Was im Lutherjahr fehlte: Der Streit um den Frieden zwischen Luther und Erasmus
Horsta Krum, Berlin
Wenn es etwas in den menschlichen Angelegenheiten gibt, wo es sich ziemen würde, zögernder vorzugehen, ja was man auf alle Fälle meiden und verbannen sollte, dann ist das gewiss der Krieg; denn keine andere Sache ist wohl gottloser, unheilvoller, weitreichender verderblich, zäher festsitzend, abscheulicher und insgesamt für den Menschen, um nicht zu sagen für den Christen, entwürdigender. [1]
Das schreibt Erasmus 1515, zwei Jahre vor dem Thesenanschlag, falls er denn so stattfand. Als noch niemand von Martin Luther sprach, war Erasmus von Rotterdam bereits ein anerkannter Gelehrter. Sein Geburtsjahr liegt zwischen 1464 und 1469, also war er mindestens vierzehn Jahre älter als Luther.
Die Sorge um den Frieden hat Erasmus ständig beschäftigt. Bekannt wurde er damals durch »Die Klage des Friedens« (Querela pacis), die sich an die Herrscher richtete, und durch seine »Adagia«, eine Zitatensammlung von griechischen und lateinischen Redewendungen. Manche hat er ausführlich kommentiert und als eigenständige Schrift herausgebracht, so im Jahre 1515 das Adagium Nr. 3.001: »Dulce bellum inexpertis«. Ihm liegt das Zitat des griechischen Dichters Pindar (etwa 520 bis 446 v.u.Z.) zugrunde: »Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen. Doch wenn er naht – über die Maßen erschrickt das Herz des, der ihn kennt.«
Diese Schrift ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Krieg und für den Frieden.
Erasmus führt zunächst das biologische Argument an: Die Tiere haben eine Waffe, mit der sie angreifen, sich verteidigen und schützen können: Zähne, Klauen, schnelle Beine, ein Fell, das sie schützt und auch tarnt usw. Einzig den Menschen erzeugt die Natur nackt, schwach, zart, wehrlos mit weichem Fleisch und glatter Haut. Nichts kann man an den Gliedern sehen, was für den Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre … Er ist als einziges Lebewesen ganz für Freundschaft geboren, die hauptsächlich durch gegenseitige Dienste zustande kommt und Bestand hat. Demnach will die Natur, dass ein Mensch das Geschenk des Lebens nicht so sehr sich selbst als vielmehr dem Wohlwollen gutschreibe, dadurch würde er sich nämlich klarmachen, für Güte und enge Verbundenheit bestimmt zu sein.
Wie ist es gekommen, dass Menschen Gewalt anwenden? Von den schädlichen wilden Tieren pflegte man zum unschädlichen Vieh überzugehen. Es wurde unter den Schafen gewütet, man wütete unter den Hasen, wegen keines anderen Vorwurfs, als dass sie essbar seien. Man mäßigte sich auch nicht vor dem Haus-Ochsen, der mit seinem Schweiße lange Zeit die undankbare Familie ernährt hatte; keine Vogel-, keine Fisch-Art bleibt verschont … Die Gewohnheit machte es möglich, dass die Härte gegen jede Art von Lebewesen nicht wahrgenommen wurde, wofern man sich nur des Menschenopfers enthielt.
Dann beschreibt Erasmus, wie aus Kämpfen eines Mannes gegen einen anderen Stammeskämpfe wurden. Was jetzt ein Raubzug ist, wurde bald ein Krieg … Während der Umgang mit der Roheit wächst … während die Ehrsucht mehr auflodert, rüsten sie mit Intelligenz ihren Wahn zum Kampfe. Kriegsgeräte jeglicher Art werden ersonnen, mit denen sie sich sichern wollen, und Angriffswaffen, mit denen sie den Feind vernichten würden. Bald begannen sie ringsumher, in zahlreicher Schar und bewaffnet, aneinander zu geraten. Und diesem manifesten Wahn fehlte es nicht an Ehrungen … Und so allmählich, als zusammen mit der Kultur das Militärwesen wuchs, begann die Stadt der Stadt, eine Region der anderen Region und Königreich dem Königreich den Krieg zu erklären. Dann, so Erasmus weiter, entstanden die Imperien, die sich aus Gewinnsucht gegenseitig verdrängten.
Erasmus versucht, die Regierenden zu überreden, ja zu verlocken, dass sie sich mit der Friedensarbeit viel mehr Ruhm und Sympathien erwerben können als mit Krieg. Selbst ein Sieg sei mit Entbehrung, mit Leid und Tod erkauft. Du erschöpfst den Wohlstand der Bürger, versetzt die Familien in Trauer. Nicht auf das Kriegsziel sollen sie sehen, sondern auf die vielen Opfer.
Anschaulich und ausführlich beschreibt Erasmus den Krieg, die Verwüstungen, die Verluste, das Leid der Menschen, auch die Strapazen und das Risiko der Soldaten. Der Militärdienst ist nicht nur hart, sondern eine entwürdigende Knechtschaft, ein Kommando in den Tod.
Wenn die Regierenden sich nicht durch ethische Gründe vom Kriegführen abbringen lassen, dann helfen vielleicht Vernunftgründe: Wenn wir uns die Sache ausrechnen wollten und mit rechter Vernunft erwägen, wieviel man für den Krieg bezahlt, wieviel für den Frieden, würden wir feststellen, dass der Friede wohl mit dem zehnten Teil an Sorgen, Strapazen, Beschwerlichkeiten, Gefahren, Kosten und schließlich an Blut herbeigeführt wird. Den Anfang des Krieges haben die Verantwortlichen in der Hand, nicht aber das Ende; denn er sei ein Würfelspiel.
Den Regierenden, die trotz guter Argumente einen Krieg anzetteln, tritt Erasmus mit sehr starkem Vorwurf entgegen: er nennt sie verbrecherisch und spricht sie schuldig.
Wo andere Philosophen und Theologen von »Untertanen« sprechen, gebraucht Erasmus oft das Wort »die Seinen«. Er sieht also die Regierenden wie gute Hausväter, denen die Familie, die Knechte, Mägde usw. anvertraut sind. Die alle haben ein Recht auf Schutz und Hilfe. Ein Verbrechen sei es, das schlimmste Unheil, das es gibt, nämlich den Krieg, über die herbeizurufen, die es am wenigsten wollen und am meisten zu spüren bekommen.
Erasmus: Gegen Kriege im Namen Christi
Bisher hat Erasmus meist als Humanist und Interpret der antiken Denker gesprochen; so besteht noch keine enge Verbindung zu Luther. Aber jetzt spricht der Christ und Theologe Erasmus. Besonders leidenschaftlich argumentiert er gegen die Kriege, die Christen führen und noch schlimmer: gegen die Kriege, die im Namen Christi geführt werden.
Mit dem römischen Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert begannen die Regierenden und auch manche Päpste, Krieg zu führen im Namen Jesu Christi. Theologen segneten diese Kriege ab, beriefen sich u.a. auf den Kirchenvater Augustin (354 bis 430), der sich aber so eindeutig nicht geäußert hatte. Erst das »Decretum Gratiani«, ein juristisches Werk, das um 1140 entstand, bietet die eigentliche Grundlage der christlichen Lehre vom »gerechten Krieg«. Thomas von Aquin (etwa 1225 bis 1274) führte drei Bedingungen für einen gerechten Krieg an: Nicht Privatpersonen, sondern Regierende sollen mit ihrer Autorität über Krieg und Frieden entscheiden; weiterhin muss es einen gerechten Kriegsgrund geben und ein gerechtes Kriegsziel.
Thomas von Aquin wurde heilig gesprochen. Also hat sich die christliche Kirche nie von dem, was er über »gerechte Krieg« schrieb, verabschiedet, auch Luther nicht – im Gegenteil: Der Krieg gegen die aufständischen Bauern und Thomas Müntzer war für ihn »gerecht«.
Aber die ganz großen Feinde, die damals die Christenheit erschütterten, waren die Türken.
Beide, Erasmus und Luther sind sich einig: Die Gefahr, die von den heidnischen Türken droht, soll die Verantwortlichen in Kirche und Staat und das Volk zur Besinnung bringen, zur Buße und zur Besserung. So sollen die Regierenden endlich Unrecht beseitigen, beispielsweise den Zinswucher.
Dann aber argumentieren Erasmus und Luther verschieden. Für Luther gelten Teufel, Papst und Türken in gleicher Weise als Feinde Christi. Die Regierenden mahnt er: »Und wenn ihr nun gegen den Türken zieht, so seid gewiss und zweifelt nicht daran, dass ihr nicht gegen Fleisch und Blut, d.h. gegen Menschen streitet … Wir müssen gegen die Teufel die Engel bei uns haben. Das wird geschehen, wenn wir uns demütigen, beten und Gott in seinem Wort vertrauen … Wir haben den Vorteil, dass wir doch am Jüngsten Tage ewig des Türken, des Papstes, der Welt und aller Teufel Richter und Herren sein werden mit Christus und allen Engeln … Darum führen wir einen gottseligen Krieg gegen die Türken und sind heilige Christen und sterben selig.« [2]
Erasmus aber spricht in einem ganz anderen Geist: Ist denn je bei den Heiden ebenso anhaltend oder grausam Krieg geführt worden wie zwischen den Christen? … Wenn du die heidnische Geschichte zurückverfolgst, wie viele Führer wirst du entdecken, die mit bewundernswertem Geschick Krieg abwendeten … Wir Pseudochristen ergreifen alles als Gelegenheit zum Krieg.
Über die meist gehassten Feinde der damaligen Christenheit, schreibt er: »Mir scheint es nicht einmal zulässig, dass wir wiederholt Krieg gegen die Türken unternehmen. Wahrlich schlecht steht es um die Christliche Religion, wenn ihre Erhaltung von derartigen Schutzmaßnahmen abhängt … Glaubst du, es sei eine christliche Tat, wenn du Ungläubige, wie uns dünkt, niedermetzelst? Die meisten, während sie als große Christen angesehen werden wollen, trachten, den Türken möglichst viel Böses zu tun, und was sie nicht antun können, wird in Verfluchungen angewünscht; in dergleichen Äußerungen ist wenig Christliches zu erkennen … Wir spucken auf die Türken, und so sehen wir uns als vortreffliche Christen an; vielleicht sind wir bei Gott verabscheuenswerter als die Türken selbst.
Damit ist Erasmus einer der ersten, vielleicht sogar der erste überhaupt, der das fest gefügte Feindbild des christlichen Abendlandes in Frage stellt, und damit einen wichtigen Schritt macht aus dem Mittelalter hinaus, aus der Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, in gerecht und ungerecht, in gläubig und ungläubig – einen Schritt, den Luther nie getan hat. [3]
Luther: Dieser Krieg ist unseres Herrgotts
Ihre gegensätzliche Meinung über Krieg und Frieden trugen Luther und Erasmus nicht direkt aus; in ihren Schriften, die sie gegeneinander richteten, thematisierten sie diese Frage nicht – wohl aber trugen sie diese Auseinandersetzung mit ihrer Existenz aus.
Wie Luther prangert Erasmus die Misstände in der katholischen Kirche an: ... dass ein Bischof sich nicht als Bischof ansieht, wenn nicht irgendeine weltliche Gewalt hinzukommt, ein Abt sich zu wenig geehrt fühlt, wenn er das nicht kann, was Tyrannen können ... Was nur immer es bei den Heiden jemals an Habgier, Ehrsucht und Prunk, Hochmut und Tyrannei gab, das imitieren wir, erreichen wir und übertreffen wir.« [4]
Es hätte also nahe gelegen, dass sich beide zusammenfinden; Luther sucht demzufolge die Unterstützung des Erasmus. 1519 schreibt er ihm einen Brief voller diplomatischer Floskeln, wie damals unter Gelehrten üblich. Er nennt sich den »kleinen Bruder in Christo« und bittet um ein Zeichen des Wohlwollens in dem zunehmenden Konflikt mit Rom. Erasmus antwortet noch gewundener, noch diplomatischer, lässt sogar Sympathie durchblicken, aber seine Botschaft ist deutlich: Ich verhalte mich, soweit ich kann neutral, um besser die wieder aufblühenden Wissenschaften fördern zu können, und glaube, dass durch klug gehandhabte Zurückhaltung mehr erreicht wird als durch heftige Einmengung.
Wenn Erasmus über und vor allem zu Luther spricht, gebraucht er immer wieder das Wort »tumultus«; das ist Aufstand, Blut, Krieg, was in jedem Fall zu vermeiden sei. Deswegen mahnt er Luther zur Mäßigung. Es entspricht durchaus seinem Wunsch nach Frieden, dass er sich auch an den Papst wendet, an die Bischöfe und Regenten, sie vor allzugroßer Härte warnt, Gespräche vorschlägt, eine Verständigung in christlichem Geiste, denn Luther sei ein redlicher Mann.
Papst Leo X., der vor allem an Kunst interessiert war, nicht aber an Konflikten, ließ den Kardinälen freie Hand. Diese beachteten die Briefe des Erasmus nicht, so dass Luther im Juni 1520 der Bann angedroht wurde.
Der Reichstag zu Worms und damit die Bestätigung des Bannes, ist für den Beginn des Jahres 1521 einberufen. Luthers Landesherr, Friedrich der Weise, ist mit den anderen Kurfürsten eingeladen. Er schwankt zwischen Sympathie für Luther und dem politisch-kirchlichen Risiko, das er mit einer öffentlichen Stellungnahme für Luther eingehen könnte. Als er in den ersten Novembertagen 1520 nach Köln kommt und erfährt, dass Erasmus sich ebenfalls dort aufhält, bittet er ihn zu sich. In 22 »Axiomata« legt Erasmus seine Meinung dar: Luther habe die Nachsicht des Papstes missbraucht; aber die Welt dürstet nach dem wahren Evangelium … ihm soll man sich nicht auf so gehässige Art und Weise entgegensetzen.« Er empfiehlt ein Konzil, um einen »tumultus« zu vermeiden. Am 6. November folgt Friedrich der Weise dem Rat des Erasmus: Gegenüber dem päpstlichen Legaten widerspricht er dem harten Standpunkt Roms und des Kaisers und fordert, dass Luther von unverdächtigen Richtern gehört werde.
Durch seine heimliche Hilfe, so Stefan Zweig, hat Erasmus der Reformation in entscheidender Stunde entscheidende Hilfe geleistet und hat statt der Steine, die sie nachher gegen ihn schleuderte, ein Denkmal verdient.«
Anderweitig äußert sich Erasmus nicht – nicht in einem intimen Gespräch mit seinem Jugendfreund, dem päpstlichen Legaten Aleander und öffentlich erst recht nicht. Seinen Einfluss und die Achtung, die er innerhalb und außerhalb der Kirche genießt, nutzt er nicht. Er zieht sich zurück. Aber nachdem der Reichstag über Luther die Reichsacht verhängt hat, sagt er: Wenn ich selbst dabei gewesen wäre, so hätte ich mein Möglichstes getan, dass diese Tragödie durch ein maßvolles Verfahren beigelegt worden wäre. Und warum ist er nicht dabei gewesen? Lieber dulde ich den Zustand der Dinge, als dass ich neue Unruhe erwecke, deren Richtung oft auf das entgegengesetzte Ziel hinausläuft. Wissentlich war ich und werde nie Anführer oder Teilnehmer eines Aufruhrs sein.
Luther, so geht das Gerücht, sei tot, aber seine Anhänger kämpfen weiter. Sie nehmen es Erasmus übel, dass er sie nicht unterstützt und beschimpfen ihn, während ihn die katholische Fakultät seines Wohnortes Löwen den »Anstifter der Lutherpest« nennt. Erasmus flieht nach Basel, wo er endlich Ruhe zum Arbeiten findet – aber nicht lange. Wieder wird er zur Stellungnahme gedrängt. Es ist ein Unglück, dass dieser Weltsturm mich gerade in einem Augenblick überrascht hat, da ich auf eine durch meine viele Arbeit wohl verdiente Rast hoffen konnte. Warum erlaubt man mir nicht, bloß Zuschauer zu sein bei dieser Tragödie?
Die Protestanten, so Erasmus, berufen sich aufs Evangelium. Einst machte das Evangelium die Wilden sanft, die Räuber wohltätig, die Händelsüchtigen friedfertig, die Fluchenden zu Segnenden. Diese aber (die Lutheraner), wie Besessene, fangen allerhand Aufruhr an und reden den Wohlverdienten Böses nach. Ich sehe neue Heuchler, neue Tyrannen, aber nicht einen Funken evangelischen Geistes.
Albrecht Dürer, der Erasmus einmal persönlich kennengelernt hat, beschwört ihn, fleht ihn an, die evangelische Bewegung anzuführen. Anderseits mahnt der Papst: Denke daran, dass es mit Gottes Hilfe an Dir liegt, wenn ein Großteil derer, welche durch Luther verführt worden sind, wieder auf den rechten Weg kommen, wenn diejenigen, welche noch nicht abgefallen sind, fest bleiben. Erasmus windet sich, sagt zu keiner Seite ja oder nein.
Der todkranke Ulrich von Hutten mahnt nicht und bittet nicht, sondern fordert ihn zornig heraus: Obwohl Erasmus auf der lutherischen Seite stehe, habe er sie verraten. Die Partei der Lutheraner, die du von der Erde verjagen möchtest, wartet auf den Kampf. Erasmus begreift, dass er sich nicht mehr um eine klare Antwort herumwinden kann. Er antwortet heftig in 424 Abschnitten und erklärt, dass er bei seiner Haltung bleibe und nicht in den Konflikt hineingezogen werden will.
Luther hat bis jetzt still gehalten, jetzt aber wirft er ihm Schwäche und Zurückhaltung vor, fordert ihn auf, sich aller beißenden rhetorischen und verblümten Rede zu enthalten … Lass dein Klagen … Dieser Krieg ist unseres Herrgotts, der hat ihn erweckt und wird nit aufhören, als bis er alle Feinde seines Worts zuschanden gemacht hat.
Theologie und humanistisches Menschenbild im Konflikt
Auf Luthers hochmütigen Brief antwortet Erasmus entsprechend: Ich habe besser für das Evangelium gesorgt als viele, welche sich jetzt mit dem Evangelium brüsten. Erasmus ist zu sehr Gelehrter, um auf Luther nicht theologisch-philosophisch zu antworten: Mit seiner Schrift »De libero arbitrio«, vom freien Willen des Menschen, wendet er sich gegen Luthers Lehre, dass der Mensch einzig und allein von Gottes Gnade abhänge und seine guten Werke seien vor Gott sinnlos. Es ist kein schroffes Nein zu Luther, sondern ein Sowohl-als-auch: sowohl der freie Wille des Menschen als auch die Gnade Gottes. Auf diesen Vermittlungsversuch geht Luther nicht ein; Erasmus hat ihn zu schwer mit der Frage getroffen, die nur formal eine rhetorische ist: ob es richtig sei, um einiger paradoxen Behauptungen willen, den ganzen Erdkreis in Aufruhr zu setzen?
Da ist er wieder, der Vorwurf des »tumultus«, des Aufruhrs, des Krieges. Erasmus aktualisiert diesen Vorwurf, indem er von den Bauern spricht: Wir erkennen jetzt die Frucht deines Geistes. Du erkennst die Aufrührer (der Bauern) nicht an, aber sie erkennen dich an. Du widerlegst die allgemeine Überzeugung nicht, dass zu diesem Unheil Anlass gegeben wurde durch deine Bücher.
Luther behandelt Erasmus, wie er alle seine Gegner behandelt: zornig, brutal, schonungslos: Den Satan will ich mit der Feder töten. Er antwortet Erasmus mit der Schrift »De servo arbitrio«, vom unfreien Willen. Der Theologe streitet gegen den Humanisten und dessen Menschenbild.
Etwa ein Jahr später schreibt Luther eine Art Entschuldigung, wahrscheinlich auf Drängen seiner Freunde. Aber Erasmus ist zu tief getroffen. Es geht ihm nicht so sehr um seine Person, es geht um Menschheitsfragen. Also schreibt er: Luther habe ihn zwar einen Atheisten, einen Gotteslästerer genannt; aber viel wichtiger sei, dass durch dein anmaßendes, schamloses und aufrührerisches Verhalten die ganze Welt zerstört wird.
Versöhnung ist nicht möglich zwischen diesen Gegensätzen. Luther, von starkem Körperbau, redet laut mit großen Gesten. Von ihm, so Zweig, gehe Gewalt atmosphärisch aus. Er geht auf den Markt, »schaut den Leuten aufs Maul«, um die Bibel in die Volkssprache übersetzen zu können. Erasmus hält zeit seines Lebens an der lateinischen Sprache fest. Seine Macht äußert sich am stärksten, wo er unsichtbar bleibt, in der Schrift, im Brief, im geschriebenen Wort. Er dankt nichts seinem kleinen, armen vernachlässigten Leibe und alles nur seiner hohen, weiten, seiner weltumfassenden Geistigkeit.
Luther musste Erasmus als unentschlossen, glatt, nachgiebig, sogar feige empfinden. Im tiefsten Wesen des Erasmus war etwas, das Luther, und im tiefsten Wesen Luthers etwas, das Erasmus elementar aufreizen musste.
Schon damals reichte ihr Konflikt über Landesgrenzen hinaus. Heute steht das Überleben der Menschheit auf dem Spiel, wenn der Konflikt zwischen Luther und Erasmus nicht zugunsten des Friedens entschieden wird.
Anmerkungen:
[1] Erasmus von Rotterdam, Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen, München 1987. Die Zitate des Erasmus, die aus dieser deutschen Ausgabe stammen, sind kursiv gedruckt. 1516, ein Jahr später als die Schrift des Erasmus von Rotterdam, erscheint die »Utopia« des Thomas Morus, die dieser Schrift nahe steht.
[2] Martin Luther, Ausgewählte Schriften im Insel-Verlag, 4. Band, München 1982, S. 275 ff.
[3] Die Selbstbezeichnung westlicher Länder als »Wertegemeinschaft«, die Klassifizierung anderer als »Schurkenstaaten«, die Verhängung von Sanktionen usw. – was bedeuten sie anderes als das Beharren, mit Luther, auf mittelalterlichen Positionen, die Erasmus überwunden hatte?
[4] Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, 2016, Frankfurt/Main (Ersterscheinung 1934); Alle folgenden Zitate sind dort ab der Seite 107 zu finden.
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