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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wie mich Ulbricht als Einzelbauer auf dem FDJ-Parlament rettete

Erich Postler, Berlin

 

Vor 125 Jahren, am 30. Juni 1893, wurde Walter Ulbricht geboren. Er starb am 1. August 1973. Er durchlebte zwei Weltkriege. Sehr jung wurde er Kommunist. Und er blieb es. Er war ein Politiker von For­mat. Egon Krenz hat 2013 ein Zeitzeugenbuch [1] über Walter Ulbricht her­ausgegeben. Wir do­kumentieren daraus die gekürzten Erinnerungen unseres Genos­sen Erich Postler, Mitglied des KPF-Bundeskoordinierungsrates, über seine erste Begegnung mit Walter Ulbricht.

 

[…] Mit 17 Jahren wollten die Mitglieder der FDJ in meinem thüringischen Heimatdorf, dass ich Sekretär, also Vorsitzender, ihrer gerade gebildeten Grundorganisation (damals noch Grundeinheit) sein sollte. Das Vertrauen überraschte und verwunderte mich sehr. Ich hatte noch nie vor einer solchen Entscheidung gestanden. [...]

Von zehnklassiger und Berufsschule inspiriert, war ich der Politik der DDR durchschnittlich und mit manchen Vorbehalten zugetan. Jedenfalls stand ich ihr nicht ablehnend gegenüber. Für Letzteres gab mir das Haus meiner Pflegeeltern auch keinen Anlass. Erich Reinhold, mein Pflegevater, war auf seinem Pachthof ein angesehener Bauer. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun und nur schwer »Nein« sagen. Das war wohl auch ein wichtiger Grund dafür, dass er als Parteiloser im Gemeinderat, dem Ortsausschuss der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, und im Ortsvorstand der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB-BHG) viele Jahre ehrenamtliche Arbeit leistete. Reden war nicht seine Stärke. Wir konnten einen ganzen Tag schweigend miteinander arbeiten. Aber seine Geradlinigkeit und seinen Gemeinsinn wussten die Leute zu schätzen. Das erleichterte es mir, trotz der lan­gen Arbeitstage auf dem Bauernhof – dazu gehörten zehn Hektar – die nötige Zeit für mei­ne neue Aufgabe zu bekommen.

Ich vermute, dass meine Wahl zum Dorfsekretär der FDJ in meinem Elternhaus zwiespältig aufgenommen wurde: ein bisschen Stolz, dass man es dem Jungen zutraute, und ein wenig Furcht, er könne zu oft auf dem Acker und im Stall fehlen. Letzteres war natürlich nicht un­begründet.

Zu meiner Überraschung ließ sich die FDJ-Arbeit im Dorf besser an, als ich befürchtet hat­te.

[...] Es war nicht die große Politik, die anzog, sondern es waren in erster Linie die unmittel­baren Interessen der Ju­gendlichen, an die wir anknüpften. Na­türlich blieb unser Tun nicht unbeachtet, und so erschien Reinsdorf manchmal auf der Kreisseite der Volkswacht.

Im Frühjahr 1959 durfte ich zum ersten Mal in einem Präsidium sitzen, das war auf der Kreisdelegiertenkonferenz der FDJ. In der Diskussion berichtete ich über die Aktivitäten meiner Freunde und unsere Erfahrungen. Mit dem mir angeborenen Streben nach Vollstän­digkeit hatte ich alles aufgezählt, was wir so machten und wie wir das zustande gebracht hätten. Andere Dorfgruppen konnten da offenbar nur schwer mithalten. Das wunderte mich sehr, denn wir hatten ja gerade erst angefangen, während andere schon viel länger existierten. So nahm das Schicksal seinen Lauf.

Ich erfuhr Anerkennung, die, wie ich es empfand, weit über der erbrachten Leistung lag, und ich landete auf der Kandidatenliste für das Präsidium des VI. Parlaments der FDJ, das vom 12. bis 15. Mai 1959 in Rostock stattfand. Im Protokoll wurde ich geführt als »Erich Postler, FDJ-Gruppenleiter und Einzelbauer im Bezirk Gera«. [2]

Das war natürlich nicht korrekt, denn ich war noch Lehrling auf dem elterlichen Hof und hatte dies stets bekundet. Aber ich wurde den Einzelbauern nie los und habe zu dementie­ren irgendwann aufgegeben. Wie ich bald merkte, ging es auch gar nicht um meine konkre­te soziale Stellung, sondern darum, dass ich ein Jugendlicher aus der privaten Landwirt­schaft war, unter denen die FDJ damals kaum Einfluss hatte. Meine Freunde von der Be­zirksleitung Gera, die mich auf dem Parlament zu reden aufforderten, wollten, dass die De­legierten – gleichsam aus berufenem Munde – zu einem sehr aktuellen Thema eine authentische Meinung zu hören bekamen: zur Umgestaltung der Landwirtschaft, dem Überg­ang zum genossenschaftlichen Wirtschaften. Es kann gut sein, dass wir vom Ergebnis un­terschiedliche Vorstellungen hatten, aber für manche meiner Argumente hatten sie sogar die Fakten geliefert.

So angeregt gab ich meine Wortmeldung ab und machte mich an die Formulierung. [...] Noch nie hatte ich vor so vielen Leuten gesprochen, und ich war auch noch nie so weit weg von meinem Dorf.

Rückblickend wundere ich mich immer wieder über meine damalige Courage.

Ein Desaster. Der Saal murrte, war über weite Strecken empört, meine Förderer zeigten sich enttäuscht bis entsetzt. Nur der festen Überzeugung von der Richtigkeit meiner Mei­nung kann ich es zuschreiben, dass ich das Manuskript bis zur letzten Zeile vortrug.

Was war geschehen?

Es begann damit, dass ich eine Passage im Referat des 1. Sekretärs des Zentralrats, Karl Namokel, kritisierte, der die Ausbildung an der Sense für nicht mehr zeitgemäß hielt, was ich nicht verstehen konnte. Ich stellte unumwunden klar, dass die FDJ unter der einzelbäu­erlichen Jugend kaum Einfluss habe und beschwerte mich, dass man mich als Vorzeige-Bauer benutzte. Ich fand es ungerecht, dass im Präsidium des Parlaments zwar fünf FDJler aus LPG und VEG saßen, aber ich sei der einzige, der aus der privaten Landwirtschaft käme.

Wenn von der Landjugend die Rede ist, so kritisierte ich, blieben die jungen Einzelbauern unbeachtet. Sodann versuchte ich zu vermitteln, was in den Köpfen von Einzelbauern und ihren Kindern vor sich gehe, wenn sie über den Eintritt in eine Genossenschaft nach­dachten, und warnte vor überzogenen Erwartungen. Ich forderte Geduld und handfeste Ar­gumente, vor allem gute Genossenschaften mit hohem Einkommen.

Lese ich diese Rede heute, so führt sie mir meine eigene innere Zerrissenheit und eine gewisse Ratlosigkeit vor Augen. Im Kern war ich dem Neuen, dem Sozialismus zugetan, auch und gerade auf dem Lande. Mit dem Weg dorthin hatte ich meine Schwierigkeiten. Viele Fragen und zu wenig Antworten. So war der Dissens zwischen mir und einem Groß­teil der Delegierten unvermeidlich. Vorwärts hieß für sie, Lösungen und Taten auf den Tisch!

Ich aber hatte damals mehr Probleme. Es gehört wohl zu den Glücksmarken auf meinem Lebensweg, dass Walter Ulbricht im Saal saß und mir aufmerksam zuhörte. Am nächsten Tag sprach er und erteilte meinen zahlreichen Widersachern unaufgeregt eine überzeugen­de Lektion: »Ihr habt hier die Darlegungen des Jugendfreundes gehört, der noch auf dem Hof eines Einzelbauern arbeitet. Er hat aufgezeigt, wie kompliziert es ist, die wohlhaben­den Mittelbauern zu gewinnen. Einige von euch haben geknurrt, als er hier sprach. Aber der Jugendfreund hatte Recht, dass er hier offen alle diese komplizierten Fragen der Ent­wicklung des Einzelbauern zum Eintritt in die LPG dargelegt hat. (Beifall) Das ist doch leicht. Ein solcher Jugendfreund soll den alten Besitzer des Bauernhofes überzeugen, dass er in die LPG geht. Wie kann er ihn überzeugen? Am besten dadurch, dass in diesem Ort die LPG schnell entwickelt wird und zu solch hohen Arbeitseinheiten kommt, dass die Bauern sagen: Jawohl, wir gehen in die LPG.

Also, wir verstehen sehr gut, was der Jugendfreund gesagt hat, und wir wollen ihm helfen, damit die Altbauern gewonnen werden. Wir müssen ins Dorf gehen und auf dem Bauernhof diese Frage klären.« [3]

Noch am selben Tag wurde ich als Jüngster in den Zentralrat der FDJ gewählt. Am Abend gab die Regierung der DDR einen Empfang für Delegierte und Gäste des Parlaments. Wal­ter Ulbricht, der in seiner Funktion als Erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl vertrat, war debattierend unterwegs.

Irgendwann stand er auch vor mir. Er erkannte mich. Freundlich, auch ein wenig nachdenk­lich, aber sehr bestimmt und zuversichtlich sagte er zu mir: »Die sozialistische Umgestal­tung der Landwirtschaft ist eine schwierige Aufgabe. Es wird dauern, aber ich denke, wir werden es schaffen.«

Wahrscheinlich wäre mein Leben auch ohne Ulbrichts Rettung ein politisches geworden. Aber ob ich es ohne dieses Lehrstück in Sachen sozialistischer Demokratie und vertrau­ensvollem Disput so überzeugt gelebt hätte, steht dahin.

 

Anmerkungen:

[1] Egon Krenz (Herausgeber): Walter Ulbricht, Zeitzeugen erinnern sich. Edition berolina, 2013 und 2016, 608 Seiten, ISBN 978-3-95841-062-6.

[2] Siehe: Vl. Parlament der FDJ, Rostock 12.-15. Mai 1959, Verlag Junge Welt, Berlin 1959, S. 16.

[3] A.a.O., S. 361.