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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Weitling – »Begründer des deutschen Kommunismus« (Engels)

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Nachfolgende Rezension wurde, gekürzt, in »neues deutschland«, 30. und 31. Mai 2015, S. 25, publiziert:

Bewunderns- und beneidenswert, wer eine solche Ernte der eigenen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit einzufahren vermag: Seit ihrer Dissertation vor sechzig Jahren hat sich Waltraud Seidel-Höppner, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, publizierend und edierend Wilhelm Weitling (1808-1871) und anderen deutschen und französischen Parteigängern des vormarxschen Sozialismus und Kommunismus gewidmet. Und nunmehr hat sie ihr opus ultimum veröffentlichen können, eine zweibändige Weitling-Biographie.

Auf nicht weniger als 260 Seiten ist allein deren Quellenbasis samt ihren jeweiligen Fundorten aufgelistet: alle die großen, die kleinen und die ganz kleinen Veröffentlichungen Weitlings, auch deren damalige und heutige Übersetzungen in andere Sprachen, insgesamt nahezu dreihundert Titel; seine umfangreiche Korrespondenz; ein Verzeichnis der den Text bereichernden 70 Abbildungen, darunter Faksimiles der Titelblätter aller Erstausgaben seiner Werke, auch der Statuten des »Bundes der Gerechtigkeit« sowie Bilder der Akteure einschließlich der Witwe Weitlings, die ihn um mehr als vierzig Jahre überlebte; die Weitling-Ehrungen und Gedenkorte (die in Berlin-Lichtenberg liegende Weitlingstraße hat mit unserem Weitling nichts zu tun!); seine Wege durch die Unionsstaaten der USA (warum nicht die durch Europa?); die zu Rate gezogenen Materialien in den benutzten Archiven und Bibliotheken des ln- und Auslands; die Quellensammlungen und Nachschlagewerke; die amtlichen und halbamtlichen Berichte sowie die einschlägige zeitgenössische Presse zweier Kontinente; die Biographien, Monographien, Spezialstudien sowie die seinerzeitige und die gegenwärtige Weitling-Literatur.

Um bei einem so wohldurchdachten Werk, das man getrost zu den Standardwerken deutscher Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts zählen darf, denn doch etwas zu bemängeln: eine Weitling-Chronologie sowie die Seitenangaben beim Personenregister hätten seine Benutzerfreundlichkeit noch erhöht. Möge die sich der Grenze zur Erblindung nähernde Sehkraft der Autorin Verbesserungen bei einer erforderlich werdenden Zweitauflage erlauben.

Einem möglichen Einwand sei zuvorgekommen: Hier wird keine historische Rumpelkammer geöffnet, sondern der wichtigsten Pflicht des Historikers Genüge getan: die Wahrheit über die Vergangenheit problematisierend auszuloten, im Interesse der Gegenwart und deren Zukunft, versteht sich. Und der hochbegabte Autodidakt Weitling hat eine Biographie dieser Dimension nicht weniger verdient als der hochgebildete Akademiker Hegel. Von dem hatte Weitling zwar nichts gelesen, was ihn aber nicht daran hinderte, ihn als einen »Nebler« zu diskreditieren, da dessen Adepten den eigentlich doch gemeinverständlichen Kommunismus bloß »verhegelt« hätten (ein Ausdruck, den übrigens auch Friedrich Engels gelegentlich verwendete, wenn auch in anderer Absicht). Darauf wird zurückzukommen sein.

Wer über das Elend urteilen will, muss selber Arbeiter sein

Der als unehelicher Sohn einer aus Gera gebürtigen Haushaltshilfe in Magdeburg und eines französischen Besatzungsoffiziers, der dann in Napoleons Russlandfeldzug sein Leben ließ, am 5. Oktober 1808 geborene und vier Tage danach evangelisch getaufte Wilhelm Christian Weitling wurde »im bittersten Elend« aufgezogen und hat zeitlebens nicht viel anderes erfahren: »Wir haben in der Schule des Elends buchstabieren und lesen gelernt, und waren gezwungen, unser Examen darin zu machen«, hat er später, nicht jammernd sondern selbstbewusst, festgestellt, um dann provozierend zu fragen, ob jemand, der im Wohlstande lebt, eigentlich über unser Elend urteilen könne? Und: Wer die Lage des Arbeiters richtig beurteilen will, muss selber Arbeiter sein.

Nach seinem Schulbesuch erlernte er das Schneiderhandwerk, durchwanderte als Geselle das schläfrige Deutschland und gelangte schließlich 1835 nach Paris, dem für ihn »politischen Brennpunkt der Völker«. Hier arbeiteten damals an die 15.000 deutsche Handwerksgesellen, und die nannten sich, anders als in anderen Ländern, bereits »Arbeiter« oder »ouvrier«, und hier wurde Weitling in den von deutschen Flüchtlingen im Jahr zuvor gegründeten illegal operierenden demokratisch-republikanisch-menschenrechtlich orientierten »Bund der Geächteten« aufgenommen. Als er nach einem Zwischenaufenthalt in Wien 1837 nach Paris zurückkehrte, hatten sich die dem Prinzip der Gütergemeinschaft zuneigenden Mitglieder dieses Bundes in einen, ebenfalls geheimen, »Bund der Gerechtigkeit« abgespaltet. So ist dessen Name im Statut ausgewiesen; durchgesetzt bei Freund und Feind, nicht natürlich bei Seidel-Höppner, hat sich inhaltlich inkorrekt die Bezeichnung »Bund der Gerechten«, was einen anmaßenden Anspruch der Mitglieder bedeuten würde, statt deren gemeintes Ziel einer gerechten Gesellschaft.

Geistiger Gründer

Die Centralbehörde des »Bundes der Gerechtigkeit« hatte dessen Mitglieder aufgefordert, ihre Gedanken über Möglichkeit und Notwendigkeit der Gütergemeinschaft zu Papier zu bringen. In Unkenntnis der Arbeiten von Owen und Cabet und sogar des Wortes »Kommunismus« verfasste daraufhin der wochentags bis 22 Uhr und auch sonntags bis zum Mittag als Schneidergeselle arbeitende Weitling seine Erstlingsschrift »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte«; sie wurde auf Beschluss der Bundesleitung als programmatische Grundlage des »Bundes der Gerechtigkeit« anonym in zweitausend Exemplaren publiziert und verteilt. Wie unfertig, im Detail auch illusionär, die von Weitling im Ergebnis einer »sozialen Revolution« (»eure Hoffnung liegt in eurem Schwerte«) für den »Bund der Gerechtigkeit« konzipierte, dem gemäß Matthäus-Evangelium 22/39 christlichen Gebot der Nächstenliebe entsprechende Gütergemeinschaft als »Erlösungsmittel der Menschheit« auch sein mochte, so hat doch später Karl Marx, der wie auch Friedrich Engels das Statut des Bundes der Gerechtigkeit gar nicht kannte (!), den eigentlich erst 1847 in London gegründeten »Bund der Kommunisten« als 1836 zu Paris, »wenn auch unter anderem Namen« (nämlich dem der Gerechtigkeit) gestiftet sein lassen (MEW 14/483), womit er den Nagel auf den Kopf traf. Weitling ist nun einmal der geistige Gründer des deutschen Arbeiterkommunismus!

lm Frühjahr 1839 verbreitete Weitling revolutionäre Flugschriften im Rheinland, schrieb politische Lieder für die »Volksklänge« und organisierte im Sommer 1840 während des großen Streiks eine Speiseanstalt in Paris und Solidaritätsaktionen auch in Deutschland. Auftragsgemäß gründete er ab Mai 1841 in einigen Schweizer Städten Gemeinden für den »Bund der Gerechtigkeit« und redigierte ab Herbst jenes Jahres von dort aus die erste deutsche, und zwar kommunistische Arbeiterzeitung »Der Hülferuf der deutschen Jugend«, später »Die junge Generation«, deren Motto für sich sprach: »Gegen das Interesse Einzelner, insofern es dem Interesse aller schadet, und für das Interesse Aller, ohne einen Einzelnen auszuschließen«. Etwa tausend Abnehmer hatte das Blatt, davon 400 in Paris und 100 in London. Das jährliche Abonnement kostete drei französische Franken. Friedrich Engels vermerkte in Manchester: »Obwohl ausschließlich für Arbeiter und von einem Arbeiter geschrieben, ist dieses Blatt besser als die meisten französischen Publikationen; man merkt ihm an, dass sein Herausgeber sehr schwer gearbeitet haben muss, um sich das Wissen anzueignen, das eine mangelhafte Bildung ihm vorenthalten hatte«.

Donnern gegen die Reichen

Im Dezember 1842 veröffentlichte Weitling im Eigenverlag sein theoretisches, ihm binnen kurzem europäischen Ruhm verschaffendes Hauptwerk: »Garantien der Harmonie und Freiheit«. Inzwischen war ihm klar geworden, dass ein Armer und ein Reicher vor dem Gesetz so wenig gleich sind wie ein Nichtschwimmer und ein Schwimmer vor einem tiefen Teich. Nach dem herrschenden Begriff bestehe die Gerechtigkeit in einem durch Gesetze gesicherten Zustand, den zu erhalten Polizei, Soldaten, Rechtsgelehrte und Pfaffen erhalten werden; nach dem richtigen Begriff sei aber Gerechtigkeit jener Zustand, in dem verhindert wird, dass jemand durch die Schuld des anderen leidet oder aus dem Leiden anderer Vorteil zieht. Also sei es so lange gleichgültig, ob Hinz oder Kunz, ob Napoleon, Friedrich Wilhelm oder Nikolaus die Herrschaft ausübt, solange das Volk aus Herren und Knechten besteht, denn die Wurzel alles Übels sei das Eigentum; demzufolge sei nur in einem Zustande der Gütergemeinschaft die Freiheit eines Jeden und die Harmonie Aller denkbar und möglich; die Gemeinschaft der Güter und der Arbeiten sei eine notwendige Bedingung dieser Harmonie; unser kommendes System werde ein System der größtmöglichen Freiheit Aller sein.

Wegen seiner im Druck befindlichen kommunistischen Bibelinterpretation »Das Evangelium des armen Sünders« wurde er von Juni 1843 bis Mai 1844 in Zürich eingekerkert und sodann ausgewiesen. Im August 1844 ging er über Hamburg nach London, Anfang 1846 nach Brüssel und Ende 1846 nach New York, wo er einen kommunistischen Befreiungsbund gründete. Er kehrte als dessen Delegierter 1848 nach Deutschland zurück und wirkte hier in Demokraten- und Arbeitervereinen, gab eine Wochenschrift »Der Urwähler« heraus und nahm am Zweiten Demokratenkongress in Berlin teil. Nach seiner Ausweisung beteiligte er sich im Februar 1849 am norddeutschen Arbeiterkongress und schloss sich der Arbeiterverbrüderung an. Ende 1849 ging er für immer in die USA.

Hier lud er bereits Anfang 1850 nach englischem Muster zu einem Arbeiterkongress ein, beteiligte sich im April dieses Jahres tonangebend an der Bildung des Zentralkomitees der Gewerbevereine und frohlockte unbelehrbar über die zweieinhalbtausend sich verbrüdernde Arbeiter in New York: »Wir haben nun, wenn Alles fortan gut geht, die Aussicht, dass wir bis zum nächsten Herbst, mit den Amerikanern verbunden, eine compact organisierte einige Parthei von wenigstens 100.000 Mann bilden. Mit einer solchen Parthei setzen wir die nächste Präsidentenwahl nach unseren Wünschen und Alles durch, was sie für gut hält«. Wenigstens wurde der erstmals zustande gebrachten internationalen Verbrüderung der einheimischen mit den eingewanderten Arbeitern anderer Nationalität der Rathaussaal überlassen, wo ihnen unter Kronleuchtern auf dickem Parkett erlaubt war – so Weitling selbst – »gegen die Reichen zu donnern«. Und in diesem New York begann Weitling, als Zeitschrift der Arbeiterverbrüderung »Die Republik der Arbeiter« im Eigenverlag herauszugeben. ln ihr wird er später schreiben: »Ich zähle den farbigen Sklaven zu den arbeitenden Klassen, zu unseresgleichen«, und in ihr wird er im Herbst 1851 als erste nordamerikanische Zeitschrift die beiden ersten Kapitel des »Manifests der Kommunistischen Partei« veröffentlichen, in denen Marx/Engels das Verhältnis von Bourgeoisie und Proletariat sowie von Proletariern und Kommunisten charakterisieren.

Utopie und Wissenschaft

In den USA erfährt Weitling aber auch 1854 sein erstes und einziges Eheglück mit der 1832 im mecklenburgischen Wittenburg geborenen, seit 1852 in den USA als ausgebildete Schneiderin natürlich der Schneidergewerkschaft angehörenden Caroline Toedt. Als Weitling, der 1867 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt hatte, am 25. Januar 1871 als schwer arbeitender, ausgebeuteter und um den Lohn für seine patentierte Knopflochmaschine geprellter, kaum die Miete aufbringender Schneider starb, hinterließ er sie mit sechs unmündigen Kindern und in tiefstem Elend. Zwei Tage nach seinem Tod wird er von der »New York Times« als ein wissensdurstiger, außergewöhnlicher Organisator der Gewerkschaftsbewegung in ihrem Kampf gegen die Macht der Kapitalisten und Politiker charakterisiert und in einem anderen Nachruf als ein revolutionärer Arbeiter, fern jedem engherzigen Patriotismus; die Schneidergewerkschaft habe zugunsten der Hinterbliebenen einhundert Dollar gespendet und hiesige Parteigenossen eine Sammlung veranstaltet. –

Die hier vorzustellende problemgeladene Biographie erweist sich jedoch nicht nur als die detailgetreueste, auch Wenig- und bisher Unbekanntes zu einem Ganzen gestaltende Darstellung der Frühgeschichte des deutschen Arbeiterkommunismus und seines Begründers Weitling. Dieser sei – laut Karl Marx – Autor »genialer Schriften« gewesen, und habe – laut Friedrich Engels – den »Kardinalpunkt der totalen Umgestaltung der Gesellschaft« getroffen. Was will man mehr? Jedoch: Ieitmotivisch durchgängig, komprimiert im Anfangs- und im Endkapitel über die Klippen der Weitling-Forschung und das zähe Leben falscher Bilder, erweist sich Seidel-Höppner als eine parteiische Parteigängerin ihres Helden, und der heißt nun einmal Wilhelm Weitling. Selbstkritisch zu eigenen früheren Publikationen, zu anderen etablierten Autoren und Editoren, sowie aber auch zu Marx und Engels höchstselbst, protestiert sie besonders gegen die herrschend gewordene Verabsolutierung des Gegensatzes zwischen dem Utopie- und dem Wissenschaftsbegriff. Man mag die Penetranz schelten, mit dem sie dieses ihr Anliegen betreibt, aber in der Sache hat sie nach des Rezensenten unmaßgeblicher Meinung Recht.

Und gerade diejenigen, die ungeachtet der Ursachen und Folgen der sogenannten Wende – und jetzt erst recht! – Sozialisten und/oder Kommunisten geblieben sind, hätten allen Grund, über die in früheren Jahren als hermetisch ausgegebene Trennung von wissensferner Utopie und utopiefreier Wissenschaft nachzudenken. Auch darüber, dass die hemdsärmligen Antisozialisten von heute jedwede Nachdenklichkeit über das Gedankengut gewesener und gegenwärtiger Utopien als angebliches Opium gescheiterter lntellektueller madig machen. Wenn man unter Utopie »Kein Ort nirgends und zu keiner Zeit« versteht, dann erweist sich die Voraussage der wissenschaftlichen Kommunisten, dass in einer kommenden Zeit die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben werde: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« als Utopie. Und dass die seit Jahrhunderten rumorenden Tendenzen eines »Christentums von Unten« zumindest nicht weniger zu einer antikapitalistischen Volks-, auch Arbeiterbewegung beigetragen haben als ein von links interpretierter Hegel, ist kaum zu bestreiten. Selbst der Gebildetsten einer im »Bund der Gerechtigkeit«, an dessen Pariser Adresse 1843 die Briefe an Marx zu richten waren, German Mäurer, hatte ein auf den Hegel von 1830 gemünztes Distichon verfasst:

»Nicht in verhülltem Gewand, nein, in unendlicher Klarheit
Sprich, als Apostel der Zeit, deine Orakel uns aus!«

Übrigens dürfte die Zahl derer, die mit Hegels »Phänomenologie des Geistes« etwas Sinnvolles anzufangen wissen, auch heute noch arg limitiert sein.

Illusionen zuhauf

Gewiss hat Weitling der deutschen Philosophie vorgeworfen, »deutsche Begriffsverwirrung und deutschen Unsinn« hervorgebracht zu haben; auch fürchtete er, dass die Berufsphilosophen den Kommunismus so zuschanden machen werden wie die Berufstheologen das Christentum zuschanden machen. Weitling wollte aber nicht Wissen durch Glauben ersetzen; er argumentiert vielmehr befreiungstheologisch: das Evangelium, welches sich doch beinahe in jedem Hause befindet, solle gegen die Feinde der Armen benutzt werden, »um die Menschheit zu befreien«, was aber nur durch die Abschaffung des Eigentums geschehen könne. »Deklamationen, welche nur das Gefühl aufregen, bringen uns kein Jota vorwärts«, meinte er. In der künftigen Gesellschaft werde »das Wissen aller« herrschen.

Gewiss hatte Weitling lllusionen zuhauf, man erinnere sich an seinen Naivitätssatz: es werde kinderleicht sein, »das arme Volk für den Kommunismus zu gewinnen«, oder an seinen Plan einer künftigen Konstitution der Gesellschaft mit einer »militärisch organisierten industriellen Armee für die allgemeinen Bundesarbeiten«. Marx lehnte es zwar ab, über das Zusammenleben der Menschen im »Staatswesen einer kommunistischen Gesellschaft« zu spekulieren – das sei »Wagnersche Zukunftsmusik« –, aber auch er hatte lllusionen zuhauf, etwa wenn er um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Bourgeoisie für unfähig erklärte, »noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben«, oder wenn er von der in Deutschland bevorstehenden Revolution behauptete, dass sie unumgänglicherweise sofort in eine sozialistische Revolution umschlagen werde, oder wenn er im Londoner Exil unter den Bedingungen seiner finanziellen Permanenzmisere und einer traurigsten Häuslichkeit in heroischer Selbsttäuschung am 28. Juni 1855 der Öffentlichkeit versicherte, dass »gestern im Hydepark die englische Revolution begonnen« habe. Man vergesse auch nicht, dass erst 1867 der wissenschaftliche Beweis für die sich die aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringenden gesellschaftlichen Antagonismen erbracht wurde: erst vier Jahre vor Weitlings Tod wurde Marxens »Kapital« publiziert, und zur »Bibel der Arbeiterklasse«, wie Engels dachte, ist es soziologisch gesehen bis heute noch nicht geworden.

Um keinen falschen Einschätzungen Vorschub zu leisten: Auch wenn Seidel-Höppner auf einen »stalinistisch genormten Marxismus« samt »autoritärem Obertanengeist« allergisch reagiert, hält sie dafür, dass Marx/Engels »die Bewegungsgesetze des modernen lndustriekapitalismus freigelegt« und mit ihrer unbestreitbaren Genialität ihre eigenen Kampferfahrungen samt den verfügbaren sozialistischen Erkenntnissen von Generationen in eine neue Weltsicht eingeschmolzen haben.

Wie anfangs bereits gesagt, hat Weitling eine Biographie dieser Dimension nicht weniger verdient als Hegel. Wie dieser hätte jener aber auch eine Gesamtausgabe seiner Werke verdient. Im Falle Weitlings ist sie nicht in Aussicht. Aber die Zeit wird kommen, auch wenn weder die Autorin der Biographie noch deren Rezensent sie erleben wird.

 

Waltraud Seidel-Höppner, Wilhelm Weitling (1808-1871). Eine politische Biographie, 2 Bde.‚ Peter Lang Verlag, Frankfurt 2014 (1.866 S., 169 €‚ auch als E-Book; detaillierte Daten über http://dnb.d-nb.de ). – Band 47 der von Helmut Reinalter herausgegebenen Schriftenreihe der lnternationalen Forschungsstelle »Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850«.

 

Weitlings Überzeugungen (Ausgewählte Zitate)

  • Das Prinzip der gesellschaftlichen Gleichheit muss mit dem Prinzip der persönlichen Freiheit innig verschmolzen werden.
  • Gleiche Erziehung und gleiche Rechte und Pflichten beider Geschlechter nach den Naturgesetzen.
  • Betrachtet niemanden als euren Feind, bloß weil er einer anderen Meinung ist als ihr, denn wir durchlaufen alle dieselbe Reihe von Irrtümern; hütet euch das anzugreifen, was anderen heilig ist.
  • Solange wir nicht den Mut haben zu verlangen, was uns gehört, solange werden sie uns auch nicht geben, was sie und ihre Vorfahren sich zugeeignet.
  • Nur durch die Diskussion dafür und dawider kann ein Prinzip feste Wurzeln fassen.
  • Wir wollen nicht die persönliche Freiheit der allgemeinen Gleichheit zum Opfer bringen, da es gerade dieser natürliche Freiheitstrieb ist, welcher uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit machte.
  • Der Umsturz des alten Bestehenden ist Revolution; folglich ist der Fortschritt nur durch Revolution denkbar.
  • Wie der Graben beim Aufwerfen des Walles, so entsteht die Armut bei der Anhäufung des Reichtums.
  • Kommunismus ist der Zustand einer gesellschaftlichen Organisation, in welcher alle menschlichen Kräfte in Bewegung gesetzt werden, um jedem Individuum nach den für alle gleichen Verhältnissen den möglichst vollen Genuss seiner persönlichen Freiheit zu sichern.
  • In den Zeiten einer politischen oder sozialen Bewegung wollen wir keinem Revolutionär trauen, der nicht seine Lebenslage mit der aller seiner Anhänger gleichstellt.
  • Die verschiedenen Armeen werden von den verschiedenen Machthabern in den Krieg geschickt, und im Rücken derselben schreien die Pfaffen vor den Altären und von den Kanzeln: Gott ist mit uns, mit der gerechten Sache.
  • Niemand darf in einer gut geordneten Gesellschaft ärmer sein als die Regierung, weil der Zweck einer guten Regierung die Verbesserung des Zustandes der zahlreichsten und ärmsten Klassen sein muss und weil sie diesen Zustand nie verbessern wird, solange sie ihn nicht selbst fühlt.
  • Solange ihr für die Leitung eurer öffentlichen Angelegenheiten Leute wählt, die eure Mühen nicht teilen und besser leben wollen als ihr, werden sie immer nur für ihr Interesse regieren.
  • Heute, wo es Millionen gibt, die gar kein Eigentum haben, ist der Besitz des Eigentums ein gegen die Gesellschaft verübtes Unrecht geworden.
  • Ist es wirklich unser gemeinschaftliches Interesse, das den Krieg nötig macht? lst es das Interesse der Schafe, von Wölfen angeführt, gegen andre, ebenfalls von Wölfen angeführte Schafe zu kämpfen?
  • Die Kommunistenverfolgungen werden einmal aufhören, so gut wie die Christenverfolgungen aufgehört haben; die Kommunistengesetze werden abgeschafft werden so gut wie die Hexengesetze und andere von der Dummheit ausgebrütete Satzungen.

 

Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:

2014-11: Grundsätzliches zum Rechtsstaat

2014-06: Juristisches zum Krim-Konflikt

2013-10: Mandela zu Ehren