Wertvoller Rückblick
Walter Ruge, Potsdam
Der Neujahrsempfang der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg am 20. Januar 2010 brachte uns neben vielen anregenden Begegnungen die Uraufführung eines ungewöhnlichen Films des jungen Dokumentarregisseurs Stefan Mehlhorn ("Über die Schwelle" 2007) "Oktober 93 - Rußlands letzter Aufstand". Bei genauerer Betrachtung bestehen zwischen den Ereignissen im fernen Rußland zu Deutschland mannigfaltige Berührungspunkte; zur Namenpatronin Rosa Luxemburg, die sich besonders nach der russischen Revolution 1905 mit der Spontaneität der Massen befaßt hat. Der Film wird zum grausigen Kommentar der Luxemburgischen Gedanken. Die großen Demos – Alexanderplatz 4. November 1989, "Montagsdemos" auf dem Leipziger Altstädter Ring, belegen, daß wir mit dieser schäumenden – nicht unbedingt "konterrevolutionären" – Masse einfach nicht umgehen konnten.
"Deutschlands Reaktion" auf die Entwicklung 1993 war verlogen. Ungeachtet der Hilferufe des Russischen Parlaments, seines Präsidenten, des Tschetschenen Ruslan Chasbulatow, an die UNO, die bundesdeutschen Kreise um Vermittlung, um friedliche Beilegung des Konflikts, hatten sie nur eisiges Schweigen. Chasbulatow verkennt, aus der Sicht der "Globalisierung" war die Ausgliederung dieses riesigen Territoriums aus dem Weltmarkt im Oktober 1917 lediglich ein "Störfall", der nun seine "Korrektur" erfuhr. Bei der personengebundenen Geschichtsbetrachtung ist die Rückführung dieses "Marktes" in die Allmacht des Finanzkapitals fast übersehen worden Chasbulatow gibt sich akademisch, er sei "kein Revolutionär der Straße", sieht den Konflikt "juristisch", als "Verfassungsbruch", nicht als Wiedergeburt des Kapitalisten-Oligarchen-Klasse in Rußland.
Stefan Mehlhorn bietet mehr als nur Stoff zum Nachdenken, er entdeckt für uns milieutypische Protagonisten, die man erfinden müßte, wenn das Leben sie nicht bereits geformt hätte. Die Kriegsveteranin Sinaida Iwanowa, krauses graues Haar, gepflegt geschminkt, schmucke Uniform mit vielen Auszeichnungen, einst Nachrichtensoldat und Militärsanitäter im "Niemandsland" - Hilfsbereitschaft ihre erste Devise. Wenn sie patriotische Lieder von "damals" singt, ist sie plötzlich wieder jung, tänzelt leichtfüßig über das Parkett. Als sie im Radio hört, daß im Zentrum Moskaus Blut fließt, geschossen wird, ergreift sie ihre seit 1945 an der Wand hängende Erste-Hilfe-Tasche, ein Paar Lebensmittel und eilt ins Zentrum.
Auch Boris Nikolaewitsch Jelzin hat seinen Platz. Die hiesige Tagespresse (MAZ) bemängelt an der Regie: "Rußlands damaligen Präsidenten Jelzin ausgesprochen negativ ins Bild gesetzt zu haben"; dazu bestand keine Notwendigkeit, denn Boris Jelzin versäumt keine Gelegenheit sich selbst ungeniert "negativ ins Bild zu setzen". Um aber ganz sicher zu gehen, hatte sich der scheidende Jelzin für alle nicht bekannten Schändlichkeiten ewige Immunität beurkunden lassen. Dabei hatte Jelzin verinnerlicht, daß die Besitzverhältnisse letztendlich das Entscheidende sind. Das von Lenin, über "Arbeiterkontrollen", geschaffene Volkseigentum wurde zerschlagen, besser unter die gierige Meute der Neureichen verschleudert, die im Gegenzug seinen Wahlkampf gönnerhaft finanzierten. Im "Westen" huldigt man dem großen "Demokraten", der in Moskau die Panzer in Stellung gehen ließ, um ein Parlament in Brand schießen zu lassen.
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2009-10: Verschwommenes „Sehen“ und Ungereimtes
2009-04: Kurzfassung – sächsisch
2008-10: Mit der DDR gewachsen