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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Welche Antwort er der Wendewut gab

Eberhard Panitz, Berlin

Jorge Amado (1912 - 2001)

Amado sah im Fernsehen, wie die Leninstatue in Vilna, Litauens Hauptstadt, von ihrem Sockel gerissen wurde. Auch aus Moskau erreichten ihn die Bilder der Wendewut. Dort hatte man ein Seil um den Hals des steinernen Lenin gelegt: doch konnte ihn nicht herunterreißen, weil kein Bulldozer zur Stelle war, die Statue zu riesig und schwer für bloße Hände, selbst für wütende. Leningrad war schon wieder St. Petersburg. Er notierte: "Der Zug der Geschichte frisst die Entfernungen mit einer Geschwindigkeit, die größer ist als die des Lichts. Das Seil um den Hals, schwanke ich unter dem Gewicht der Statue."

Nicht minder schockierten ihn die Fernsehbilder von Gorbatschows Amtsenthebung, seiner Demütigung durch Jelzin, das Einholen der roten Fahne von den Kremltürmen, die Au?ösung der Union der Sowjetrepubliken und der KPdSU. Er hatte viel Hoffnung auf Gorbatschow gesetzt, auf "sein entschlossenes Handeln" zur Beendigung des Kalten Krieges, der Verringerung der atomaren Bedrohung und auch für mehr Demokratie unter den Völkern der Sowjetunion. Er war ihm und Raissa Gorbatschowa in Moskau begegnet, sie sei sehr liebenswürdig zu seiner Frau und ihm gewesen und habe gesagt: "Mein Lieblingsschriftsteller, 'Gabriela' ist mein Lieblingsbuch." Nun sah er Gorbatschow im Fernsehen in dem Augenblick, als er die Macht abgab, nicht wie von einer Last befreit, sondern enttäuscht und bedrückt, besiegt: "Er verlor die letzten Gefechte des Krieges, den er führte, um das Gesicht der UdSSR und des Kommunismus zu ändern."

Amado reiste wenig später nach Prag zu einer Konferenz, die unter der Schirmherrschaft der Unesco den Intellektuellen und der Demokratie gewidmet war. Ihm war die Leitung der Tagung übertragen worden, er eröffnete sie mit Worten der Besorgnis und des Alarms, weil er nun mit ansehen musste, wie sich eine neue Hexenjagd anbahnte: "Der Ausbruch einer neuen Hexenjagd erschreckt mich, die ideologische Verfolgung im Namen der Demokratie, gegen diejenigen, die gestern aus Gewissenhaftigkeit, aus Parteizugehörigkeit oder gemeinem Interesse Kommunisten waren oder sind und mit mehr oder minder großem Verantwortungsbewusstsein im Dienste der Partei handelten. Ich sehe, dass in den Ländern der ehemaligen Volksdemokratien die Tendenz wächst, zu denunzieren, zu verfolgen, zu richten." Er warnte eindringlich vor den immer lauter werdenden Stimmen des Hasses und der Rache, die ungerechte, antidemokratische Gesetze forderten: "Wenn wir nicht mit Vorsicht zu Werke gehen, werden wir womöglich bewirken, dass aus der Asche des Stalinismus der Faschismus aufersteht, und anstatt die Demokratie zu stützen, haben wir wieder das Blutbad und den Völkermord."

In den kommenden Wochen, Monaten, Jahren musste er mit ansehen, wie seine düsteren Ahnungen nicht nur Ahnungen blieben: Golfkrieg, Jugoslawiens Tragödie und der immer wieder neu entfachte blutige Kampf Israels und der Palästinenser. Als "dumm, schrecklich, brudermörderisch" verurteilte er besonders diesen Krieg, der nur den Interessen der Waffenhändler und -produzenten, den Geschäftemachern und den Befehlshabern in den Palästen diene: "Er ist die Verneinung der Menschlichkeit, der Krebs des Rassismus, die Lepra der Intoleranz, Aids des Sektengeistes. Er will sich als Licht des Tabernakels, Heiliger Stein von Mekka und Medina darstellen, aber er ist das Gegenteil von Glauben und KuItur."

Er traf allenthalben Freunde, einstige Kampfgefährten, Gesinnungsgenossen, die ratlos den Geschehnissen gegenüberstanden. "Ich bin verloren, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, ich verstehe nicht, was geschieht, die Welt bricht zusammen, ich bin völlig leer, ich leide Höllenqualen", sagte in Paris ein junger Franzose zu ihm, Kommunist, mit dem Amado seit langem freundschaftlich verbunden war, den er einst als Student mit lrene und Frederic Joliot-Curie bekanntgemacht hatte, jetzt selbst ein Wissenschaftler von Rang. Er war zur Polizei bestellt worden und sollte im Zuge der neuen antikommunistischen Hysterie aus Frankreich ausgewiesen werden, weil er angeblich "Amados Sekretär" sei. Wenige Wochen später erfuhr Amado, daß er noch in Paris nach einem plötzlichen Herzinfarkt verstorben war.

Auf den letzten Seiten seiner bekenntnishaften Notizen, gleichsam seinem politischen und literarischen Testament, aus den Jahren 1991 und 1992 gibt Amado seine Antwort auf die Wendewut und an alle Fragenden, Zweifelnden und Verzweifelten. Mag man darüber urteilen, wie man will, es ist jetzt wahrlich nicht die Zeit der Einstimmigkeit, und Amado wäre der Letzte, der sie erwartete. Nach einem solchen Leben, verstrickt in viele Auseinandersetzungen und Kämpfe, geleitet von nie aufgegebenen Idealen, beschämt von Verrat, Irrtümern und Täuschung, ist von ihm nichts anderes als dieser Klartext aus seiner fernen Nähe zu haben:

"Die Welt des Ostens, des Realsozialismus, zerbröckelt, jene, die Millionen Geschöpfe anregte und durchs Leben führte, Ideal der Gerechten, der Schönheit, für die sie gekämpft hatten, für das viele unter Verfolgung und Gewalt gelitten hatten, Exil, Gefängnis, Folter, es löste sich in Rauch auf, in nichts, es gibt es nicht mehr, war nur Lüge und Täuschung, jämmerlicher Irrtum, Schmach. Ich kenne viele, die in den Grenzen der Angst leben, als wäre die Welt ein für alle Mal in ewiger Nacht, ohne Hoffnung auf Tageslicht, versunken ...

Ich bin es überdrüssig, denjenigen, die die Richtung verloren haben, folgendes zu erklären: Für mich sehe ich keinen Grund zur Verzweiflung und zum Selbstmord. Die Probleme, für deren Lösung wir kämpften, bleiben riesig und drängen nach wie vor, der Traum, den wir träumten, bleibt unversehrt in seiner faszinierenden Herausforderung. Nur der Schleier der Phantasie zerriss, und die arme Nacktheit der trügerischen Ideologien, die den Menschen einschränken und herabwürdigen, sah sich dem Licht der Sonne ausgesetzt, Waffen der Unterdrückung, Fabriken der Diktatur. Was falsch und hässlich, faul und widernatürlich war, ?el in sich zusammen ...

Vor zwei Jahrhunderten veränderte die Französische Revolution das Gesicht der Welt, neue, bessere Werte wurden eingeführt, das Leben wurde gerechter und schöner. Doch die Wege der Demokratie wurden verlassen, um einer blutigen Diktatur des Terrors Platz zu machen, die umso erniedrigender war, weil sie im Namen des Volkes ausgeübt wurde. Es war ein Rückschritt, der mit demjenigen vergleichbar ist, der heute in der UdSSR und den sogenannten sozialistischen Ländern getan wird. Von Napoleon bis zur Restauration der Bourbonen schien der gesellschaftliche Fortschritt beendet, und es folgte ein Rückfall in die Finsternis. Diese Rückkehr bedeutete jedoch nicht das Ende, die Au?ösung der neuen, besseren Werte, welche die Französische Revolution geboren hatte, die Welt glich nie wieder derjenigen, welche die Revolution zerstörte, für immer auflöste. Die Oktoberrevolution, die Sozialistische Revolution, änderte ebenfalls das Gesicht der Welt und das Leben der Menschen, und sie tat es für immer, die von ihr ausgerufenen neuen Werte bleiben jenseits der vermeintlichen gegenwärtigen Niederlage bestehen. Der Kampf, den wir kämpfen mussten, war berechtigt, so grob und furchtbar die begangenen Fehler auch gewesen sein mögen.

Er war berechtigt und dauert fort, denn der Kapitalismus bleibt dasselbe fehlerhafte, ungerechte wirtschaftliche und politische System, das es immer war, es ist um nichts besser geworden, und in Brasilien haben sich die Probleme verschärft. Das gegenwärtige Bild der brasilianischen Gesellschaft ist beklagenswert, ein erschütternder Alltag des Elends und des Hungers, der Krieg gegen Millionen Kinder, die zum Verbrechen verdammt sind, der halbfeudale Großgrundbesitz, die Zerstörung der Böden, die Vernichtung der Wälder und Tierarten, der Raubbau an der Natur, die Charakterlosigkeit der Eliten. Unser nationales Porträt, das wir täglich im Fernsehen sehen, ist zum Heulen. Wir müssen weiterkämpfen, wenn wir Heimat und Boden haben wollen, wenn wir wollen, dass Herzlichkeit und Lachen zurückkehren."

Basierend auf: Eberhard Panitz, Jorge Amados Einmischung, Spotless-Reihe Nr. 88, 1998. Amados einhundertster Geburtstag ist der 10. August dieses Jahres.