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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Was bedeutet Sicherheit heute?

Dr. Werner Knoblich, Dresden

 

Offensichtlich nimmt die Debatte in der Linken angesichts der dramatischen nationalen und internationalen Veränderungen sowie der prekären Situation der Partei selbst an Fahrt auf. Wichtig ist, dass sich die Diskussion nicht auf einen kleinen Zirkel beschränkt, sondern in der Breite der Partei geführt wird. Ausschlaggebend für eine zielführende Diskussion erscheint mir ihre Grundierung durch eine dialektisch-materialistische Analyse. Gerade die präzise Wahrnehmung sich verändernder Bedingungen, das Erfassen der vielfältigen Wechselwirkungen in der weltweiten Entwicklung wurden anscheinend sowohl von Leitungsgremien als auch von vielen einfachen Mitgliedern zugunsten tagesaktueller Probleme und persönlicher Vorlieben vernachlässigt. Die Parteiorganisationen brauchen dringend mehr Klarheit und Orientierung für ihre Positionierung in den aktuellen Auseinandersetzungen. Die angestoßene Debatte kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Meines Erachtens sollte den für das Verständnis der dynamischen Veränderungen wichtigen Begriffen mehr Beachtung geschenkt werden, damit nicht eine Situation entsteht, in der wir zwar die gleichen Wörter verwenden, aber jeder etwas anderes damit meint. Ein solcher zentraler Begriff scheint mir »Sicherheit« zu sein. Was ist Sicherheit? Was bedeutet sie für wen? Auf welche Sachverhalte und Zusammenhänge bezieht sie sich? Ist unser Sicherheitsverständnis noch auf der Höhe der Zeit?

Äußere Sicherheit durch Interessenausgleich

Gerade angesichts des militärischen Konflikts in Europa stellt sich dringend die Frage, auf welche Weise eine Situation herbeigeführt werden kann, in der alle Völker ein sicheres Leben führen können. Eines ist klar, ein Sicherheitsdenken, das ausschließlich auf militäri­schen Logiken in Begriffen wie Sieg oder Niederlage, Herrschaft oder Unterordnung fußt, entspricht nicht mehr den heutigen Erfordernissen. Deshalb wird die Orientierung auf einen »Siegfrieden« im Ukrainekrieg, die von unterschiedlichen Kräften forciert wird, keine Lösung bringen können, die für alle Konfliktparteien Sicherheit gewährleistet. Im konkreten Fall wäre ein »Kompromissfrieden« die einzige vernünftige Lösung, die einen Ausgangs­punkt für eine weitergehende Annäherung und einen dauerhaften Frieden schaffen könnte.

Der Sicherheitsbegriff darf nicht mehr länger von militärischer Stärke her definiert werden, sondern gerade in diesem Fall durch einen Interessenausgleich, der die Sicherheitsinter­essen aller Konfliktparteien berücksichtigt. In diesem Sinne sollte auch das Bestreben der Linken unabhängig von persönlichen Sympathien nicht auf Sieg oder Niederlage eines der Konkurrenten gerichtet sein, sondern ausschließlich auf einen baldigen Friedensschluss orientieren. Der kann keineswegs durch eine intensivierte Aufrüstung und umfassende Waffenlieferungen jeder Art erreicht werden, deren Effekt nur darin bestehen würde, den Krieg und damit das Leiden der ukrainischen Bevölkerung unerträglich zu verlängern sowie das Ausmaß der Zerstörungen zu vervielfachen. Auch eine Weiterführung und Verstärkung der umfassenden Wirtschaftssanktionen als eine andere Art der Kriegführung, gerichtet auf die »Ruinierung« einer Volkswirtschaft, können in der erforderlichen kurzen Zeitspanne kaum wirksam werden, sondern werden nur auf lange Zeit den nötigen Neuaufbau der wechselseitigen Beziehungen erschweren, wenn nicht unmöglich machen.

Notwendig sind umfassende diplomatische Initiativen, die Verstärkung des politischen Drucks von Politik und Zivilgesellschaft auf die Verantwortlichen zur raschen Beendigung des Krieges. Zu beachten ist, es kann nur dann einen dauerhaften Frieden geben, wenn die Sicherheitsbedürfnisse beider Seiten berücksichtigt werden.

Generell ist der Ausbruch aus der militärischen Logik erforderlich. Krieg kann heute nicht mehr als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet werden, sondern nur als Abschied von jeder vernunftgeleiteten Politik, als Weg, der in ein atomares Inferno führen kann und vielleicht auch wird.

Am Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts öffnete sich ein sogenanntes Fenster der Möglichkeiten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation bot die Möglichkeit der Überwindung der auf unverein­bare Weltanschauungen gegründeten Konfrontation der verfeindeten Staaten und Blöcke. Es gab für eine historisch außerordentlich kurze Zeit die Chance, in Europa eine gemein­same und umfassende Sicherheitsarchitektur zu schaffen.

Die Wirklichkeit sah anders aus: Die NATO expandierte Zug um Zug in Richtung der russi­schen Westgrenze und verletzte damit tief verwurzelte russische Sicherheitsbedürfnisse. Russland reagierte mit der Entwicklung neuer Waffensysteme und der Reaktivierung groß­russischer Bestrebungen nach Erhalt bzw. Ausbau einer ungeteilten Einflusszone auf dem Territorium der einstigen Sowjetunion unter Einschluss auch militärischer Mittel. Die sich beschleunigende Konfrontation verschärfte unvermeidlich den Konflikt bis hin zum offenen Ausbruch des Krieges.

Diese Entwicklung vollzog sich für aufmerksame Beobachter sichtbar und nachvollziehbar. Dennoch kam die Invasion der Ukraine durch das russische Militär für die meisten überra­schend. Zu lange hat sich wohl auch die Linke vom Prinzip Hoffnung leiten lassen. Festzu­halten ist, dass »rote Linien« eben keine leeren Drohungen sind, sondern letzte Warnzei­chen vor der Katastrophe.

Nach Überraschung, Entsetzen und Ratlosigkeit sollte nunmehr auch auf Seiten der Linken nüchternes Kalkül einziehen. Kurzatmige, überemotionalisierte Schlussfolgerungen, ein Einschwenken in den sogenannten Mainstream sind irreführend. Ein nicht wiedergutzu­machender Fehler der Linken wäre, die von Bundeskanzler Scholz angekündigte unge­hemmte Aufrüstungsdynamik der Bundeswehr bzw. die Erhöhung des Rüstungsbeitrags auf zwei Prozent des BIP zu unterstützen. Hier kann es nur ein klares Nein geben.

Die Linke muss deutlich machen, dass die Welt ein neues Wettrüsten nicht mehr verkraften kann. Herausforderungen wie fortschreitender Klimawandel mit bisher ungekannten Trockenperioden und Überschwemmungen, Artensterben, Abholzung der verbliebenen Regenwälder, auftauende Permafrostböden, abschmelzende Gletscher und Inlandeisberge, Ressourcenknappheit, Finanz- und Wirtschaftskrisen, Überschuldung einer zunehmenden Anzahl von Ländern und nicht zuletzt auch immer häufigere Pandemien bei unzureichender Entwicklung des Gesundheitswesens zwingen zum Umdenken und zur Konzentration aller Kräfte und Mittel auf die Abwehr und Minderung der Gefahren. Die Zeit sollte ein für allemal vorbei sein, in der die Menschheit Ressourcen in Größenordnungen für destruktive Zwecke vergeuden konnte.

Für soziale Sicherheit im Innern

Allerdings erschöpft sich die Verantwortung der Linken nicht in einer auf Frieden gerichte­ten Außenpolitik. Auch innenpolitisch muss es eine klarere Orientierung geben, eine Orien­tierung weg von Selbstbespiegelung und Eifersüchteleien hin zu eingreifender Politik im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung. Auch hierbei ist der Begriff der Sicherheit zentral. Gerade die soziale Sicherheit liegt besonders im Interesse aller lohnabhängigen Beschäftigten. Soziale Sicherheit umfasst etwa die Sicherheit des Arbeitsplatzes, einer bezahlbaren Wohnung, eine ausreichende gesundheitliche Versorgung, Sicherheit bei Krankheit und im Alter. Soziale Sicherheit gewährleistet Stabilität in vielfältigen Lebens­bereichen, ist Grundlage einer gelingenden individuellen und kollektiven Lebensgestaltung.

Zu beachten ist besonders, dass Parteien und Bewegungen in der Öffentlichkeit bestimmte Kompetenzen zugeschrieben werden. Solche Zuschreibungen können auch das Wahlver­halten vieler Bürger in starkem Maße beeinflussen. In der Nachwendezeit und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts konnte die PDS bzw. DIE LINKE, von einer hohen sozia­len Kompetenz ausgehend, bei Wahlen relativ erfolgreich sein. Es scheint allerdings, dass dieser Vertrauensvorschuss aufgebraucht ist. Das Vertrauen der Wähler in die Partei muss neu errungen werden.

Komplexe Aufgabe für die Linke

Problemfelder, in die sich die Linke einbringen kann, gibt es reichlich. Sie reichen beispielsweise von der Unterstützung gemeinnützigen Wohnungsbaus und von Mieter­initiativen zur Enteignung großer Immobilienkonzerne, über die Förderung gewerkschaftli­cher Initiativen zur Rüstungskonversion, über die Umgestaltung des Verkehrssektors hin zu mehr öffentlichem Nahverkehr und zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, bis zu Initiativen zur dezentralen nichtfossilen Energieproduktion und zum Übergang zu einer natur- und tierfreundlichen Landwirtschaft. Dies alles weiter auszuführen würde den Rahmen dieses Beitrages übersteigen.

Keine dieser Aufgaben ist von der Linken im Alleingang zu erfüllen. Dazu braucht es vor allem Bündnispartner. Aber Bündnispartner sind nur zu gewinnen, wenn Vertrauen in die Zuverlässigkeit und die Kooperationsfähigkeit der Linken besteht. Hier ist in der jüngeren Vergangenheit viel Potential verschenkt worden. Es gilt besonders die Gemeinsamkeiten mit den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Bewegungen zu erschließen und übereinstim­mende Interessen auf gemeinsame Ziele auszurichten.

Das bedeutet für die Linke nicht, in den verschiedenartigen Bewegungen aufzugehen. Sie hat dabei eine komplexe Aufgabe zu bewältigen. Sie muss verdeutlichen, dass ihre Aktivi­täten sowohl auf eine Erhöhung der sozialen Sicherheit und der Lebensqualität in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft gerichtet sind als auch gleichzeitig eine über den Status quo hinausgehende Perspektive aufzeigen, die die Grenzen des Kapitalismus überschreitet und langfristig auf seine Ablösung durch eine sozialistische Gesellschaft orientiert.