Wir haben den Geschichtenerzähler verloren
Dr. Angelika Haas, Berlin
Das war mein erster Gedanke, als ich zu verstehen begann, was Renate Richter, Manfred Wekwerths Frau, da eben am Telefon gesagt hatte. Und das kam nicht nur vom Dokfilm [1], dem Manfred Wekwerths »Ich erzähl so gern Geschichten« Titel war. Denn es waren meine schönsten Theaterleitungssitzungen, die der Intendant mit Anekdoten bebilderte. Das waren nicht einfach Geschichten, sondern das war Geschichte. Unsere Geschichte, in der sich Leben spiegelte, auch von Menschen wie Brecht, Weigel, Hauptmann, Berlau, Engel, mit deren Lebensarbeit Manfred Wekwerths eigene sich 1951 verknüpft hatte. Das waren Geschichten von unserer Geschichte, vom Ringen um eine Kunst, die sich als eingreifend verstand und so auch gebraucht wurde - nach dem schrecklichen Krieg, der von Deutschland ausging und alles bisher Gekannte an Schrecken überstieg. Eingreifend auch im Wissen um »Der Schoß ist fruchtbar noch«. Großartig war, dass Manfred als Regisseur Geschichten erzählen konnte - ob im Film oder auf der Bühne. Das war sein Theatererbe, das hatte er erworben, um es weiterzugeben. Kunst als Überlebenshilfe. So konnten auch wir Nachgeborenen das Entsetzen bearbeiten. Kunst als Lebensmittel.
Glück, beim Zuhören eigenes Begreifen zu spüren. Vergnügen in den Proben, wenn er seine Fragen weitergab und Lösungsvorschläge vorspielte. Freude beim Lesen seiner Dissertation über Theater, für das Wekwerth arbeitete. Der kein Neulehrer blieb, weil erst einmal Brecht-Schüler und von dem für das Brechen des Bildungsmonopols auf andere Weise in die Pflicht genommen.
»Der Schoß ist fruchtbar noch.« Es war nicht vorbei - und nun hat es wieder begonnen. In der Niederlage ist Manfred der verlässliche Gefährte, der Marxist, der »true socialist« wie sein englischer Herausgeber sagt, mit immer neuen Ideen, wie eingreifende Kunst abseits der nun marktwirtschaftlichen Regularien folgenden Institutionen ihr Publikum finden konnte, wie das Publikum, sein Publikum, sich zu wirklicher Kunst aufschwingen konnte, was durchaus mit Erschwinglichkeit zu tun hat - nun.
Da war DAS ANTIEISZEITKOMITEE ein wichtiges Arbeitsgebiet, wurde Arbeitsinstrument. Oft sagten wir, als Manfreds eigener Bewegungskreis - nicht aber seine Reichweite! - sich einschränkte: »Einmal Regisseur, immer dabei, andere in Szene und in Gang zu setzen.« Das galt natürlich zuerst für die ihm am nächsten Stehenden, also am meisten für Reno, seine Frau, die Schauspielerin Renate Richter. Überhaupt: Diese Partnerschaft war eine für Leben und Arbeit, eine Symbiose zweier kreativer Quellen, ein Glücksfall nicht nur für die beiden, sondern auch für ihr Publikum. Aber, solange die Kraft reichte: Losgehen galt immer auch für ihn selbst: Ob auf die Tribüne des Ostermarsch-Lkw, das Pflaster des Marx-Engels-Forums beim Marx-Geburtstag oder mit einem Referat auf einer Kulturkonferenz: Er mischte sich ein, griff öffentlich den Schwachsinn der propagierten Alternativlosigkeit an, hielt fest am »So, wie es ist, bleibt es nicht.«
Hielt auch den Linken den Spiegel hin: »Warum haben … Revolutionäre, die in die Geschichte der Arbeiterbewegung für die Kultur der Menschen an Wissen, Erfahrung, Kunst, an Denk- und Lebensweise so viel eingebracht haben, oft Schwierigkeiten, wenn es um den »Kulturbegriff« im Alltag geht? Warum macht linke Politik in der täglichen Arbeit aus Kultur so oft »kulturelle Umrahmung«? Warum betrachten Marxisten die Kultur, immerhin wesentlicher Teil menschlicher Lebenstätigkeit, in der politischen Praxis als Hilfsmittel, politische Ziele durchzusetzen, und nicht selbst als politisches Ziel?«
Er war in der DDR als Intendant wie als Akademiepräsident einer für andere und für die Kunst, deren Möglichkeiten zur Entfaltung wie der Wirksamkeit er verbessern wollte. Er ist Förderer von Volker Braun und Heiner Müller, von Peter Sodann und Christoph Schroth, der Entdecker von Anthony Hopkins. So eine Haltung hält sich. Die wendet sich an im Verknüpfen von Künsten, im In-Beziehung-Setzen von Leuten. Nicht nur auf der Bühne, am Drehort, auch in der Kunstproduktion. Diese Fähigkeit von Manfred Wekwerth führte auch unter der Kunst feindlichen Bedingungen zu bemerkenswerten Ergebnissen: Es entstehen nicht nur Bücher, Interviewfilme, sondern auch auf Tonträgern bewahrtes Musikalisches. Die CD [2] mit Brechts »Versifizierung des Kommunistischen Manifest« - in Zusammenarbeit mit einem Komponisten, einem Percussionisten, weiblicher und männlicher Stimme. Und die CD mit dem »verrockten Brecht« »In der Sünder schamvollem Gewimmel«. In Zusammenarbeit mit der Rockband EMMA erfuhren die frühen Gedichte von Bertolt Brecht eine erfrischende Belebung. Die CD-Premiere füllte das Theater Nordhausen bis auf den letzten Platz; alle Altersgruppen waren vertreten, einige kamen ausdrücklich, um Renate Richters Interpretation der »Legende vom toten Soldaten« zu erleben. In der Zusammenarbeit entsteht nicht nur die CD, die Jungs der Band erleben eine Bereicherung ihres Weltbildes.
Der Brecht-Schüler bleibt ein bewunderungswürdiger Lehrer, gerade weil er selbst so gern lernte. Typisch: Der letzte Auftritt, letzte Text galten Weggefährten; Werner Mittenzwei als Theatermann widmete er einen Abend und für Gisela May zum 90. Geburtstag schrieb er im Ossietzky einen bewundernden Artikel … Überhaupt war Manfred einer, der sich an guten Kunst-Stücken anderer freuen konnte - neidlos lobend, gern öffentlich dafür werbend.
Hier sei eine letzte Wekwerth-Geschichte erzählt: Wenn es - nach der Tatsache, dass am Tag, als Manfred Wekwerth starb, die Bühne des BE unter Wasser stand - wenn es also noch eines weiteren natürlichen Beweises bedurft hätte, dass hier ein Großer seiner Zunft ging. Dem Regisseur war eine letzte perfekte Inszenierung vergönnt am Tag seiner Beerdigung: Als durch die Fenster der Kapelle des Waldfriedhofs während Mahlers Musik die Sonne einen Strahl, ein Licht über sein Gesicht laufen ließ, das Manfreds Porträt aus dem Spiegel des verglasten Fotos heraushob, nun deutlich erscheinen und mit dem Verklingen der Musik wieder im gläsernen Spiegel verschwimmen ließ.
Der Saal war übervoll am Abend des 3. Dezember beim Geburtstag, den wir mit Manfred Wekwerth gemeinsam geplant hatten und nun ohne ihn begehen mussten. Viele waren da, die mit ihm gearbeitet hatten: von seinem Theater, von den vielen Inszenierungen weltweit; zwei griechische Genossinnen der KKE brachten Buch und Interviewfilm von der Konferenz in Athen mit, aus Jerusalem kam ein Anruf von Fred Düren, aus England eine E-Mail von seinem Herausgeber Anthony Hozier, beide sagten, mit ihren Gedanken seien sie bei der Geburtstagsfeier. Die eine Gedenkfeier [3] war - nun …
… www.manfredwekwerth.de
Im Februar/März 2015 erscheint im Verlag »neues leben« eine Nachauflage von Wekwerths »Erinnern ist Leben«, Broschur, 12,5 x 21 cm, ca. 400 Seiten, ca. 19,99 €, ISBN 978-3-355-01827-2
Anmerkungen
[1] Von Dieter Kranz 1984 fürs DDR-Fernsehen produziert.
[2] »Das Manifest« mit Syman, Thorsten Adrian, Renate Richter und Hendrik Duryn - erschienen im Verlag Wiljo Heinen.
[3] Die DVD mit der Aufzeichnung vom 3. Dezember mit Volker Braun, Diether Dehm, der Rockband EMMA, Hermann Klenner, Robert Weimann … gibt es bei Stefan Paubel (stefan.paubel@gmx.de, Telefon: +49309255783) für 6 € + Portokosten.