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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Was/wer ist Kapitalismus? Fds versus Marx

Prof. Dr. Harry Nick, Berlin

 

Der wichtigste Ausgangspunkt in den 13 Thesen des Forums demokratischer Sozialisten (fds) zur Programmdebatte ist wohl ihre Berufung auf Karl Marx, wonach der Kapitalismus "kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist" (MEW, 23,16). Der Kapitalismus in Schweden sei eben etwas anderes als der bundesdeutsche. Und der heutige, so könnte hier gemeint sein, natürlich besser als der des 19. Jahrhunderts, ablesbar zum Beispiel an der Verkürzung der gesetzlichen Arbeitszeit. Ich halte solche Deutung dieses Marx-Wortes für nicht zulässig. Der Kapitalismus in Schweden ist derselbe wie der Kapitalismus in Deutschland. In seiner Wesenheit ist der Kapitalismus heute derselbe, wie der, den Marx untersuchte, und in dieser Wesenheit keineswegs ein sich wandelnder Organismus. Es verändern sich die die dominanten Sphären des Kapitals. In den vorkapitalistischen Gesellschaften war das Leihkapital, in den frühkapitalistischen das Handelskapital, mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise wurde das Industriekapital, heute ist das Finanzkapital die dominierende Sphäre. Veränderungen gab es auch in den dominierenden Eigentumsformen des Kapitals: Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts waren es die Einzelunternehmen, seitdem die Kapitalgesellschaften. Entsprechend wandelten sich die personalen Gestalten in der Verfügung über das Kapital: Vom Einzelunternehmer über die Aktienbesitzer und Manager bis zu den Herren über die großen Geldsammelstellen der Banken, Investmentfonds und Versicherungen.

Von alledem unberührt blieben die Wesenseigenschaften des Kapitals:

  • Kapital ist nach Marx "prozessierender Wert", "Selbstverwertung des Werts", "Plusmacherei". Die allgemeine Formel des Kapitals heißt "Geld – mehr Geld". Da am Anfang wie am Ende des Prozesses der Kapitalverwertung dasselbe steht – das Geld als allgemeines Äquivalent – kann der Unterschied nur in der Quantität bestehen: Hieraus folgt die grenzenlose Maßlosigkeit des Kapitals; seine moralische Konsequenz heißt "unstillbare Gier".
  • Ziel, Antrieb, Motiv der Kapitalbewegung sind nicht menschliche Bedürfnisse, nicht der Verbrauch; nicht die Konsumtion, sondern die Akkumulation. Dem Kapital ist es gleichgültig, ob es in der Herstellung von Rosenöl oder von Schmierseife angelegt ist. Der Gebrauchswert – genauer: der vom Käufer akzeptierte Gebrauchswert, der auch ein nur vorgetäuschter sein kann – ist wichtig, aber nur indirekt, nur als Träger von Tauschwert.
  • Kapitalismus bedeutet soziale Polarisierung. Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation ist nach Marx die Akkumulation von Reichtum auf der einen Seite und von Armut, Elend, Pauperismus auf der anderen Seite. Das Kapital erzeugt eine "industrielle Reservearmee", die Arbeitslosigkeit.
  • Das Grundprinzip im Verhalten der Kapitale ist die Konkurrenz, das Gegeneinander. Sie ist um so härter, rabiater, je direkter kapitalistische Unternehmen wirtschaftlich verbunden sind. Die größten Feinde des Schokoladenfabrikanten sind der andere Schokoladenfabrikant und seine direkten Zulieferer und Abnehmer.
  • Das Zusammenwirken von innerem Profitmotiv und äußeren Konkurrenzzwängen erzeugt Antriebskräfte von einer unvergleichlichen Wucht, für die es in aller Geschichte nichts Vergleichbares gibt.
  • Die fundamentale wirtschaftliche und soziale Schwäche des Kapitalismus, zugleich die ausschlaggebende Ursache seiner Wirtschaftskrisen, ist das Zurückbleiben der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot. Sie ist durch eine zweieinige Wirkung des Profitprinzips verursacht: durch die Tendenz zur schrankenlosen Vergrößerung des Angebots einerseits und der Tendenz der Minimierung der Herstellungskosten, des Lohnes vor allem, und damit der Nachfrage andererseits.

Die Entwicklungen, Veränderungen in den Wirkungsformen des Kapitalismus sind nicht Abschwächungen, Aufhebungen dieser Wesenheiten, sondern deren Entfaltung, "Modernisierung" seiner Äußerungsweisen. Seine Wesenheit selber verändert sich nicht. Und sie "schlagen durch" auf die realen Vorgänge, solange es diesen Kapitalismus gibt.

Die Autoren der 13 Thesen scheinen das nicht zu wissen oder nicht zu akzeptieren. Gingen sie von den Grundeigenschaften des Kapitalismus aus, wäre auch ihr DDR-Bild differenzierter und nicht genau dasselbe wie der herrschende Zeitgeist und die bürgerlichen Parteien es malen. Sie müßten dann auch bedenken, daß eine sozialistische Gesellschaft keine solchen gewaltigen, gewalttätigen Triebkräfte aufbringen kann und darf wie es die kapitalistische Kombination von Profitstreben und Konkurrenzzwängen, von Gier und Angst hervorbringt. "Soweit der Kapitalismus kräftigere soziale Energien hervorzubringen vermag, liegt es daran, daß hinter seinen primitiven und unsozialen Mechanismen viel mehr ‚Dampf’ steckt als hinter manchen unserer Regelungen" schrieb ich in der Zeitschrift "Wirtschaftswissenschaft" 11/1988.

Die Thesen-Autoren glauben, im Kapitalismus das Prinzip der Konkurrenz durch die Kooperation ersetzen zu können, wie Friedrich Engels dies von einer sozialistischen Gesellschaft erwartete; sie glauben überhaupt, das Profitprinzip im Kapitalismus überwinden zu können. Das alles sind wichtige sozialistische Ziele; da sie aber dem Wesen des Kapitalismus widersprechen, müssen Wege zu ihrer Erreichung aufgezeigt, mit besonderer Sorgfalt erwogen werden.

Alle ernsthaften Versuche, die Ursachen der heutigen Wirtschaftskrise aufzuklären, nennen die soziale Polarisierung, unzureichende Massenkaufkraft als eine der wichtigen, wenn nicht als wichtigste Ursache. Daß es sich hier um eine "Krise des Überflusses" handeln würde, gehört zu den absurden linken Verirrungen. Die Thesenautoren verzichten auf eine Klärung dieser Ursachen. Sie halten das offenbar für unnötig, da sie die weltfremde Meinung teilen, daß Verzicht auf Wirtschaftswachstum überhaupt nötig sei.

Die wirkliche Entwicklung der kapitalistisch dominierten Gesellschaften ist immer das Resultat von Kapitallogik und ihr widerstrebender politisch-sozialer-kultureller Bewegungen. Diese Bewegungen sind zwar auch durch Kapitalinteressen beeinflußt, von denen aber auch relativ unabhängig.

Nehmen wir als Beispiel die wichtige und von Marx ausführlich behandelte Frage der Arbeitszeitentwicklung. Marx begründet, daß in der Kapitallogik die Tendenz der Verwandlung der gesamten Lebenszeit in Arbeitszeit, Reproduktionszeit eingeschlossen, enthalten sei. Marx verweist auf "das ökonomische Paradoxon, daß das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit (die Maschinerie) in das unfehlbarste Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln." (MEW Bd. 23, S. 430). Marx schildert die rabiaten Verlängerungen der Arbeitszeit im Frühkapitalismus, geißelt die massenhafte Einführung von Kinderarbeit. Derselbe Marx begrüßt emphatisch die 1864 durch das britische Parlament beschlossene Zehnstundenbill und schreibt in einem aus diesem Anlaß von der Internationalen Arbeiterassoziation herausgegebenen Verlautbarung: "Die Zehnstundenbill war nicht nur eine praktische Errungenschaft. Sie war der Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal unterlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse" (MEW 16, 11). Marx war durch diese Entwicklung keineswegs verunsichert und sah sich deshalb auch keinesfalls zu Korrekturen seiner Aussagen über die kapitalistische Tendenz zur Verlängerung der Arbeitszeit veranlaßt. Es ist eben zu unterscheiden, was Kapitalismus, was Kapitallogik bedeutet und was in einer Gesellschaft geschieht. Keine Gesellschaft ist "Kapitalismus pur". Diesen Unterschied machen die Autoren der fds-Thesen eben nicht. Wenn man streng mit ihnen verführe, müßte man ihnen vorwerfen, daß sie Marx gefälscht haben. Marx sagte eben nicht, daß der Kapitalismus "kein fester Kristall …" sei, sondern "daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall …" sei. Gesellschaft und Kapitalismus sind nicht dasselbe. Die schwedische Gesellschaft unterscheidet sich gewiß von der bundesdeutschen, nicht aber der Kapitalismus in Schweden und Deutschland.

Dieser für Rechtssozialisten typische Fehler ist folgenreich: Wenn die realen Entwicklungen in der Gesellschaft als Entwicklungen "des Kapitalismus" ausgegeben werden, werden auch Errungenschafen antikapitalistischer Bewegungen als Früchte des Kapitalismus gedeutet. Alle Schleusen zu Beschönigungen des Kapitalismus sind dann weit geöffnet. Die Verkürzungen der Arbeitszeit sind keineswegs Errungenschaften des Kapitalismus, sie wurden vielmehr in harten Kämpfen gegen das Kapital erreicht. Allerdings muß man hier auch manchem Linkssozialisten sagen: Selbst in "prinzipiellen Fragen" sind Siege über das Kapital in den "jetzigen Gesellschaften" möglich: Nichts von ihren Zielen müssen Sozialisten auf den "Tag nach dem Sieg" verschieben.

Zu den herausragenden Eigenschaften des Marxschen Genies gehört eben seine außerordentliche Schärfe des Denkens. Er benennt präzise Identitäten, Unterschiede, unterschiedliche Zusammenhänge eines und desselben Vorgangs. In ein und demselben Tauschakt unterscheidet er das Geld in seiner Geldfunktion (Geld als Zirkulationsmittel) und in seiner Kapitalfunktion (wenn dieser Akt ein Moment des Kapitalkreislaufs ist). Diejenigen, die heute noch das Geld generell als Kapital deuten, haben das immer noch nicht verstanden. Die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert ist für Marx der "Springpunkt der politischen Ökonomie".

Der Marxsche "Springpunkt" kommt auch in den fds-Thesen vor. Im Zusammenhang mit dem Ökologieproblem. Er bestehe in der Marxschen Feststellung, daß die Produktion von Waren sowohl Produktion von Tauschwert wie von Gebrauchswert und damit auch Verbrauch von Naturstoff sei. Diese Banalität soll eine Marxsche Entdeckung sein und ihm die Bezeichnung "Springpunkt" wert gewesen sein?

Die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert ist für Marx deshalb der Springpunkt der politischen Ökonomie, weil sie die Verbindung zwischen der Arbeitswerttheorie und der Mehrwerttheorie herstellt. Die Arbeitswerttheorie – aller Wert wird durch die lebendige menschliche Arbeit geschaffen – ist vor Marx entwickelt worden. Zu ihren Begründern gehörte auch Adam Smith, der wichtigste Vertreter der klassischen politischen Ökonomie: Smith kam der Erklärung des Mehrwerts/Profits sehr nahe, "verhedderte" sich aber mit seiner Erklärung des Lohns als Wert/Preis der Arbeit. Wenn Lohn der Preis der Arbeit wäre, wo käme dann der Mehrwert her; nur durch Lohnprellerei, Unterbezahlung des Werts der Arbeit? Dieses Rätsels Lösung gelang Marx allein; weil er zwischen Wert und Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft unterscheidet. Der Wert der Ware Arbeitskraft wird durch ihre Reproduktionskosten (Unterhalt der Familie eingeschlossen) bestimmt, und hat eine sozial-historische Dimension. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft ist ihre Fähigkeit, einen größeren Wert zu erzeugen, als sie selber wert ist. Und das eben ist der Mehrwert.

Leider kommt in den fds-Thesen der Mehrwert nicht vor. Einfach vergessen haben ihn die Autoren wohl nicht; denn sie sagen ausdrücklich, daß die Eigentumsform – öffentliches oder privates Eigentum – mit der sozialen Qualität des Eigentums nichts zu tun habe. Daß allein die Eigentumsform für Sozialisten nicht die Eigentumsfrage ausmacht, daß es um die Qualität des gesamten Prozesses der Aneignung, seine demokratische Gestaltung ankomme, ist wohl wahr; daß es aber belanglos sei, wer sich den Mehrwert aneignet, ist wohl zu abwegig in linker Weltsicht.

Im Programmentwurf der Programmkommission findet sich eine meines Erachtens zutreffende Darstellung der Zusammenhänge zwischen notwendiger Veränderung der Wachstumspfade, Ökologie, Beschäftigung und Veränderungen in der Arbeitswelt. Im fds-Entwurf wird den wichtigsten Problemen dieses Komplexes aus dem Weg gegangen, weil sie sich durch Wachstumsverzicht von selber erledigen sollen. Auf die Probleme des Wirtschaftswachstums bin ich an anderer Stelle eingegangen ("Brauchen wir Wachstum?" ND vom 25. September 2010). Wenn man die Alternative nur im kontradiktorischen Gegensatz "Wachstum – kein Wachstum" verortet, statt im konträren Gegensatz "kein Wachstum auf bisherigen Pfaden – neue Qualität des Wachstums", werden die entscheidenden Fragen wirtschaftlicher Evolution ausgeblendet. Die fds-Autoren behandeln folglich auch nur Probleme der Arbeit und der Arbeitszeitverkürzung, "gerechter Teilung der Arbeit" als Ausweg aus der Arbeitslosigkeit.

An den Anfang ihrer Überlegungen stellen die fds-Autoren ihre Behauptung, Arbeit sei Unfreiheit, die Freiheit beginne erst in der Freizeit, und glauben sich hier im Einverständnis mit Marx, von dem in der Tat zu lesen ist, daß Arbeit das Reich der Notwendigkeit sei, jenseits dessen das Reich der Freiheit beginne. Vielleicht kann man das auch anders deuten als die Autoren. Vielleicht meint Marx hier die Arbeit im Kapitalismus und nicht Arbeit schlechthin. Jedenfalls wendet sich Marx ausdrücklich gegen Arbeit als Reich der Unfreiheit. Er wendet sich gegen Adam Smith, welcher die Arbeit als Fluch im Gefolge menschlicher Erbsünde sieht, als Verlust von Freiheit und Glück, weil von Ruhe. "Daß das Individuum ‚in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit’ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fern zu liegen." Daß Arbeit auch "Betätigung der Freiheit, Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts" sei, eben "reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A. Smith ebenso wenig" (MEW, Bd. 42, S. 512). Die Qualitäten in der Arbeitswelt, deren progressive Veränderungen, die "Humanisierung der Arbeit" müssen wichtige Anliegen der Sozialisten bleiben.

Auch Verkürzung der Arbeitszeit bleibt ein wichtiges Ziel. Aber wegen ihres Eigenwertes und nicht wegen des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit, wie die fds-Autoren meinen. Erstens ist heute genügend Arbeit für alle da; würde alle dringend zu verrichtende Arbeit auch geleistet, hätten wir akuten Arbeitskräftemangel. Zweitens würde Arbeitszeitverkürzung das kapitalistische Übel der Arbeitslosigkeit keineswegs ausrotten. Würden alle Arbeitslosen plötzlich auswandern, ergäbe sich nur ein zeitlich begrenzter Beschäftigungseffekt. Die von Marx begründete Tendenz zur "Überbevölkerung", "Reservearmee" würde mit normaler kapitalistischer Entwicklung wieder "nachwachsen". Und zwar nicht, wie Rohstoffe nachwachsen, sondern wie der einer Eidechse ausgerissene Schwanz wieder nachwächst.

Den Beitrag von Prof. Dr. Harry Nick im Heft 11 "Was/wer ist Kapitalismus? Fds versus Marx" haben wir mit Zustimmung des Autors der Web-Seite von Harry Nick entnommen: www.harrynick.de – dort unter "Aktuelles". Auf der Seite findet man neben zahlreichen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten auch sämtliche Kolumnen von Harry Nick, die vierwöchentlich seit September 1998 im ND erschienen sind.

 

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2010-07: Keine Union, kein Segen: Die »Währungsunion« vor 20 Jahren

2009-10: Unterschiedliche Verläufe, ähnliche Merkmale, dieselben Ursachen

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2012-01: Harry Nick: Ökonomiedebatten in der DDR