Vor 80 Jahren: »Brüsseler Konferenz« der KPD
Prof. Dr. sc. Heinz Karl
Auf neuem Wege für den Sturz der faschistischen Diktatur!
Nur einundeinhalb Monate nach dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale [1], vom 3. bis 15. Oktober 1935, tagte in Kunzewo, einem Vorort (heute Stadtteil) von Moskau, die IV. Parteikonferenz [2] der KPD. Die Illegalität der Partei erforderte ihre konspirative Durchführung, weshalb sie öffentlich als »Brüsseler Konferenz« deklariert wurde. Mit Erfolg: den faschistischen Geheimdiensten gelang es nicht, sie aufzuklären. Vom ersten Parteitag der KPD nach 1945, im April 1946, wurde sie ihrer Bedeutung entsprechend als XIII. Parteitag der KPD gewertet.
Die Parteikonferenz war mit der kompliziertesten Situation seit Gründung der KPD konfrontiert: einer bereits fast drei Jahre bestehenden faschistischen Diktatur der imperialistischen Bourgeoisie in Deutschland, die – im Unterschied zu allen anderen politischen Kräften – die KPD nicht als Konkurrenten, sondern als ihren Todfeind bekämpfte. Die Konferenz hatte diese Situation nüchtern und möglichst exakt einzuschätzen, realistisch die Perspektiven zu bestimmen und Schlussfolgerungen für die politische Linie und die praktische Arbeit zu ziehen. Von den 34 Delegierten hatte die Mehrzahl am VII. Weltkongress teilgenommen, einige kamen unmittelbar aus Deutschland – aus Berlin, Sachsen, Köln, Düsseldorf, dem Ruhr- und dem Saargebiet, Frankfurt/Main, Hamburg, Bremen, Danzig und Oberschlesien, 10 hatten bisher dem ZK angehört.
Den Bericht des Polbüros erstattete Wilhelm Pieck, Wilhelm Florin sprach über die konkrete Anwendung der Beschlüsse des VII. Weltkongresses; Walter Ulbricht, Anton Ackermann und Franz Dahlem hielten ergänzende Referate zur Gewerkschaftspolitik, der Jugendpolitik sowie dem Parteiaufbau und der Massenarbeit. Die Beschlüsse und Debatten des KI-Kongresses prägten auch die Parteikonferenz. Eine besonders wertvolle Hilfe war das Auftreten von Palmiro Togliatti als Vertreter des Exekutivkomitees der KI.
Einheitsfrontpolitik ohne Sektierertum!
Ausgehend vom kritischen Herangehen Georgi Dimitroffs an das bisherige Wirken der KI und den neuen Fragestellungen des Kongresses erklärte Wilhelm Pieck, dass es der schwerste Fehler gewesen sei, die Auseinandersetzung mit der Koalitionspolitik und – oft blutigen – antikommunistischen Gewaltpolitik der SPD nicht rechtzeitig »in ein richtiges Verhältnis zu dem Kampf gegen den angreifenden Faschismus [zu] bringen« [3]. Da die faschistische Gefahr nicht in ihrer ganzen Größe erkannt wurde, wurde nicht das Schwergewicht auf die Verständigung mit der sozialdemokratischen Partei und ihrer Führung gelegt, sondern lange Zeit nur eine Einheitsfront »von unten« angestrebt. Das erleichterte es der SPD-Führung, die sich (sowohl aus Konkurrenzgründen, als auch im Interesse ihrer »Koalitionswürdigkeit«) vehement gegen jegliche Zusammenarbeit mit der KPD stemmte, die schließlich direkt an sie gerichteten Angebote als »Manöver« abzulehnen.
In ihrer grundlegenden Resolution »Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur« forderte die Konferenz eine »neue Einstellung zur Sozialdemokratie« und verurteilte Methoden, statt einer Verständigung mit den sozialdemokratischen Organisationen im Grunde kommunistische Mitgliederwerbung zu betreiben oder auf »Entlarvung« auszugehen. »Wir müssen rücksichtslos alle sektiererischen Hemmungen bei der Erfüllung dieser Aufgabe in unseren eigenen Reihen überwinden.« [4] Anknüpfend an die Bemühungen insbesondere Ernst Thälmanns um eine Verständigung mit der SPD in der Antifaschistischen Aktion 1932 und an die Initiative Walter Ulbrichts für einen konstruktiven Dialog mit prominenten Sozialdemokraten wie Siegfried Aufhäuser 1934, erklärte die Parteikonferenz den »Abschluß von Abkommen von Partei zu Partei« für »unerläßlich« [5] und betonte: »Die KPD wird auch weiterhin nichts unversucht lassen, um zu einem Einheitsfrontabkommen mit dem Vorstand der SPD zu kommen.« [6]
Antifaschistische Volksfront!
Die »Brüsseler Konferenz« stellte auch für Deutschland als entscheidende Aufgabe »die Vereinigung aller Gegner des faschistischen Regimes« [7] in der antifaschistischen Volksfront – einem Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, dem städtischen Kleinbürgertum und den Intellektuellen, den in Opposition zum Naziregime geratenden Katholiken, früheren Mitgliedern des katholischen Zentrums und selbst konservativen Kräften aus dem von den Nazis vereinnahmten, faktisch aufgelösten »Stahlhelm«. Die für die antifaschistische Volksfront vorgeschlagenen Forderungen gruppierten sich um zwei Schwerpunkte. Zum einen um die Wiederherstellung demokratischer Rechte und Freiheiten: Organisations-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Befreiung der politi- schen Gefangenen und wegen Verletzung der volksfeindlichen Nazigesetze Eingekerkerten. Zum anderen gegen die faschistische Wirtschafts- und Sozialreaktion: Teuerungsausgleich, bessere Lebensmittelversorgung, Winterhilfe, Wiederherstellung der Arbeitslosen- und Sozialversicherung, Steuer- und Zinserleichterungen für Mittelstand und Bauern, freien Verkauf bäuerlicher Erzeugnisse zu lohnenden Preisen, Beseitigung der Zwangswirtschaft, Rücknahme der Subventionen für Großagrarier und Großindustrielle.
Als Konsequenz der Einheits- und Volksfrontpolitik ergab sich die Frage, was im Falle eines Sturzes der faschistischen Diktatur an deren Stelle treten könnte. Die »Brüsseler Konferenz« erklärte in ihrem Manifest offen, dass es über ihr sozialistisches Endziel »noch Meinungsverschiedenheiten im werktätigen Volke gibt, daß die Mehrheit noch nicht zum Kampf für dieses Ziel bereit ist. … daß sich auch eine Regierung der Einheitsfront oder Volksfront als möglich und notwendig erweisen kann. Jedenfalls soll und wird das werktätige Volk Deutschlands beim Sturz der Hitlerdiktatur selbst über die Regierung entscheiden.« [8]
Ein neuer strategischer Horizont
Nach der »Brüsseler Konferenz« präzisierte die KPD diese Positionierung. Am 16. Juni 1936 übergab sie einer Kommission des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront in Paris von Wilhelm Pieck entworfene Vorschläge für die Ausarbeitung einer politischen Plattform der deutschen Volksfront. Darin formulierte sie als Kampfziel »die demokratische Republik« und untersetzte dieses Ziel durch ein antifaschistisch-demokratisches Aktionsprogramm. [9]
Gegen diese Orientierung der KPD auf eine antifaschistische Volksfront, eine Volksfrontregierung und eine (antifaschistisch-) demokratische Republik – und damit das theoretische Konzept einer antifaschistisch-demokratischen strategischen Etappe – wurden heftige Angriffe unter pseudolinker, vulgärmarxistischer Flagge vorgetragen. Neben teils links-, teils rechtsopportunistischen Splittergruppen und Teilen der SAP kamen sie aus der KPD/Opposition (Brandler-Thalheimer-Gruppierung). So verkündete die von August Thalheimer redigierte Zeitschrift »Der Internationale Klassenkampf«, dass die KPD damit »die besonderen Klasseninteressen u[nd] -Ziele des Proletariats ... den bürgerlichen Klasseninteressen der Kapitalisten ... unterordnet.« [10] Und sie verordnete: »Die Revolution gegen das Hitlerregime kann nur eine sozialistische, proletarische Revolution sein.« [11] Diesen Angriffen auf den von der KPD erzielten bedeutsamen theoretischen Fortschritt lag offensichtlich ein dogmatisches Unverständnis einerseits der Dialektik des Kampfes um Demokratie und Sozialismus, andererseits der relativen Selbständigkeit des Kampfes um Demokratie zugrunde.
Angesichts dieser offenkundigen gewichtigen, neue politische Horizonte eröffnenden Fortschritte in der Entwicklung der Strategie und Taktik der KPD – insbesondere ihrer Einheitsfront- und Bündnispolitik und der Bestimmung des strategischen Ziels – ist es unverständlich, wie K. Kinner und E. Reuter zu der Wertung gelangen können, den Teilnehmern der Konferenz sei diese nur als eine Wende in der Parteiarbeit erschienen [12]. »Diese Hoffnungen auf eine durchgreifende Wende, auf eine weitreichende Erneuerung kommunistischer Politik und Theorie trogen.« [13]
Die von der »Brüsseler Konferenz« vollzogene Wende wurde durch die Wahl einer handlungsfähigen, kooperativen Parteiführung gesichert. Als Mitglieder des ZK wurden Paul Bertz, Franz Dahlem, Leo Flieg, Wilhelm Florin, Fritz Heckert, Paul Merker, Willi Münzenberg, Wilhelm Pieck, Ernst Thälmann und Walter Ulbricht wiedergewählt; erstmals gewählt wurden Anton Ackermann, Walter Hähne!, Elli Schmidt, Herbert Wehner und Heinrich Wiatrek, ebenso die Kandidaten des ZK Wilhelm Knöchel, Wilhelm Kowalski und Karl Mewis. In das Polbüro wurden als Mitglieder Dahlem, Florin, Heckert, Merker, Pieck, Thälmann und Ulbricht gewählt (die ihm schon angehört hatten); als Kandidaten (erstmals) Ackermann und Wehner. Für die Zeit der Inhaftierung Ernst Thälmanns wurde (in seiner Vertretung) Wilhelm Pieck zum Vorsitzenden gewählt.
In der Zeit der »Brüsseler Konferenz« und den folgenden Jahren erzielte die KPD – in tiefgehender selbstkritischer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und Erfahrungen des von ihr zurückgelegten Weges – die wichtigsten theoretischen und politischen Fortschritte ihrer ganzen Geschichte. Darauf fußend, hatte sie den – mit Abstand vor allen anderen politischen Kräften – größten Anteil am antifaschistischen Widerstand und formierte sich 1945 sofort als Massenpartei und zielklarste und aktivste antifaschistische Kraft in ganz Deutschland.
Anmerkungen:
[1] Vgl. H. Karl: Gemeinsam gegen Faschismus und Krieg! In: Mitteilungen der KPF, Hefte 7 und 8/2015. S. 32ff und 17ff.
[2] Unter den Bedingungen der Illegalität war es nicht möglich, einen statutengemäßen Parteitag durchzuführen. Ihr waren die III. Parteikonferenz im Oktober 1932 und der 12. Parteitag im Juni 1929 vorausgegangen.
[3] Wilhelm Pieck: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. V, Berlin 1972, S. 183.
[4] Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 1, Berlin 1981, S. 300/301.
[5] Ebenda, S. 301.
[6] Ebenda, S. 302.
[7] Ebenda, S. 309.
[8] Ebenda, S. 324.
[9] W. Pieck, Bd. V, S. 359, 365-371, 644. Vgl. auch W. Pieck: Der Kampf um Demokratie, ebenda, S. 380, 384, 386.
[10] Volksfrontpolitik, ihre Ursachen und Folgen am Beispiel Frankreichs und Spaniens. Artikel aus dem internationalen Klassenkampf von 1935 bis 1939. Bremen 1974, S. 84.
[11] Ebenda, S. 88.
[12] K. Kinner/E. Reuter: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität. Bd. 2: Gegen Faschismus und Krieg (1933 bis 1939), Berlin (2005), S. 179.
[13] Ebenda, S. 180.
Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«:
2015-08: Gemeinsam gegen Faschismus und Krieg! – Teil II und Schluss
2015-07: Gemeinsam gegen Faschismus und Krieg! – Teil I
2015-03: Gruppe »Internationale« - Revolutionäre marxistische Initiative 1915