Warum die Erinnerung an den Tag der Befreiung so wichtig ist
Stephan Jegielka, Berlin
Vor kurzem fiel mir beim Kramen in meinem Schreibtischfach ein Plakat in die Hände, das ich in der 4. Klasse im Schulunterricht in der DDR zum 40. Jahrestag der Befreiung anfertigte. Ein großer roter Stern aus Filz ist darauf geklebt, dazu berühmte historische Fotos arrangiert; eines politischen Kommissars der Roten Armee beim Sturmangriff, einer angreifenden Schützenreihe hinter den vorwärts stürmenden T-34-Panzern, kämpfender Helden an der Partisanenfront sowie das berühmte Monument im Treptower Ehrenmal. Als Überschrift prangt »Oсвобождение – Befreiung«, zwischen beiden Wörtern leuchtet ein roter Stern. Dazu sind zwei Textkästen gesetzt, mit den Worten »Rot ist die Fahne, rot wie das Blut, 40 Jahre Frieden, Dank den Sowjetsoldaten für ihren Heldenmut« und »Die Tapferen sterben nicht«. Ich weiß nicht mehr, welche Note ich dafür bekam, jedenfalls kam die Gestaltung und Umsetzung, das merkt man dem Plakat heute noch an, von Herzen.
Bevölkerung will Frieden und Freundschaft mit großem Nachbarn
Es gab natürlich viele solcher zu DDR-Zeiten durch Schüler gefertigte Plakate oder andere Methoden der Vermittlung eines positiven Bezuges zu diesem historischen Tag in der deutschen Geschichte. Und anders als heute in der bürgerlichen Presse behauptet, wurden sie mit viel Überzeugung umgesetzt, hatten sie in der Bevölkerung Resonanz und haben sicher bei dem einen oder anderen eine nachhaltige Wirkung. Das zeigen nicht zuletzt die auch noch heute gegenüber Russland überwiegend positiven Stimmungen in der ostdeutschen Bevölkerung, die in Frieden und Freundschaft mit dem großen Nachbarn leben will. Und diese Stimmungen können selbst die bürgerlichen Parteien nicht ignorieren, wie das demonstrative Treffen des CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen Michael Kretschmer mit dem Präsidenten Russlands Wladimir Putin kurz vor der sächsischen Landtagswahl 2019 zeigte, und das wohl die entscheidenden Prozente für den Wahlsieg der CDU einbrachte.
Das über die Grenzen der DDR hinaus berühmteste Symbol der Befreiung Deutschlands vom Faschismus ist das Hissen der Sowjetflagge auf dem Berliner Reichstag am 2. Mai 1945. Denn von Befreiung sprach man auch westlich der Elbe, offiziell spätestens seit der Bundestagsrede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985. In der BRD gab es vor 1989 eine breitere russlandfreundliche Stimmung in der Bevölkerung als heute allgemein angenommen wird, und die war nicht auf die »üblichen Verdächtigen« beschränkt. Das waren auf meine Frage bei einer Veranstaltung der LINKEN in Berlin Mitte, an den damaligen russischen Botschafter in Deutschland Wladimir Grinin zu dieser Thematik, zum Beispiel die ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Das mag eine Überraschung sein. Aber die Soldaten der Wehrmacht, die am besten wussten, was der deutsche Militarismus in der Sowjetunion angerichtet hatte, konnten wohl in der Zeit der Gefangenschaft sehr gut einschätzen, was es bedeutete, dass die Sowjetunion in ihrer Politik gegenüber Deutschland nicht auf Rache setzte, sondern ihre Politik an der Richtlinie ausrichtete: »Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleibt.« [1] Ihnen konnte man offensichtlich nicht mehr mit der antirussischen Demagogie kommen, die in der BRD seit Konrad Adenauer bis heute politischer Alltag ist.
Für die hiesigen Herrschenden, die letztendlich transatlantisch ausgerichtete Elite, sind die gegenüber Russland positiven Stimmungen natürlich ein Problem. Sie sind von diesem seltsamen »Russlandtick der Deutschen«, so ihr publizistisches Sprachrohr »Die Welt«, geradezu alarmiert. So ergibt eine aktuelle Umfrage, dass 55 Prozent der Deutschen auf die »militärische Hilfe« der USA gerne verzichten würden. 48 Prozent der Deutschen sprechen sich für einen US-Truppenabzug aus der BRD aus, und 54 Prozent der Deutschen setzen auf mehr Zusammenarbeit mit Russland. [2]Mit einer solchen Stimmung an der Heimatfront sind keine Kriege Richtung Osten zu führen, sind der aktuelle Einsatz der Bundeswehr als Speerspitze der NATO-Truppen an der russischen Grenze nicht zu rechtfertigen. So war das nicht von denen gedacht, denen die BRD überhaupt ihre Existenz verdankt. Erinnert sei an die durch den Hochkommissar McCloy 1949 formulierte Erwartung der USA an die künftigen BRD-Regierungen, dass man Washington »ewig dankbar sein sollte«. Erinnert sei an den Vizepräsidenten der Streitkräfte-Kommission des amerikanischen Kongresses Paul Shafer, mit seiner unmissverständlichen Ansage zur zukünftigen Rolle der BRD im transatlantischen Bündnis in Berlin 1948: »die Kraftprobe mit den Russen« sei unvermeidlich. »Die Industrie Westdeutschlands wird rechtzeitig wiederaufgebaut sein, um ihre Rolle bei der Kraftprobe zu spielen«.[3]
Testfelder für Geschichtsrevisionismus
Über 60 Jahre später klingen diese Äußerungen gefährlich aktuell und zeigen angesichts der politischen Entwicklungen, dass die damals durch die USA für die BRD gelegten bis heute gültigen politischen Weichenstellungen, letztendlich die Einbindung in die NATO, eine Konfrontation mit Russland bedeutet. Da die Sowjetunion und das sozialistische Lager in Europa nicht mehr existieren, tritt diese auch für Deutschland fatale Politik in jedweder Beziehung immer offener zu Tage. Und das betrifft letztendlich auch die Geschichtspolitik und somit auch die Erinnerung an den Tag der Befreiung. Die transatlantischen Ideologen haben schon lange begriffen, dass man die Geschichte und Erinnerungen manipulieren, missliebige Symbole und Denkmale beschmutzen und schleifen muss, um Stimmungen im Volk in die ihnen genehme Richtung zu lenken. Da denkt man durchaus langfristig und geht vorsichtig, geht Schritt für Schritt vor. Was man sich in Sachen Geschichtsrevisionismus in der BRD noch nicht offen erlauben kann, dafür hat man Testfelder außerhalb Deutschlands. Zu welcher Politik man mittlerweile bereit ist, zeigt die im Vorfeld des 75. Jahrestages des Sieges über den Faschismus erfolgte Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus durch eine Erklärung des EU-Parlaments. In Tschechien ist ein Streit über den geplanten Abriss eines Denkmals des Befreiers von Prag Marschall Iwan Konew ausgebrochen. Die Stadtbezirksvertretung unter Führung des Bezirksbürgermeisters Kolar beschloss unter fadenscheinigen Gründen den Abriss der Statue. Dagegen gab es heftige diplomatische Proteste Russlands und massive Gegenwehr in der Bevölkerung. Laut einer aktuellen Umfrage lehnen 62 Prozent der Tschechen den Abriss ab, und 55 Prozent befürchten in diesem Kontext eine allgemeine Verfälschung der Geschichte. Und in der Auseinandersetzung Russlands und Polens über die Ursachen des 2. Weltkrieges verstieg sich die US-Botschafterin Georgette Mosbacher zu der ungeheuerlichen Aussage »Hitler und Stalin verabredeten sich, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen«. [4]
In Sachen revisionistischer Geschichtspolitik denkt man zurzeit in der BRD vor allem an die AfD. Dabei haben in den letzten Jahren alle bürgerlichen Parteien ihr den Weg dafür bereitet. Joschka Fischer und Rudolf Scharping fabulierten zur Legitimierung des völkerrechtswidrigen NATO-Angriffs auf Jugoslawien von einem »drohenden Auschwitz«. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach bei einem Besuch am 9. Mai in Moskau in einem Atemzug von den Verbrechen Nazi-Deutschlands und der »verbrecherischen« Politik Russlands bezüglich der Wiedervereinigung mit der Krim. Joschka Fischer versuchte Russlands Politik mit dem Begriff »Jalta 2.0« zu denunzieren, und stellte damit indirekt die Beschlüsse der Antihitlerkoalition über das besiegte Deutschland und die Nachkriegsordnung in Europa in Frage. Muss man sich dann noch wundern, wenn die AfD mit ihrer Aussage, die Hitlerzeit sei ein »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte und der Forderung nach einer »erinnerungspolitischen Wende« auf Resonanz in der Bevölkerung trifft? [5]
Feiertag am 8. Mai!
Letztendlich dienen diese Vorgänge der ideologischen Kriegsvorbereitung der Bevölkerung auf einen Krieg mit Russland. Sie werden daher nicht zufällig von einer aggressiven NATO-Politik gegenüber Russland flankiert, in der Deutschland eine entscheidende Rolle zukommt, wie das NATO-Manöver »Defender 2020« und die aktuellen Vorgänge um »Nord Stream 2« zeigen. Es ist daher richtig, wenn die »junge Welt« feststellt, dass die verhängten Sanktionen der USA zur Verhinderung der Fertigstellung der Gaspipeline auf eine Torpedierung der Gasversorgung Deutschlands insgesamt und somit »auf den heißen Krieg« der NATO gegen Russland zielen. Jede Politik, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland stärkt und somit einen Beitrag leistet, Deutschland aus der NATO-Kriegsfront gegen Russland herauszulösen, muss daher aus der Sicht Washingtons verhindert werden. [6]
Die Partei DIE LINKE, die einzige Anti-NATO-Partei im Bundestag, muss daher gerade im Kontext des 75. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus alles dafür tun, der ideologischen Manipulierung der Bevölkerung durch die Herrschenden entgegenzutreten. Dazu dient die Forderung der Linken, den 8. Mai zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen. Sie organisiert und unterstützt Gedenkveranstaltungen und wird dabei immer daran erinnern, wer die Hauptlast beim Sieg über den Faschismus trug. Sie setzt sich letztendlich für die generelle Pflege der deutschrussischen Beziehungen ein, worin auch die Schulen eine wichtige Rolle spielen. Die Linke fordert daher zu Recht eine entsprechende Förderung der russischen Sprache in Deutschland. [7]
Anmerkungen:
[1] Befehl des Volkskommissars für Verteidigung Nr. 55, Moskau 23. 2. 1942, in: J.W. Stalin: Über den großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Berlin 1951, S. 50.
[2] Der seltsame Russland-Tick der Deutschen, URL: www.welt.de/debatte/kommentare/article204022216/Trotz-Putins-Aggression-Der-seltsame-Russland-Tick-der-Deutschen.html, Stand: 20. 1. 2020.
[3] Provisorische Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 1949, S. 25 – S. 26. Hearings Before Committee on Armed Services of the House of Representatives on Sundry Legislation Affecting the Naval and Military Establishment, Volume I , Illinois 1947, S. 906.
[4] Vereint gegen links, URL: www.jungewelt.de/artikel/363605.vereint-gegen-links.html, Stand: 20. 01. 2020. Umfrage: Tschechen befürchten Geschichtsfälschung, URL: www.radio.cz/de/rubrik/nachrichten/umfragetschechen-befuerchten-geschichtsfaelschung, Stand: 20. 01. 2020. Streit um beschmiertes Konew-Denkmal in Prag, URL: www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/streit-um-beschmiertes-konew-denkmal-in-prag, Stand 20. 01. 2020. Streit um die Vergangenheit, URL: www.tagesschau.de/faktenfinder/russland-polen-putin-101.html, Stand 20. 01. 2020.
[5] Auschwitz-Opfer mahnen Fischer und Scharping, URL: www.abendblatt.de/archiv/1999/article204621747/Auschwitz-Opfer-mahnen-Fischer-und-Scharping.html, Stand 20. 01. 2020. Merkel nennt Annexion der Krim »verbrecherisch«, URL: www.faz.net/aktuell/politik/70-jahre-kriegsende/gedenken-in-moskau-merkel-nennt-annexion-der-krim-verbrecherisch-13585275.html, Stand 20. 01. 2020. Das Ende des Westens, URL: www.sueddeutsche.de/politik/transatlantische-verbundenheit-das-ende-des-westens-1.3289483, Stand 20. 01. 2020. Empörung wegen Gaulands Relativierung der NS-Zeit, URL: www.zeit.de/news/2018-06/03/empoerung-wegen-gaulands-relativierung-der-ns-zeit-180603-99-560879, Stand 20. 01. 2020.
[6] Frechheit siegt, URL: www.jungewelt.de/artikel/369294.frechheit-siegt.html, Stand 20. 01. 2020.
[7] Die Linke: Förderung russischer Sprache in Deutschland wird Beziehungen zu Russland nicht gerecht, URL: deutsch.rt.com/gesellschaft/96059-linke-russisch-forderung-in-deutschland-unzureichend-kleine-anfrage, Stand 20. 01. 2020.
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2019-05: 70 Jahre Ehrenmal Treptow