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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wekwerth macht uns "Mut zum Genuß"

Armin Stolper, Berlin

1954. Der junge Mann auf dem Foto neben Brecht ist Manfred Wekwerth. Der hat vor zwei Jahren in Köthen mit Laien eine Inszenierung der "Gewehre der Frau Carrar" gemacht, deren Ruf bis nach Berlin gedrungen war. Brecht, nachdem er die Aufführung gesehen hatte, engagierte deren Regisseur ans BE. Auch der auffällig begabte Arbeiter Erich Franz wurde gleich mitengagiert. Jetzt ist Wekwerth Co-Regisseur beim "Kreidekreis", eine Inszenierung, die wie "Mutter Courage und ihre Kinder" Weltberühmtheit erlangen wird. Brecht ist 56 Jahre alt, aber aussehen mag er auf dem Foto, auch wenn man ihn nur von der Seite sieht, wie ein rüstiger Sechziger, der vielleicht an die Siebzig oder sogar schon darüber ist. Das verwundert nicht, bedenkt man, in welchen Zeiten er gelebt hat, wo und wie. Wekwerth ist fünfundzwanzig, sieht jedoch jünger aus. Auch das verwundert nicht; eher, daß er, Jahrgang 29, überhaupt hier und unversehrt neben dem Alten sitzt. Insgesamt fünf Jahre wird er bei dem lernen dürfen. Als Brecht 1956, 58 Jahre alt, stirbt, ist Wekwerth – einer der Regiehelfer, wie Strittmatter den Pulk junger Leute um Brecht genannt hat –, siebenundzwanzig, der von nun alles, was er von dem lernen konnte, selber ausprobieren, mit eigenen Erfahrungen anreichern wird, wovon "Arturo Ui", "Coriolan", und "Die Tage der Commune" dann Zeugnis ablegen werden.

Jetzt, im 80. Lebensjahr, veröffentlicht Wekwerth ein Buch, das er "Mut zum Genuß" nennt; ein Brecht-Buch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter. Als er 60 wurde, schrieben wir das Jahr 89. Da war die DDR 40 geworden, genauso alt wie das Berliner Ensemble. Die DDR ging gleich danach unter, das BE blieb bestehen, aber es war danach nicht mehr das, was es durch Brecht, die Weigel, durch Busch und die Leute geworden war, die in all diesen Jahren an ihm gearbeitet hatten. Wekwerths Biographie als Sechzigjähriger erzählt, daß er unter der Weigel zum Regiechef aufgestiegen, danach von ihr weggegangen war, an verschiedenen Orten der Welt, also in Wien an der Burg, in London am National Theatre und in Zürich am Schauspielhaus, auch am Deutschen Theater Berlin inszeniert und beim Fernsehen der DDR einige Filme gemacht hat, später dann Intendant des Hauses am Schiffbauerdamm geworden war, daß man ihn zum Präsidenten der Akademie der Künste der DDR und auch zum Mitglied des Zentralkomitees der SED gewählt hatte; also alles, wenn man so will, nichts Besonderes, eben eine der vielen Biographien von Leuten, die wußten, warum sie in diesem Lande lebten und arbeiteten und die das unverschämte Glück hatten, einen Unruhigen, einen Weisen, einen Klassiker, zum Lehrer gehabt zu haben, und die sich von Engbrüstigen und Engstirnigen, deren Zahl im Lande, das auferstanden aus Ruinen war, nicht eben klein war, nicht ins Bockshorn jagen ließen.

Über Wekwerths Frauen kann ich kaum etwas sagen, weil ich nur die eine, und auch die erst reichlich spät kennengelernt habe; eine Schauspielerin, die Renate heißt, die sich heute darüber ärgert, daß sie früher beim Singen vier Töne höher geschafft hat, was aber nichts zur Sache tut, denn ihre Stimme ist noch immer hörenswert und hat noch immer eine solche Kraft, daß sie sich auch gegen die Erzähllust des Mannes durchzusetzen vermag und ihre Suppen, Kuchen und anderen Genußmittel sind nicht zu verachten. Vielleicht bezieht besagter Prof. Dr. Wekwerth, der heute als "freier Regisseur und Autor" – untersuchen wir nicht die Dinge, die ihn zu einem solchen gemacht haben – mit ihr und einem als Kater verkleideten Diktator am Rande von Berlin lebt, auch von ihr seine Liebe zu dem, was das Wort "Genuß" besagt, aber er wird sicher darauf bestehen, daß diese Liebe auch auf den alten Brecht zurückgeht. So wie überhaupt alles, was er in seinem Leben gemacht hat – auf der Bühne, vor der Kamera, am Rednerpult, als Akademiepräsident, als Lehrer von jungen Regisseuren, bei Workshops, Seminaren – auf diesen Mann zurückgehen mag, den er bis jetzt um 22 Jahre überlebt hat.

Wäre Brecht heute noch unter uns, würde er seit 20 Jahren wieder das erleben, was er als junger Mensch schon einmal erlebt und bekämpft hat: Scheißkapitalisten, Scheißfaschisten, Scheißrassisten; schwache untereinander zerstrittene Kommunisten und Sozialisten; eine SPD, die nicht müde wird, ihren Verrat als Einsicht in die Notwendigkeit zu preisen, um wenigstens an die Fleischtöpfe der Großen Koalition heranzukommen. Neu wäre für ihn, daß es die Sowjetunion nicht mehr gibt, dafür aber Kuba, von dessen künftiger Existenz er noch nichts wissen konnte, heute den Sozialismus verteidigt, und daß die neue, von ihm verteidigte und kritisierte DDR wieder heim ins Reich der reichen Deutschen geholt wurde, was die spätestens seit dem 17. Juni 1953 mit allen Mitteln immer wieder versucht hatten. Brecht wäre, kann sein, überrascht, aber nicht sprachlos; er müßte die Niederlage einstecken, ohne von seinem Wissen um eine andere Welt und von seinem Wollen, eine solche miterrichten zu helfen, zu lassen. Er würde wieder bei den beiden Karls – also bei Valentin und bei Marx – in die Schule gehen, er würde Freunde, Mitstreiter um sich scharen und dort, wo er es ihm möglich wäre, neue Versuche unternehmen. Mit allem, was er mit seinem Theater tun würde, würde er den Mut zum Genuß, der ihn sein Leben lang beseelt hatte, erneut aufbringen. Vielleicht nicht mehr nur in Berlin, sondern auch an manchen Orten, wo man ihm die Möglichkeit dazu einräumte, mit schmalen finanziellen Mitteln und wenigen Mitstreitern, was ja nichts Neues wäre, und er würde auch wieder, mit Geduld und Spucke, die Jungen lehren, und, wenn möglich, selber von ihnen lernen.

Und genau das macht der alte Wekwerth und beweist damit, daß er ein guter Schüler Brechts gewesen und geblieben ist, und wie er das alte Wissen durch Hinzufügung von neuem frisch hält, wie er alte Irrtümer abstreift, und das, was Verwandte von Brecht, beispielsweise dieser unverwüstliche Dario Fo, der Regisseur Alejandro Quintana oder die unbändige Rockgruppe "Emma" tun, in seine Arbeit, in seine heutigen Überlegungen, Beweise, Behauptungen und Verführungen einbezieht.

Und weil er nicht will, daß diese neuen Erfahrungen den Bach hinabgehen, und keiner mehr, wenn er eines Tages nicht mehr da sein wird, diese alte Brecht-Kenntnis in der Kommunikation mit dem, was uns die Konterrevolution heute beschert, den nach uns Kommenden erzählen kann, schrieb er dieses Buch, das, wenn ich recht sehe, sich als erste umfassende Darstellung der Schauspielkunst vom Standpunkt des Brecht-Theaters empfiehlt. Nun frage man mich nicht, was man darunter zu verstehen hat, denn der Verfasser gibt nicht einfach eine Definition, sondern lädt uns zu einer lustvollen Entdeckungsreise ein, verwickelt uns in immer neue Abenteuer, so daß wir am Ende begreifen mögen, worum es ihm überhaupt zu tun ist, nämlich: um den Mut zum Genuß, ästhetisch, philosophisch, auf das Gesellschaftswesen Mensch bezogen, damit der die Lust und die Möglichkeit findet, sich in seiner individuellen Eigenart zu entdecken und zu verwirklichen. Mit dem Theater, auf dem Theater, durch das Theater.

Auch wir, der Regisseur Horst Schönemann, der Intendant Gerhard Wolfram und ich, haben während unserer jahrelangen Zusammenarbeit uns immer auf dem Wege zu einem "philosophischen Volkstheater" gesehen; es überraschte mich also nicht, daß Wekwerth, der diesen Begriff vom späten Brecht übernahm, ihn ebenfalls Zeit seines Lebens in seinen Versuchen auf der Bühne, im Film und auch in Diskussionen auf die Schliche zu kommen trachtete. Keineswegs verwunderlich, daß er die Stücke und Schriften Brechts neu zu lesen empfiehlt; an einigen Stellen seines Buches verweist er darauf, daß manche der Forderungen, Wünsche und Vorschläge, die Brecht unterbreitete, damit der Arbeiter- und Bauernstaat nicht zum Objekt der Funktionärselite verkümmern, daß Volkseigentum nicht nur deklarativ behauptet, sondern praktisch genutzt, daß Marxismus nicht zum Murxismus werden möge – was er leider oft und zunehmend tat – höchst aktuell sind. Auf dem Brecht-Kolloquium 2004 in Havanna hat er besonders Brechts Lob des Zweifels in den Mittelpunkt seiner Erörterungen gestellt, und dies mit Recht. Denn wer den Zweifel allein durch Siegesgewißheit aus dem Feld zu schlagen glaubt, wer meint, das Sichere gelte ein für allemal als sicher, das einmal Errungene könnte nicht wieder verloren gehen, der besteigt eine Rutschbahn, an deren Ende ihn die Vettel Konterrevolution in die Arme nimmt. Wenn wir wissen wollen, warum wir diese Niederlage erlitten haben, sollten wir Brecht, der aus dem Stück "Die Niederlage" von Nordahl Grieg sein Stück "Die Tage der Commune" machte, in die Erforschung unserer Fehler, Irrtümer, Versäumnisse einbeziehen. Daß wir dabei auf den Spaß, auf den Witz, auf den Humor und eben auf den Genuß nicht verzichten müssen, dafür garantiert der listige Augsburger, versichert uns sein einstiger Schüler, an dem, wie ich denke, der Alte auch heute seine Freude haben könnte.

1977 erschien im Henschelverlag ein Buch mit dem Titel "Für ein menschlicheres Theater", das Giorgio Strehler zum Autor hatte; in dem fragte der berühmte italienische Regisseur, ob Brecht noch eine aufrüttelnde, künstlerische und ästhetische Wirkungskraft zukäme. Und er befand, daß angesichts unserer, also seiner Gesellschaft "mit ihrer Tendenz zum Konsum und Massenplanung" ihm das große Problem der Brecht-Dramaturgie noch in keiner Hinsicht gelöst scheine. Brechts Grundanliegen, seine ideologische Provokation, sei intakt geblieben, weil die kapitalistische Gesellschaft – vielleicht verfeinerter, vielleicht brutaler – noch immer dieselbe sei. Neben einigen Freiheiten habe sie sich aber auch etliche enorme Versklavungen eingehandelt. Wohlgemerkt, das sagte der im Kapitalismus erfahrene Strehler 1971. Wekwerth fährt 2009 fort: "Jede Spielweise, die Widersprüche aufreißt, Vorschläge macht, mit ‚Antinomien umzugehen’ und diese Welt erschließt, indem sie hilft, sie ‚bewohnbar zu machen’, sei willkommen: Tragödie oder Clownerie, Vers oder Slang, Fantasie oder Dokument, Emotionen oder Kälte, Gründe oder Abgründe, Durchsichtiges oder Absurdes, aufbauen oder zertrümmern." Jedenfalls, befindet Wekwerth – und ich stimme ihm da voll zu – könne das Theater Brechts heute mehr Theatermittel freisetzen als die modischen Richtungen, die in ihrem Bemühen, ‚Noch-nie-Dagewesenes’ zu machen, einander gleichen wie ein Ei dem anderen.

Manfred Wekwerth "Mut zum Genuß", ISBN: 978-389706-656-4, 14,80 Euro, Kai Homilius Verlag