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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Wer kann Präsident?«

Bundessprecherrat (April 2012)

Der Auftritt des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 veranlasste uns, den nachfolgenden Text – ein Auszug aus dem Referat des Bundessprecherrates vom 28. April 2012 – zu dokumentieren.

In den Wochen zwischen Dezember 2011 und dem 19. Februar 2012 wurden wir mit ei¬nem Szenario der verbalen Gewalt konfrontiert, charakterisiert durch die Potenz der BILD-Zeitung, maßgebliche, gesetzlich fixierte Mechanismen der bürgerlichen Demokratie durch Massenmanipulation zu ersetzen. BILD demonstrierte die Macht, zum offiziellen Leitorgan der deutschen Mediengesellschaft zu werden. Das Wesentliche am Fall Wulff und an der Inthronisierung Gaucks ist die erwiesene Fähigkeit der Medienkonzerne, den Politikern, die Kanzlerin eingeschlossen, ihr Handeln in Größenordnungen zu diktieren. An jenem Tag, da Wulff zurückgetreten war, am 17. Februar, wurde in n-tv-Umfragen dar¬auf verwiesen, dass es äußerst schwierig werden könnte, einen Präsidentschaftskandidaten zu finden, der von der Mehrheit des Volkes getragen würde; selbst Gauck habe nur 43% Zustimmung. An jenem Tag waren auch SPD und Grüne – zumindest öffentlich – zunächst unentschieden. Noch war alles offen. Spätestens am 18.02.2012 begann die Gehirnwäsche. In den Medien war primär von Gauck die Rede. In einer von Maybrit Illner moderierten ZDF-Sendung mit dem infantilen Titel »Wer kann Präsident?« prägte ein riesiges Bild von Gauck den Hintergrund der Diskussionsrunde – mehr oder weniger alle in der Talkshow sprachen sich für ihn aus. Der Vorschlag, Gauck solle Bundespräsident werden, wurde – als sei eine heimliche Agitationskommission am Werke – innerhalb weniger Stunden beinahe flächendeckend medienbestimmend. Allein die ausgegrenzte LINKE löckte wider den Stachel. Jedenfalls lagen die Umfragewerte für Gauck am 19. Februar bei 56%. Das waren 13% mehr als nicht einmal zwei Tage zuvor von n-tv ermittelt. BILD hatte wiederum eine entscheidende Rolle gespielt.

Die seinerzeit bei 3% Zustimmung liegende FDP hielt ihre Stunde für gekommen. Nach-dem sie lange genug Witterung aufgenommen hatte, erkannte sie wohl, dass mit den BILD-Attacken auf Wulff der Sack geschlagen wurde, aber der Esel gemeint war: Die Angriffe zielten primär auf die Bundeskanzlerin. Da putschte das FDP-Präsidium auf einmalig dreiste Weise und erzeugte so eine Situation, die faktisch erzwang, dass auch die CDU, zu¬vörderst deren Chefin, dem Kandidaten Gauck zustimmen musste. Den hatte Merkel nicht nur vor anderthalb Jahren abgelehnt, sondern noch bis in den Abend des 19. Februar hinein – aus machtpolitisch sehr nachvollziehbaren Gründen. Dies ist nicht der Platz, einzuschätzen, ob der Putsch zur Inthronisierung Gaucks der Kanzlerin und ihrer CDU letztlich eher nutzte oder schadete. Wir werden auch sehen, ob die FDP kurz- oder mittelfristig für ihren Koalitionsverrat wird zahlen müssen. Das sind ohnehin nicht unsere Probleme. Uns geht es um eine ganz andere Größenordnung: Um den medialen Staatsstreich. Kehren wir noch einmal zum Fall Wulff zurück.

Niemand wird uns unterstellen, dass wir Wulff-Anhänger seien oder der Meinung, dessen zweifelhafte Politik- bzw. Geschäftsgebaren wären nicht der Rede wert. Wir sind allerdings durchaus der Auffassung, dass es auch für Politiker nur einen Maßstab geben kann und nicht zwei: Einen für die Wohlgelittenen – erinnert sei z.B. an Roland Koch - und den anderen für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – zum Abschuss freigege¬ben waren bzw. sind. Bei Wulff war offenkundig letzteres der Fall. Möglicherweise werden wir nie bis ins Letzte erfahren, warum. Vielleicht hielt BILD einfach nur den Zeitpunkt für gekommen, wo man dem »Präsidenten der Herzen« – eine Wortschöpfung des Blattes von 2009 – den Weg frei denunzieren konnte, für einen von Gauck auch im zu¬künftigen Amt zu erwartenden durch und durch reaktionären Stil. Nicht zuletzt, vielleicht sogar in erster Linie, gegen Merkel. Die beteiligte sich immerhin nicht direkt am Libyen¬abenteuer und erscheint manchen in sozialen Fragen immer noch zu lasch. So äußerte der Chef des BDI Hans-Peter Keitel am 15. März in der FAZ Kritik an der Bundesregierung. Es sei versäumt worden, »das Sozialsystem wettbewerblicher aufzustellen«. Und das war nicht seine einzige kritische Anmerkung. Zurück zu Wulff. Im Dezember 2011 begann eine regelrechte Hetzjagd gegen ihn. Wahres und Halbwahrheiten wurden verbreitet, dazwischen auch offene Lügen. Wer wollte bei der Flut an Informationen und Gerüchten all das noch prüfen? Vor allem aber war fleißig gesammelt worden: Jeden Tag kam eine anscheinend frische Meldung über irgendeine Verruchtheit der Wulffs. Kehrte für ein paar Tage etwas Ruhe ein, wurde danach mit Sicherheit die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Und die Talkshows kamen ihrer speziellen Rolle nach: Dem Boulevard pseudophilosophische Tiefe zu verleihen. Die üblichen Verdächtigen diskutierten über Moral, die Würde des Amtes, über Volkes Stimme und Politikverdrossenheit und all die anderen Schlagworte, die das ständig mehr verrottende Wertesystem des Kapitalismus prägen. Die Journalisten luden sich gegenseitig ein, beurteilten Gott und die Welt, aber nie ihre eigene Rolle. Nur über Bettina Schausten, die – als Christian Wulff von ARD und ZDF einem Verhör unterzogen wurde – allen Ernstes behauptete, sie würde für Übernachtungen bei Freunden zahlen, mokierte sich der eine oder andere Journalistenkollege – sehr verhalten. Und immer wieder fütterte BILD den »Rest« der Medien mit neuen, mehr oder weniger stimmenden Informationen. Und die verhielten sich mehrheitlich wie auf einer Telegrafenleitung sitzende Vögel: Fliegt einer los, so folgt ihm der ganze Schwarm.

Gaucks Diktaturwahrnehmung

Doch wehe, wehe es äußerte jemand, gegen Wulff liefe eine Medienkampagne. Wulff sel¬ber habe die Gründe geliefert, hieß es sofort. Die Medien hätten lediglich dafür gesorgt, dass öffentlich behandelt würde, was in die Öffentlichkeit gehöre. Wieder einmal ernann¬ten sich die Medien zu unbestechlichen Tugendwächtern; In den Februarmitteilungen do¬kumentierten wir kommentierende Worte Hape Kerkelings zu diesem Vorgang: »Ausge¬rechnet die BILD mutiert nun zum obersten Moralhüter und zum reinen Gewissen der Nation!?!? Armes, ganz armes Deutschland!« Dem ist nichts hinzuzufügen. Es stellt sich die Frage: Schließt die Tatsache, dass Wulff an der entstandenen Lage eine gehörige Portion Schuld trug, a priori eine Medienkampagne aus? Oder, anders herum: Dürfte von einer Medienkampagne nur dann geredet werden, wenn alles in den Medien Veröffentlichte er¬stunken und erlogen wäre? Letztere Frage beantwortet sich von selbst: Eine Kampagne nur auf der Basis von Erfundenem zu führen, ist mehr oder weniger aussichtslos. Das Wesen einer Medienkampagne besteht nicht in der kompletten Fehlinformation der Rezipierenden, sondern in der Erreichung eines politischen Ziels mit Hilfe von Tatsachenbehauptungen, Halbwahrheiten, Gerüchten und auch Unwahrheiten. Es geht in solch einer konzertierten Aktion um die Erzeugung einer Stimmung, die letztlich einen derartigen Druck auf den oder die Betreffenden aufbaut, dass nur noch der inhaltliche oder personelle Rückzug bleibt. Daher ist eine Medienkampagne immer von einer gewissen Dauer, wird stetig mit scheinbar neuen Fakten unterfüttert und unbedingt von der Masse der Medien getragen. Jede Behauptung, die Berichterstattung über Wulff sei nicht in Gestalt einer Kampagne verlaufen, weil vieles gestimmt habe, ist metaphysischer Schwachsinn. Nein, wir haben beängstigend erlebt, wie jenseits bürgerlich-demokratischer Gepflogenheiten Personalfragen medial entschieden wurden, eindeutig putschartig. Es ist schon bemerkenswert, dass Bundestagspräsident Lammert in seiner Rede zur Eröffnung der Bundesversammlung am 18. März darauf verwies, dass mit Abstand die Vorgänge um Wulff genauer bewertet werden müssten, unter anderem »die Rolle der Öffentlichkeit und der veröffentlichten Meinung«. Die Wahl Gaucks war letztlich nur noch eine Formfrage. Der teils freiwillige, teils erzwungene Konsens der etablierten Parteien war in Wirklichkeit die totale Unterwerfung der sogenannten politischen Klasse unter den von ihnen selbst maßgeblich miterzeugten Zeitgeist. Dieses Szenario ist wiederholbar. In der Sache war es auch so neu nicht, sehr wohl aber in der Wirkungskonsequenz. Der nominell erste Mann des Staates wurde medial gemacht. Was die BILD-Tradition solcher Vorgehensweisen anbetrifft, so betonte Albrecht Müller im ND-Interview vom 16. März, bezogen auf den Umgang der BILD-Zeitung mit den 68ern, dass »BILD schon damals am Rande der Volksverhetzung operierte und den Konflikt in der Gesellschaft anheizte«.

Linke und Demokraten in diesem Land müssen mehr dafür tun, diese Manipulationsme¬chanismen zu entlarven. Die Zeit ist reif. Denn nicht wenige Menschen, auch solche, die politisch nirgendwo involviert sind, haben die beschriebenen Vorgänge durchaus mit wa¬cher Sorge verfolgt, vielleicht auch mancher unter den 108 Wahlfrauen und männern, die sich bei Gaucks Wahl der Stimme enthielten. Irgendwann könnte es auch einmal um die Inthronisierung von Gestalten gehen, die noch weiter rechts von Gauck zu verorten wären. Und wieweit der selbst sich noch wohin bewegt, wird sich zeigen. Seine Rede unmittelbar nach der Wahl jedenfalls ließ keinerlei Nachdenklichkeit erkennen. »Nach 56jähriger Herrschaft von Diktaturen durften wir erstmals Bürger sein«, ließ er uns wissen. Über Nazideutschland verlor er kein Wort – außer, dass er durch die Erwähnung der 56jährigen Herrschaft von Diktaturen im Osten den Schluss zuließ, Nazideutschland sei nicht schlimmer gewesen als die DDR, die er als »graues, gedemütigtes Land« bezeichnete. Er verlor kein Wort über die Notwendigkeit von Antifaschismus heute, kein Wort über Frieden und soziale Gerechtigkeit. Diese Rede und ungezählte andere Gauck-Äußerungen erledigten sich auch nicht durch seine taktisch geschicktere Erklärung anlässlich seiner Vereidigung am 23. März. Nichts kann z.B. seinen auf die DDR bezogenen, unglaublichen Satz aufheben: »Wir konnten es nicht zulassen, dass die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben.« Zu dieser Ungeheuerlichkeit passt eine weitere: In einem Vortrag »Welche Erinnerung braucht Europa« äußerte Gauck: »Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist.« Aus solch einer Denkweise resultiert auch die Feststellung Gaucks, »die Absicht, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu schaffen«, sei zu begrüßen – und zwar in Berlin, am »Ort der Wannseekonferenz und der Stasizentrale«. In Anbetracht solcher Äußerungen ist nachzuvollziehen, warum das publizistische Flaggschiff der Rechten, die Wochenzeitung »Junge Freiheit«, am 24. Februar titelte: »Wir sind Präsident«. Aus all dem ergibt sich: Wir müssen auf sprunghaft ansteigenden Antikommunismus ebenso gefasst sein wie auf wachsende sentimentale Deutschtümelei – ein Klima, in dem Nazis gut gedeihen. Faschistoide Tendenzen in Europa nehmen zu. Denken wir nur an die Verhältnisse in Ungarn oder im Baltikum, oder auch daran, dass jüngst in Frankreich fast ein Fünftel der Wähler für die Kandidatin der äußersten Rechten (Marine Le Pen von der Front National) votierte. Die Verfasstheit des Kapitalismus lässt es gar nicht zu, dass dieser sich a priori auf die Herrschaftsform der bürgerlichen Demokratie beschränkt.