirtschaftskriege mit dem Ziel, die Zivilbevölkerung in tiefes Leid zu stürzen, damit sie sich gegen ihre Regierung erheben möge. In einem Memorandum der US-Regierung vom April 1960 heißt es, das Verbot von Lieferungen und Geldzahlungen solle Kubas »Ökonomie schwächen, zu sinkenden Einkommen führen, Hunger, Elend und Verzweiflung erzeugen und so zum Sturz der Regierung beitragen«. Allein eine halbe Million Kinder haben die über 13 Jahre währenden Wirtschaftssanktionen gegen den Irak getötet. Laut der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright war es »diesen Preis wert«. Die Verantwortlichen für die mörderischen Sanktionen begehen Kriegsverbrechen, genau wie diejenigen, die sie nach eigener Aussage mit den Sanktionen treffen wollen. Aber wer auch die von US-Soldaten begangenen Kriegsverbrechen strafverfolgen will, wie die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Fatou Bensouda, wird von der US-Administration ebenfalls mit Sanktionen belegt. Und obwohl längst bekannt ist, dass Wirtschaftssanktionen in den meisten Fällen ihr Ziel verfehlen und oft die jeweiligen Regierungen sogar noch stärken, gab es laut der von einer Forschergruppe um Gabriel Feldmayr, Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, konzipierten »Global Sanctions Database« einen Anstieg solcher Maßnahmen von 50 auf 180 zwischen den 70er Jahren und 2016. Heute dürften es noch mehr sein.
Solidarisch zeigten sich indes während der Coronapandemie diejenigen, die seit Jahrzehnten unter Sanktionen leiden. Die Ärzte und Krankenpfleger des kubanischen »Henry Reeve International Contingent of Doctors wurden inmitten der Pandemie in 22 Länder entsandt. Wie bereits in zahlreichen Einsätzen zuvor riskierten sie ihr eigenes Leben um das anderer zu retten, obgleich SARS COV-2 auch in Kuba selbst wütete. »Jetzt ist es Zeit für Solidarität, nicht für Ausschluss« – sie waren es, die der Aufforderung von António Guterres nachkamen, während sich die westlichen Industrienationen entschieden, durch die Aufrechterhaltung der Wirtschaftssanktionen eine verstärkte Ausbreitung des Virus zu riskieren und das Leben von Menschen weltweit zusätzlich zu gefährden.
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