»Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen«
Werner Wüste, Wandlitz
»Unwissenheit ist ein Herrschaftsinstrument«
Uwe Behrens
»Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen«
Das ist der eine Titel [1]. Aus ihm lässt sich auf das Anliegen des Autors schließen. Uwe Behrens will informieren, will Wissenslücken schließen. Und das tut er konsequent. Und stellt Zusammenhänge her, zeigt Entwicklungstrends. Interpretiert. Erläutert Herkommen und Perspektive des Landes.
Vor »heißen Eisen« hat er keine Scheu. Wo er nicht aus eigenem Erleben berichten kann, recherchiert er unvoreingenommen und gründlich. Zum Beispiel zum Tiananmen, dem »Platz des himmlischen Friedens«, zur »Uigurenfrage«.
Fast 27 Jahre hat Uwe Behrens in China gearbeitet, gelebt. Er kennt sich aus.
Es gibt einen weiteren, den Haupt-Titel:
»Feindbild China«. Der ist schon für sich genommen Polemik.
Was er bedeutet, ist durchgehend und immer wieder konkret erläutert, sehr sachlich, gelegentlich ironisch, begründet Partei nehmend.
Das ist dem mit dem Land und seiner Entwicklung sympathisierenden Leser Genugtuung.
Aber was ist es, das uns Bücher lesen und Anteil nehmen lässt, etwa an Beschreibungen des Lebens anderer, uns fremder, möglicherweise auch »ausgedachter«, fiktiver Menschen? Ich glaube, dass wir im Stillen, vielleicht sogar im Unbewussten, uns selbst mit den beschriebenen Schicksalen anderer vergleichen; dass wir uns fragen, wie wir uns verhalten würden in gegebenen Situationen. Dass wir uns herausgefordert fühlen und uns darin bestätigt sehen.
Und wenn nun über ein fernes, wenig bekanntes, ein befreundetes Land berichtet wird?
Dass verallgemeinerbar ist, was ich beim Lesen an mir selbst beobachtete, kann ich nur stark vermuten.
Ich habe permanent mit meinem Land, mit der DDR, mit deren Leistungen und Erfolgen, aber viel mehr noch mit ihren Irrtümern, Fehlern, Unmöglichkeiten verglichen.
Ich bin sicher: Das ist gewollt. Uwe Behrens war und ist mit Herz und Verstand DDR-Bürger. Das verschweigt er nicht, das betont er. Und unter anderem das macht ihn und sein Buch so sympathisch.
Also ist dieses Buch über China, geschrieben von einem »gelernten DDR-Bürger«, gleichzeitig und nicht nur nebenbei auch ein Buch über uns.
In ihrem Buch über Xi Jinping, den angeblich »mächtigsten Mann der Welt« [2], gaben Stefan Aust und Adrian Geiges einem Kapitel diese Überschrift:
»Was juckt es uns, wenn in China ein Sack Reis umfällt?«
In der Tat: Ob China hungert oder »bescheidenen Wohlstand« für alle entwickeln konnte [3], ist längst Weltpolitik und Weltinteresse geworden. Ein gesellschaftliches Bewusstsein ist entstanden von der immensen und stetig wachsenden Bedeutung der Volksrepublik China.
China ist omnipräsent. - - -
Doch, es juckt gewaltig.
Uwe Behrens lebt seit 2017 in Wandlitz. In der hiesigen Buchhandlung stellte er sich und sein Buch vor. Ich hatte es schon gelesen und wir kamen ins Gespräch. Ob ich mich als überzeugter DDR-Bürger sehen würde, wollte er wissen. Ich lächelte ihn an: »Und wie!« Wir fanden uns sympathisch.
Uwe Behrens, Jahrgang ’44, Rostocker, Marathonläufer und Hochseesegler, (der Vater war einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler der DDR und beteiligt an der Entwicklung des NÖSPL), studierte an der Verkehrshochschule Friedrich List, arbeitete an der Entwicklung des Container-Transportsystem der DDR, war Fachdirektor bei DEUTRANS, nennt sich selbst Logistikmanager.
1990 folgt er dem Ruf einer BRD-Spedition nach China.
Und so beschreibt er seine Ausgangsposition:
»Was wusste ich über China?
Dass Mao die Kulturrevolution angezettelt hatte, die Sowjetunion und die DDR nicht gerade gute Beziehungen mit der Volksrepublik unterhielten, Peking enge Kontakte mit den USA aufbaute, dass der DDR-Außenhandel billig Textilien importierte, unter anderem Herrenunterhosen, die für DDR-Ärsche viel zu eng waren.«
Aber er wusste auch:
»China schaute auf über fünftausend Jahre zusammenhängende Zivilisationsgeschichte zurück und hatte die Menschheit mit einer Vielzahl von Entdeckungen und Erfindungen vorangebracht. Doch das zählte alles offenbar wenig aus westlicher Sicht, Europa war Maßstab und Nabel der Welt.«
Über das Lernen aus praktischen Ergebnissen des Handelns
Ich will versuchen, in einer Auswahl von Zitaten dem Leser Eindrücke zu vermitteln; in der Hoffnung, sie könnten ihm das Vergnügen bereiten, das ich beim Lesen hatte.
Zum Beispiel, wenn Uwe Behrens erzählt, wie er in seinem neuen Tätigkeitsfeld Menschen kennenlernt. Das vermittelt viel über das Land.
»Yin war offen für alle transporttechnischen und ökonomischen Fragen. Meine Fachbücher für Eisenbahntransporte und Seeschifffahrt arbeitete er abends, nach zehn bis zwölf Arbeitsstunden durch und löcherte mich anderntags mit tausenden Fragen. Ich war begeistert. So etwas hatte ich in meinem bisherigen Berufsleben noch nie erlebt (!) und hier in China auch nicht erwartet. In den westdeutschen Niederlassungen hatte man mich gewarnt: Die Chinesen sind faul, sie brauchen den Druck und die Anleitung von uns Europäern. Von wegen.«
»Das Lernen war zu einer Grundhaltung in China geworden. Stellte ich später neue Mitarbeiter ein, hörte ich fast immer: Ich bin ein guter Lerner.«
»Einen Fehler zu machen wird nicht als tragisch angesehen. Daraus kann gelernt werden. Trial und Error, Versuch und Fehler gehören zum Lernen. ... Ein Staat kann in der heutigen Welt nur erfolgreich bestehen, wenn die Regierung aus der sich ändernden Umwelt lernt und sich neu anpasst, schrieb Prof. Zhang Weiwei ... Das schien dieses Volk mehrheitlich verinnerlicht zu haben.« [4]
»Und China lernte schnell.«
Ich erinnere mich lebhaft, wie wir in der DDR diskutierten: Ist das denn Sozialismus? Oder etwa Staatskapitalismus? Und wir meinten unser Wirtschaftssystem und versuchten, Behauptungen zu begegnen, die in die Bedeutungslosigkeit schicken wollten, was wir mit großen Mühen und vielen Rückschlägen aufbauten.
Die DDR ist verflossen, Fragen bleiben.
Fragen werden immer sein. Gewöhnen wir uns daran! Fragen sind normal, wenn etwas jenseits ein- oder ausgefahrener Gleise entwickelt werden soll.
»Gegenwärtig finden wir in China fünf Formen von Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt staatliches und kollektives Eigentum - dieses findet sich vor allem in der Landwirtschaft und in den Kommunen. Ferner existiert es als privates Eigentum und als ausländisches Eigentum. Und schließlich in Form von Joint Ventures, in denen chinesisches und Kapital aus dem Ausland gebunden ist.« [5]
»Dennoch ist die Frage zu diskutieren, welches Wirtschaftssystem in der Volksrepublik dominiert, wie lässt es sich bezeichnen? Ist das Staatskapitalismus oder Staatssozialismus? Ist es noch Sozialismus oder schon Kapitalismus? Oder ist der ›Sozialismus chinesischer Prägung‹ ein Hybrid?«
Indem ich vieles weglasse – (dem potentiellen Leser von Feindbild China mögen noch Entdeckungen bleiben!) zitiere ich nun die bündige, schlüssige Zusammenfassung von Uwe Behrens:
»Aufgrund meiner Erfahrungen auf dem chinesischen Markt, nach meinen unzähligen Geschäftsgesprächen und -kontakten mit Wirtschaftsleuten aus Unternehmen mit allen in China existierenden Eigentumsformen kann ich sagen: Die chinesische Wirtschaft ist weder eine kapitalistische noch eine sozialistische, wie wir sie praktiziert haben. Sie ist eine sozialistische mit chinesischem Charakter, ein Hybrid.«
Und füge ein abschließendes, begründendes Zitat an:
»Wie ich aus der Reflexion in westlichen Medien erkennen konnte, sprechen viele Ökonomen und Politiker vom Wiederentstehen des Kapitalismus in China, wobei wohl mehr der Wunsch der Vater ihres Urteils ist. Sie hegen ganz offenkundig die Hoffnung, dass nach dem Prinzip ›Wandel durch Handel‹ sich letztlich das kapitalistische Wirtschaftsmodell auch in China durchsetzen werde.
Die Bedeutung der Privatunternehmen (POE) und ihrer Eigentümer wird nach meiner Überzeugung überbewertet. Auch ist der Markt, den sie kennen, nicht der Markt in China. Dort gelten ganz andere Regeln.
Die staatliche Kontrolle des Marktes war und ist der Frage unterworfen, wem der Markt dient: dem Profit oder der Erhöhung des Wohlstandes? Wer kontrolliert den Markt: das Kapital/der Profit oder die Politik?
China hat sich dafür entschieden, dass die Politik den Markt im Interesse der Erhöhung des Wohlstandes kontrolliert. Diese Politik führte zwangsläufig zu Verwerfungen, damit auch zu sozialen Spannungen, die nach den praktischen Prinzipien von V e r s u c h u n d I r r t u m gelöst und korrigiert wurden. Erwies sich etwas als falsch oder unwirksam, wurde ein neuer Versuch gestartet.«
Klimaneutral bis 2060
Dem »Grünen China« schließlich widmet Uwe Behrens ein eigenes Kapitel. Er zeigt darin, konkret, die beeindruckenden Anstrengungen zur planmäßigen Verbesserung der Lebensqualität.
»Allein auf den Dächern der Hauptstadt wird heute schon mehr Solarenergie erzeugt als in ganz Deutschland.
Die CO2-arme Wirtschaft, Chinas Low Carbon Policy, (CLCP) hat Vorrang vor dem ökonomischen Wachstum.«
»Umweltverstöße werden hart bestraft, was bis zur Schließung von Unternehmen geht ...«
»Neunzig Prozent aller auf der Welt verkehrenden E-Busse rollen in China.
Um die Umweltbelastung durch Herstellung und Recycling der Batterien zu minimieren, forschen die Chinesen bereits an sogenannten intelligenten Straßen: Dort soll die Energiezufuhr für die Fahrzeuge über Induktionsstreifen erfolgen. Erste Versuchsstrecken befinden sich bereits im Betrieb.«
»Inlandsflüge werden durch das Reisen mit den Highspeed-Zügen ersetzt. Ich kann bestätigen, dass eine Reise von Peking nach Shanghai mit dem Zug bequemer ist und nicht länger dauert als ein Flug mit An- und Abfahrt zum und vom Airport.«
»Seit mehr als zwanzig Jahren wird das Aufforstungsprogramm realisiert ... Am Rande der Wüste Gobi wurden bereits siebzig Milliarden Bäume auf fünfundvierzig Millionen Hektar gepflanzt – eine Fläche größer als Deutschland.«
»China wird noch vor 2060 klimaneutral.«
Uwe Behrens resümiert:
»Der europäische Sozialismus hatte sich selbst abgeschafft, weil das sowjetische Modell sich auf Dauer als nicht lebensfähig erwies. Nach sieben Jahrzehnten implodierte er (auch weil die Gegenseite alles unternommen hatte, dass es so kam. Sie hatte die Sowjetunion erfolgreich zu Tode gerüstet.) Die Volksrepublik China feierte ihren 70. Geburtstag in einer Verfassung, um die sie nur beneidet werden konnte. 1,4 Milliarden Menschen leben in einem bescheidenen Wohlstand, und die von ihr aufgebaute und betriebene Volkswirtschaft ist die zweitstärkste der Welt. Allen Unken- und Kassandrarufen aus der westlichen Welt zum Trotz.«
Eine kleine Nachdenklichkeit schließlich:
Ich finde hochinteressant, mit welchem Duktus Uwe Behrens von seiner beweglichen, vielseitigen, schöpferischen Managertätigkeit erzählt. Man kann nachempfinden, dass und wie er des Erfolgs, des Ergebnisses (ziemlich) sicher war.
Dass er sich in bewusster Übereinstimmung mit den objektiven Gesetzen der Entwicklung, in Harmonie mit der sich entwickelnden Gesellschaft befand.
Und weil die sogenannte westliche Welt immer wieder und geradezu penetrant von ihrer eigenen Freiheit, folglich der Unfreiheit zum Beispiel der Chinesen schwadroniert:
Das eigene Tun, die eigenen Planungen und Entschlüsse in bewusstem Vollzug gesetzmäßiger Entwicklungstendenz, folglich in eben dieser Harmonie – das ist f r e i e s H a n d e l n. Daraus ergibt sich auch das sichere Gefühl für den Erfolg.
Es ist manchmal nicht leicht, ein Gefühl zu beschreiben. Bilder können helfen, Vergleiche auch:
Der Skiläufer zum Beispiel, der in weiten Schwüngen zu Tal fährt, mag es genießen; der Forscher oder Wissenschaftler, wenn er beflügelt durch die Gewissheit, auf der richtigen Spur zu sein, seine Gedanken konzentriert; der Segelflieger, der mit der Thermik in den Himmel aufsteigt.
Bei Uwe Behrens ist es das Segeln und es liest sich so:
»Die Idee zur Rückkehr hatte Wei Lan. Während einer der ruhigen Nächte auf dem Atlantik überraschte mich meine chinesische Frau mit diesem Vorschlag.
Was doch solche Nächte bei ruhigem Passatwind und klarem Sternenhimmel, wenn die Takelage leise knarzt und das Wasser an der Bordwand rauscht, mitunter für wunderliche Gedanken hervorbringen, dachte ich.
...
Anderthalb Jahre später packten wir unseren Container in Deutschland aus und trugen die Möbel in das neue Haus am Rande eines Waldes bei Wandlitz.«
Anmerkungen:
1 Uwe Behrens, Feindbild China, edition ost, 2021, 221 Seiten, 15,00 €.
2 Stefan Aust, Adrian Geiges, Xi Jinping Der mächtigste Mann der Welt, Piper Verlag 2021.
3 Uwe Behrens, S. 9: »Der chinesische Traum, so nennen sie es selbst, ist der Aufbau einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand, die Schaffung eines reichen, starken, demokratischen, zivilisierten und modernen Landes mit einer zufriedenen Bevölkerung. China setzt auf Harmonie statt Hegemonie. Es betrachtet keinen Staat, kein Volk als Feind.«
4 Leider nur vage erinnere ich mich, dass W.U., wohl auf einer Parteikonferenz, von einem Versuch der Veränderung der Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft sprach, dessen Ergebnisse für die Arbeitsproduktivität nach angemessener Zeit festgestellt werden und der, wenn nötig, korrigiert werden sollte.
5 Bereits 1990 hatte Mischa Benjamin für die Diskussion über ein neues Sozialismuskonzept angeboten:
»Jede Form der Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen muß zugleich von dem erreichten Grad der Vergesellschaftung der Produktion ausgehen. Das erfordert auf sehr lange Sicht, wenn nicht überhaupt, eine differenzierte Eigentumsstruktur, deren Formen – u.a. gesamtgesellschaftliches, privates, lokales, kommunales gesellschaftliches Eigentum – in vielfältiger Weise ineinander übergehen können«.
»Die Grundfrage besteht hierbei in der durchgreifenden Demokratisierung des Wirtschaftslebens. Die Entwicklung realen Eigentümerverhaltens der Produzenten im Sozialismus erfordert das ebenso wie die solidarische, humanistische und ökologische Orientierung der Wirtschaft.« (Das Vermächtnis, S. 35/36).
Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«:
2021-05: Der Krieg und die Liebe. Die Liebe und der Krieg.
2021-04: ... in memoriam Tschernobyl
2020-08: Mischa und die Gretchenfrage