Wie die DDR sich und Schinkel neu erfand
Dr. Sigurd Schulze, Berlin
Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt vor 30 Jahren wiedereröffnet
Mit Festkonzerten wurden im Jahre 2012 25 Jahre Kammermusiksaal und 2013 50 Jahre Berliner Philharmonie gefeiert, der damalige Regierende Kultursenator Klaus Wowereit (SPD) sprach beziehungsweise schrieb Grußworte, alte und neue Prominenz Westberlins sonnte sich im Glanze des Hauses. Zu 30 Jahren Eröffnung des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt als Konzerthaus am 1. Oktober 1984 gab es kein Festkonzert. Vielleicht hätte man die falsche Prominenz einladen müssen?
Sang- und klanglos sollte das Jubiläum jedoch nicht vorübergehen. Immerhin arbeiten noch heute 40 bis 50 Mitarbeiter im Hause, die schon 1984 beim Neubeginn dabei waren. Der Intendant Sebastian Nordmann fand einen eleganten Ausweg: Er ließ einen Film produzieren - »Schinkel neu komponiert. Vom Schauspielhaus zum Konzerthaus«. Und das ist eine spannende Geschichte. Wie und als was baut man die zerbombte Ruine wieder auf, als Theater, das es gewesen war, oder als Konzerthaus? In welcher Architektur - klassizistisch, modern, streng museal oder stilistisch angepasst? »Die DDR hatte genug Theater, aber keinen Konzertsaal«, sagt der damalige Chefarchitekt Manfred Prasser. Die DDR-Führung schielte immer nach Westen und wollte das Haus haben wie die Frankfurter Oper: außen alt, innen modern. »Nein«, sagte Prasser in der entscheidenden Sitzung beim Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann. »Wenn meine DDR nicht einmal den Arsch in der Hose hat, was Eigenes zu machen und nicht immer nachäfft, was andere machen, da könnt ihr euren Dreck alleine machen.« Erstarren. Er sah sein Projekt, die klassische Linienführung Schinkels im Inneren fortzusetzen, schon den Bach runtergehen. »Gut«, sagte schließlich der Bauminister Wolfgang Junker, »mach das so, mein Junge.«
Mit geplanten Millionen ausgekommen
Der Film erzählt, wie sie es gemacht haben: klassizistische Innenarchitektur, den Saal in die Längsachse gedreht, Karl Friedrich Schinkels Modell eines kleinen Konzert- und Festsaals zum großen Saal mit zwei Rängen entwickelt, Kronleuchter, klassizistische Klappsessel und eine Klimaanlage erfunden und so fort. Architekten, Künstler und Bauleiter, die sich schon beim Palast der Republik bewährt hatten, machten mit: der Chefarchitekt Manfred Prasser, der Oberbauleiter Klaus Just, der Maler Siegfried Schütze, der Bildhauer Gorch Wenske, der Metallbildhauer Achim Kühn. Teils nach Modellen Schinkels, teils nach eigenem Empfinden schufen sie einen neuen Stil. »Schinkel besser als Schinkel«, meint Just. Auch Widerspruch gab es. »Deinn Kitsch maln mir ni«, sagten die Maler zu Prasser. Sie kamen von der Hochschule, wollten moderne Formen. Jetzt staunen sie, was sie plötzlich konnten. In fünf Jahren war es geschafft. Kammersänger Peter Schreier, damals Präsident des Kuratoriums, findet den Saal gelungen: »Man hört sich gut und hat Kontakt zum Publikum.«
Darum ging es auch den Architekten. »Das Auge hört mit«, sagt Prasser bündig. Alle erzählen von der Begeisterung der Bauleute. »Wichtig war, eine Partnerschaft, eine Mannschaft, Freunde zu gewinnen, die gemeinsam ein Werk schaffen wollen. Sonst geht das nicht«, sagt Just. Ihr Stolz: die Schinkel-Renaissance der DDR mit vorangetrieben zu haben. Und mit den geplanten 145 Millionen Mark sind sie ausgekommen. Der Zuschauer sieht, dass alles stimmt, was sie sagen.
Interessanterweise »zerfallen« im Film die Zeitzeugen in zwei Gruppen. Einmal die Bauleute, die Schöpfer des Neubaus im Alten - alle aus der DDR. Zum anderen die Interpreten - der Ständige Vertreter der BRD in der DDR, Hans-Otto Bräutigam, die Bauhistorikerin Katharina Brichetti und der Drehbuchautor Bernhard von Hülsen selbst - alle aus dem Westen. Die einen erklären, was sie gewollt und gemacht haben, und die anderen erklären oder besser: deuten das politische und historische Umfeld. Ausnahme ist der Intendant Nordmann, der einfach als Erbe und Nutzer alle Vorteile des Baus erkennt und schätzt.
Und noch einen Bruch gibt es. Die Bauleute berichten über die Entscheidungen, aber die Entscheidungsträger kommen nicht zu Wort. Im Westen hätte man sicherlich den Bauminister, den Finanzminister, den Regierenden oder ganz und gar den allgegenwärtigen Altkanzler Helmut Schmidt zitiert. Hier fällt der Film hinter gesichertes Wissen zurück, das in dem Buch »Apollos Tempel in Berlin«, herausgegeben zum 25. Jahrestag des Konzerthauses von Berger Bergmann und Gerhard Müller, zu finden ist. Dort wird berichtet, dass es die Kulturabteilung des ZK der SED und das Ministerium für Kultur waren, die den Wiederaufbau des Königlichen Schauspielhauses maßgeblich beförderten. Namentlich genannt werden die Abteilungsleiterin Ursula Ragwitz, der Minister Hans-Joachim Hoffmann und der Stadtbaudirektor Erhardt Gißke. Unklar bleibt, warum nicht eine Sequenz mit Kurt Sanderling als Dirigent des Eröffnungskonzerts eingeschnitten wurde.
Sinnfällige Dialektik
Was keinem der Interpreten in den Sinn kommt: die Dialektik. Hier waren am Werke das dialektische Prinzip der Aufhebung des Alten im Neuen oder das Prinzip der Negation der Negation. Das sieht keiner. Aber hier wurde Dialektik - im Neusprech - »gelebt«. Sinnfälliger kann Dialektik gar nicht beschrieben werden.
Sei es, wie es sei: Die Künstler hatten die Freiheit (im »Unrechtsstaat«!), dem Neubau Räume, Bildnisse, Skulpturen und Dekors beizugesellen, die eine Vorstellung von den Werken des Vorbilds und die Idee vom Angemessenen des Gebrauchswerts miteinander verschmolzen. Da nichts feststand, entschied die Idee des Gestalters im Urteil der anderen schöpferisch Tätigen. Die befragten Künstler zögern nicht, ihre schöpferische Freiheit zu loben. Es sind Leute, die nicht taktieren, sondern sagen, was sie denken. Von ihrem Staat wurden sie hoch geehrt. Gefragt, was ihm diese Arbeit heute noch bedeute, sagt der Bildhauer Gorch Wenske: »Meinen Nationalpreis. Das war für mich eine herrliche Arbeit - eine Erfüllung. Ich bin immer noch begeistert, dass ich das alles durfte, sollte und konnte.«
»Was lernt uns dieses?« Der Film ist ein Kompendium an Wissen, Schöpfertum, Verantwortungsbewusstsein und Leistung, das jedem Heranwachsenden Vorbilder bietet, die sich einprägen. Gemessen am kulturhistorischen Wert des Bauwerks ist die geplante Verbreitung des Films lediglich als DVD für die Besucher des Konzerthauses (zum Preis von 10 Euro) um Nummern zu klein. Für das Kino sei er laut Pressesprecher Mattias Richter mit 43 Minuten zu kurz. Im rbb kommt er vielleicht Ende 2015. Oder wäre nicht erwünscht, dass die Bürger der alten DDR stolz sind auf das in der DDR Geschaffene? Der Senat von Berlin zeigte auffallendes Desinteresse. Im Pressematerial des Konzerthauses vom April wurde angekündigt: »Am Ende haben die Zuschauer ein packendes Stück DDR-Geschichte gesehen, das bisher hinter der schönen Schinkelfassade verborgen war. Wer zog im Hintergrund die politischen Fäden und welche Absichten verbargen sich hinter diesem Schinkel ›Made in GDR‹? ... Warum die DDR sich und Schinkel neu erfand.« Na, das geht ja auch zu weit! Faktisch verschwindet der Film im Shop des Konzerthauses oder im Regal des Wohnzimmers. Er gehört jedoch als Lehrstoff in jede Schule. Auch die zusätzlichen Interviews mit den Künstlern sind sehr lehrreich (das ginge auch im Kino). Der Film bietet Stoff in Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte, Bildender Kunst, Musik und nicht minder in Ethik und Pflichtbewusstsein. Und ich möchte den Jugendlichen sehen, der dieses Haus nicht von innen sehen möchte.
Die DVD: »Schinkel neu komponiert. Vom Schauspielhaus zum Konzerthaus.« Buch Bernhard von Hülsen, Regie Mia Meyer, Deutschland 2014, 43 Minuten, hergestellt im Auftrag des Konzerthauses Berlin. Im Webshop unter www.konzerthaus.de erhältlich. Nicht im Kino, nicht im Fernsehen. Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in »Ossietzky« 22/2014.