Warum und wie feiert die politische Klasse der BRD den 17. Juni?
Prof. Dr. Horst Schneider, Dresden
"Wer die Geschichte erst 1989 oder kurz zuvor beginnen lässt, kann nicht anders als gedanklich zu kurz zu springen" (Willy Brandt) [1]
Willy Brandts Bemerkung im Titel dieses Textes gilt auch für das offizielle Gedenken in der BRD an den 17. Juni 1953. Der Fakt: Von 1954 bis 1990 wurde jenes Tages, der seine Spuren in der DDR hinterließ, mit Reden im Bundestag gedacht, die von ungezählten Medienreaktionen begleitet wurden. Der Leser merke auf: das Ereignis, dessen gedacht wurde, lag in einem anderen Staat, dessen Souveränität zu achten war, durch die BRD spätestens nach dem Grundlagenvertrag von 1972 und der gleichzeitigen Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973. Es galt das Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Wie war das jahrzehntelang möglich? Warum organisierte die BRD "staatlich verordnete" Gedenkfeiern am 17. Juni, die zu Ritualen mutierten?
Dietmar Schiller informiert uns über das "Verhältnis von öffentlicher Erinnerung und politischer Kultur" [2]: "Die wichtigsten politischen Funktionen, die nationale Feier- und Gedenktage erfüllen sollen, sind Staatsintegration, Identifikation mit dem politischen System, Konsensstiftung, Erschaffung von Massenloyalität und Stabilitätssicherung. Die Frage ist also: Wie konnten die Feiern im Bundestag und das sie begleitende Medienecho die genannten ‚Funktionen’ erfüllen helfen?" Versuchen wir, die Frage zu beantworten, wobei wir uns von Alexander Gallus helfen lassen. [3]
Das Gesetz, das den 17. Juni zum "Nationalfeiertag des deutschen Volkes" erhob, war vor allem ein Kind der SPD und Willy Brandts und trat bereits am 4. August 1953 in Kraft. (Inzwischen wissen wir, wie lange die Korrektur manchen Gesetzes erfordert.) Damit waren andere Vorschläge vom Tisch, z.B. den 23. Mai 1949 als Verfassungstag zu würdigen (Annemarie Renger) oder an den 18. März 1848 zu erinnern (Heinrich Albertz).
Allerdings entstand die "Gefahr", dass der 17. Juni von vielen, nicht zuletzt in Berlin, als zusätzlicher Feiertag genutzt würde. Mit dem rasch, gegen den Protest der Kommunisten, verordneten Feiertag entstand ein Konflikt, der bis heute andauert. Die SPD betrachtete die "Wiedervereinigung" als höchste Priorität und verwendete ihre Interpretation des 17. Juni als politische Waffe gegen die Politik Adenauers. Die CDU deutete den 17. Juni als Bestätigung ihrer Politik der Westintegration. Die Westdeutschen sollten die Ereignisse als Widerstand der ostdeutschen "Schwestern und Brüder" gegen das kommunistische Regime und dessen Totalitarismus wahrnehmen. Die unterschiedlichen Interpretationen spiegelten sich auch in den Gedenkreden wider.
In den Jahren von 1954 bis 1967/68 waren die Reden am 17. Juni im Bundestag jeweils vor allem Ausdruck und Instrument des Kalten Kriegs. Sie folgten der "roll back"-Konzeption, in der für die DDR keine Zukunft vorgesehen war. [4] Ende der fünfziger Jahre waren vor allem Intellektuelle, darunter mehrere Historiker, die Festredner, Franz Böhm 1954, der Erzkonservative Historiker Gerhard Ritter 1955, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier 1956, der Philosoph Theodor Litt 1957, der Christsoziale Hanns Seidel 1958, der Historiker Werner Conze 1959, Ulrich Mann 1960, der Rechtsaußen Helmut Thielecke 1962, der Staatsrechtler Hans Peters 1963, der Historiker Theodor Schieder 1964, sein Historikerkollege Karl Erdmann folgte 1965.
Obgleich es in jeder Rede Nuancen gab, darf wohl ein Satz Schieders als roter Faden der Reden der ersten zehn Jahre nach dem 17. Juni 1953 gelten: "Es muss dabei bleiben: Die deutsche Teilung hat keine Wahrheit in der deutschen Geschichte und in der Geschichte Europas, sie ist eine von außen aufgelegte Last. Sie darf sich daher auch keine Wahrheit durch Gewohnheit, Nachlässigkeit, durch Anpassung an äußeren Zwang oder durch Resignation erborgen." [5] Die Sache war für Schieder also einfach: Die Existenz der DDR widersprach der "historischen Wahrheit". Das wussten damals einige DDR-Bürger noch nicht.
Als Theodor Schieder die Rede hielt, war die Losung Brandt/Bahr vom "Wandel durch Annäherung" (1963) schon in die Welt gesetzt und beeinflusste in einem widerspruchsvollen Prozess auch die Politik. Nach der großen Koalition entstand die Brandt-Regierung, die den Kurs auf Entspannung steuerte, auch gegenüber der DDR. Die friedliche Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten trat auf die Tagesordnung der Geschichte.
Mit der Ära Brandt begann eine neue Phase der Wahrnehmung des 17. Juni. Die Friedenssicherung hatte Vorrang vor der Forderung nach der Einheit. Am 17. Juni 1968, dem 15. Jahrestag des "Volksaufstands", fand kein Festakt statt. Natürlich wirkte sich die neue "Wahrheit" auch auf die Reden zum 17. Juni aus. Schon am 17. Juni 1969 trat Walter Scheel dafür ein, den "staatlichen" oder "quasistaatlichen Charakter" der DDR anzuerkennen. [6]
Das Ritual zum 17. Juni lockerte sich, z.B. fand 1973 abermals keine Gedenkveranstaltung statt, 1974 konnten sich Regierung und Opposition über die Gestaltung nicht einigen, und auch in den Folgejahren fielen die Reden aus unterschiedlichen Gründen wiederholt aus. Der Streit, ob und wie die Gedenkveranstaltungen weitergeführt werden sollten, spitzte sich zu.
Das spiegelte sich auch in den gehaltenen Reden, so denen von Wolfgang Mischnik 1975 und Helmut Schmidt 1977, wider. Schmidt resümierte, dass das Pathos der Reden der früheren Jahre bei Jüngeren eher zu Gleichgültigkeit geführt habe. [7]
In den achtziger Jahren kam es zu einer Art Renaissance der Feiern zum 17. Juni. Einer der Gründe war, dass die Kohl-Regierung die Erinnerung an den 17. Juni als "staatlich verordnete" Rechtfertigung für ihre Politik brauchte, als offiziell die von Brandt vorgezeichnete Politik gegenüber der DDR fortgesetzt zu werden schien. Der "Rechtsruck" der Erinnerungspolitik in Kohls Regierungszeit war unübersehbar.
Redner in den achtziger Jahren waren u.a.: Johann Baptist Gradl, der sich 1989 als "Zeitzeuge" drapierte (das BRD-Fernsehen verweigerte die Übertragung der Rede), der damalige Hamburger Bürgermeister Herbert Wichmann 1982, der Ex-Bundespräsident Karl Carstens 1983, Gerhard Schröder 1984, Gerhard Leber 1985, Walter Scheel (ein zweites Mal) 1986, der aus Deutschland emigrierte USA-Historiker Fritz Stern 1987, der Jurist Roman Herzog 1988.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts erklärte u.a.: "Natürlich ist die DDR heute kein stalinistischer Staat mehr, natürlich gibt es heute dort die oft zitierte Identifikation mit dem Staat – wenn auch nicht mit dem System – und das kann ja, wenn man vernünftig denkt, auch gar nicht anders sein. Die Deutschen in der DDR betrachten diesen Staat, seinen bescheidenen Wohlstand und seine Rolle in der Welt als ihre eigene Leistung, auf die sie mit Recht stolz sein können, schon deshalb, weil ihr politisches System den Aufstieg anders als das unsere nicht gefördert, sondern ständig behindert hat. Sie hatten es also schwerer als wir, und entsprechend größer ist auch ihre Genugtuung über das, was sie geschaffen und geleistet haben." [8] Hat Roman Herzog als Bundespräsident je Ähnliches gesagt?
1989 war Erhard Eppler Festredner. Eppler hielt die Rede zwei Tage nach einem Treffen zwischen Helmut Kohl und Michael Gorbatschow. Gorbatschow machte auf einer Pressekonferenz am 15. Juni in Bonn deutlich, dass eine Lösung der deutsch-deutschen Frage im Sinne einer Vereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe. "Die Situation in Europa, die wir heute haben, ist eine Realität." Die Mauer könne nur verschwinden, "wenn jene Voraussetzungen entfallen, die sie ins Leben gerufen haben." Gorbatschow formulierte in diesem Zusammenhang lediglich die vage Hoffnung, "dass die Zeit selbst über das Weitere bestimmen wird."
Helmut Kohl mied das Thema "Wiedervereinigung". In dieser Situation sprach Eppler, der an der Erarbeitung des Dialog-Papiers führend beteiligt gewesen war, über den 17. Juni. Die Ereignisse vom 17. Juni 1953 berührte er nur. Schwerer wog seine Forderung nach einer vorwärtsgewandten und von überholten Begriffen geläuterte Politik. Eppler plädierte zum Beispiel dafür, die Frage des künftigen Verhältnisses beider deutscher Staaten vom Begriff der "Wiedervereinigung" zu trennen. Es gelte, deutlich zu machen, "dass wir nicht Vergangenes restaurieren, sondern Neues schaffen wollen, und zwar gemeinsam mit unseren Nachbarn". Erhard Eppler forderte vor dem Parlament, die Situation so anzuerkennen, wie sie ist, und die Existenzberechtigung der DDR nicht in Frage zu stellen. Dennoch wies er all jene in die Schranken, die die Einheit des Landes schon abgeschrieben hätten. Er wandte sich aber auch gegen den Begriff vom "Verrat" in diesem Zusammenhang: "Weder hat Adenauer die deutsche Einheit noch Brandt die deutsche Ostgebiete verraten", stellte er fest und zog so scheinbar einen Schlussstrich unter den bis dahin prägenden Streit in der Bewertung der Deutschlandpolitik Adenauers und Brandts.
Der Applaus aller Fraktionen des Bundestages war ihm sicher. Die Rechtsaußen Alfred Dregger und Wolfgang Bötsch gratulierten Eppler persönlich. Die Rede Erhard Epplers am 17. Juni 1989 hätte in der DDR alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Eppler forderte dazu auf, darüber nachzudenken, "was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet". [9] Den Schlusspunkt der Bundestagsreden zum 17. Juni setzte 1990 Manfred Stolpe. Er betrachtete sich selbst offenbar als die Personifizierung der "Opposition" in der DDR und sah den Herbst 1989 in der Kontinuität des 17. Juni und als seine siegreiche Krönung. [10] Die Sichtweise Stolpes ist ein Grundzug der Wertungen des 17. Juni, weil sie in das Totalitarismus-Schema passt: Die gute BRD hat gegen die böse DDR gekämpft und gesiegt.
Damit schließt sich der Kreis. Wir sind der Antwort auf die Frage näher gekommen: Warum wurden in der BRD Ereignisse zum Anlass genommen, den 17. Juni zum nationalen Gedenktag zu erklären?
- Er hat zur "Staatsintegration" der BRD-Bürger auf antikommunistischer Grundlage beigetragen, was dadurch erleichtert wurde, dass die herrschende Ideologie von vor 1945 nicht überwunden werden musste.
- Er hat westlich der Elbe die "Identifikation mit dem politischen System" gefördert, indem den Bürgern die "Alternative" Demokratie-Diktatur, Freiheit-Sozialismus suggeriert wurde.
- Er hat zur antiautoritären "Konsensstiftung" in der politischen Klasse der BRD beigetragen und kritische Stimmen isoliert und eliminiert.
- Er hat "Massenloyalität und Stabilitätssicherung" innerhalb der BRD befördert.
Damit hat das Gedenken an den 17. Juni im Bundestag und in den Medien die Kriterien erfüllt, die Dietmar Schiller formuliert hatte.
Anmerkungen:
[1] Willy Brandt: Dresdner Rede am 23. Februar 1992, S. 3.
[2] Dietmar Schiller: Politische Gedenktage. Zum Verhältnis von öffentlicher Erinnerung und politischer Kultur. Aus Politik und Zeitgeschichte 25/1993, S. 32.
[3] Alexander Gallus: Der 17. Juni im deutschen Bundestag von 1954 bis 1990. Aus Politik und Zeitgeschichte 25/1993 S. 12f.; Myriam Renaudot: Der Siebzehnte Juni. In Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR, München 2009 S. 332f.
[4] Texte der Reden in den Bundestagsprotokollen und in den Bulletins des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung.
[5] Rede Schieders in: Bulletin… 96/1964, 20. Juni 1964 S. 896.
[6] Deutscher Bundestag 5. Wahlperiode Bd. 70, S. 13284 B.
[7] Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode Bd. 101, S. 2453 B.
[8] Bulletin… 84/1988, S. 794.
[9] Alexander Gallus a.a.O., S. 21.
[10] Ebenda.