Vor 75 Jahren wurde die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands gegründet
Prof. Dr. Günter Benser, Berlin
Mit dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD am 21. und 22. April 1946 betrat eine neue Partei die deutsche Parteienlandschaft – die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Wenngleich zeitgenössische Überhöhungen der Bewertung dieses Vorgangs kritisch zu sehen sind, handelt es sich zweifelsfrei um eine herausragende, wirkmächtige Begebenheit in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und in unserer Nationalgeschichte. Und die Zeit ist überreif, sich über die politischen Grabenkämpfe des unmittelbaren Zeitgeschehens zu erheben und seriösen, ausgewogenen Geschichtsbetrachtungen Eingang in die Erinnerungskultur zu verschaffen.
In den dominierenden bundesdeutschen Medien wird dennoch – wenn überhaupt – wie eh und je einseitig und Feindbilder bedienend von »Zwangsvereinigung« die Rede sein. Ohne die Frage zu stellen, wie sich in einer Bewegung, an der über eine Million Menschen mehr oder weniger bewusst und aktiv beteiligt waren, Überzeugung, Erfahrung, emotionale und rationale Erwägungen, Anpassung, Einschüchterung, Druck, Zwang und Widerstand zu einander verhalten haben. Ist es denkbar, dass eine Partei, der ein Jahr nach ihrer Gründung in der Sowjetischen Besatzungszone und Berlin 14 Prozent der Einwohner über 14 Jahre angehörten, jeder 4. Industriearbeiter, jeder 3. Angestellte, jeder 10. Bauer, jeder 7. Handwerker und Gewerbetreibender, jeder 7. Ingenieur oder Techniker und jeder 3. Lehrer, ihre Existenz ausschließlich oder in allererster Linie durch politischen Zwang bewerkstelligt hat? Die Frage ist nicht, ob beim Zusammenschluss von KPD und SPD Zwang im Spiele war, sondern ob ein zeitgenössischer Kampfbegriff, der von verschiedenen Leuten sehr unterschiedlich ausgelegt und eingesetzt wird, auch nach mehr als sieben Jahrzehnten der historischen Analyse als universelles Erklärungsmuster des historischen Geschehens zu Grunde gelegt werden kann.
Historisch berechtigt
Wissenschaftlich und auch gesellschaftspolitisch geboten ist ein grundsätzliches Herangehen. Und da ist zunächst zu erörtern, inwieweit das Einheitsparteiprojekt seine historische Berechtigung besaß. Das war der Fall, allerdings nicht so historisch-gesetzmäßig, wie von den Verfechtern einer sozialistischen Einheitspartei seinerzeit gern propagiert. 1945/1946 herrschte im antifaschistischen Lager weitgehend Übereinstimmung, dass die Zersplitterung und gegenseitige Bekämpfung der Anti-Hitler-Kräfte entscheidend zur Machtergreifung der Faschisten beitragen hatte und dass die katastrophale Lage des deutschen Volkes nach deren Zerschlagung ein Zusammenwirken aller aufbaubereiten Kräfte erforderte. Auch christdemokratische und liberale Politiker betrieben die Sammlung ihrer Anhängerschaft über frühere konfessionelle oder parteipolitische Grenzen hinweg.
Um die Einheit der Arbeiterklasse war ein regelrechter Mythos gewoben, der seine Begründung in der Einheitlichkeit der Klassenlage und Klasseninteressen der Proletarier fand und die Differenzierungen und Fehden innerhalb der Klasse vor allem aus äußeren Einflüssen erklärte. Aber so homogen war die deutsche Arbeiterklasse am Ende des zweiten Weltkrieges nicht. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung hatte zu unübersehbaren Differenzierungen geführt, der Einbruch des Faschismus auch in die Arbeiterbevölkerung war nicht zu übersehen, der Krieg, faschistischer Terror, Vertreibungen, Bombardierungen von Arbeitersiedlungen hatten einstige proletarische Milieus verschwinden lassen oder ausgezehrt.
Und auch die Vergangenheit lastete auf dem Neubeginn. Unter den politisch engagierten Männern und Frauen wirkte der Nachhall der Auseinandersetzungen um den 4. August 1914, der Novemberrevolution, der Arbeiterregierungen des Jahres 1923, des »Blutmai« 1929 und der gegenseitigen Anschuldigungen und Anfeindungen. Aber die bitteren Erfahrungen lieferten auch die Argumente, um unter die als »Bruderkampf« verharmloste Vergangenheit einen Schlusspunkt zu setzen. Schließlich existierten zwei grundlegende verinnerlichte Überzeugungen, die Sozialdemokraten und Kommunisten miteinander verbanden: Das Ziel einer auf gesellschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln beruhenden sozialistischen Gesellschaft und die Einsicht – hier verlief die Trennlinie zu den Anarchisten – dass dieses Ziel die Eroberung der politischen Macht zur Voraussetzung hat. Diese wurde auf dem Wege einer etappenweisen, alle Bereiche der Gesellschaft erfassenden antifaschistisch-demokratischen Umwälzung als von oben gelenkter revolutionärer Prozess angesteuert. Ihre Ergänzung fanden diese Eckpfeiler der Programmatik einer Einheitspartei in der Überzeugung, dass mit einer auf solchen Fundamenten gegründeten sozialistischen Einheitspartei, die ja als gesamtdeutsche Partei vorgesehen war, den Gefahren einer Teilung Deutschlands begegnet werden kann. Das ist die Quintessenz der Programmatik, die der Vereinigung von KPD und SPD zu Grunde lag. Sie fand ihren Niederschlag in dem vom Parteitag angenommenen Grundsätzen und Zielen der SED, die übrigens weit mehr den von der SPD eingebrachten Entwürfen entsprachen, als denen der KPD. Das Parteistatut beruhte auf demokratischen Prinzipien und sah die paritätische Besetzung aller wichtigen Funktionen mit ehemaligen Mitgliedern der KPD und der SPD vor.
Soweit so gut. Eine solche Partei hätte der deutschen Nachkriegsgesellschaft gut getan und die Gestaltung des künftigen Deutschlands nachhaltig mitgestalten können. Als gesamtdeutsche Partei wäre ihr Profil weit mehr von der Sozialdemokratie geprägt worden.
Hindernisse
Leider lagen die Dinge nicht ganz so einfach. Auf dem Weg zum Vereinigungsparteitag, der hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann, waren nicht wenige Hindernisse zu überwinden. Hatten zunächst führende Sozialdemokraten eine sofortige Vereinigung angeboten, ging seit Herbst 1945 die Mobilisierung für die Einheitspartei von der KPD aus, was nicht zuletzt mit Verschiebungen im Kräfteverhältnis beider Parteien zugunsten der Sozialdemokratie zusammenhing. Anderseits trat die SPD nun den Kommunisten als eine zonengespaltene Partei gegenüber, in der zwei Zentren den Führungsanspruch erhoben: der grundsätzlich und zunehmend selbstbewusster für die Einheit eintretende Berliner Zentralausschuss unter Otto Grotewohl und das Büro der Westzonen in Hannover unter Kurt Schumacher, der jegliche Kooperation mit der KPD ausschloss. Gipfelpunkt der Auseinandersetzungen wurde die Berliner Urabstimmung. Zwar stimmten 82 Prozent der Teilnehmer gegen eine sofortige Vereinigung – wohl aber mehrheitlich für ein Bündnis mit der KPD –, aber sie repräsentierten nur 35 Prozent der SPD-Mitglieder Groß-Berlins und 58 Prozent der Mitglieder der Kreisorganisationen der Westsektoren.
Zudem verhielten sich die Besatzungsmächte zu dem Einheitsparteiprojekt keineswegs neutral. Die Westmächte erließen regelrechte Verbote gegen Gründungsinitiativen der SED. Sie stellten in den Parteivorstand der SED gewählte Kommunisten und Sozialdemokraten vor die Alternative, ihre Funktionen niederzulegen oder ihren Wohnsitz in die Ostzone zu verlegen. Rabiater und flächendeckender waren die Eingriffe der sowjetischen Besatzungsorgane, wobei es auch zu Verhaftungen und gezielten Ausschaltungen von Einheitsgegnern kam. Oft genügte es jedoch, wenn die Erwartungshaltung der Kommandanturen mit Nachdruck kundgetan wurde.
Allerdings haben sich die Alliierten schließlich mit den faktischen Ergebnissen der Einheitsparteikampagne arrangiert und sich nicht deswegen entzweit. Am 28. Mai 1946 wurden die SED wie auch die SPD in ganz Berlin zugelassen. Die SED-Gründung oder das Schicksal von Sozialdemokraten dienten nicht als Begründung für die im Herbst 1946 vollzogene Kursänderung der US-amerikanischen Außenpolitik.
Auf Dauer nicht tragfähig
Dennoch erwies sich der auf dem Vereinigungsparteitag beschlossene Gründungskonsens der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf Dauer leider nicht als tragfähig. Die Eskalation des kalten Krieges änderte die politischen Konstellationen grundlegend und zwangen die deutschen Politiker, für das eine oder das andere der sich herausbildenden politisch-militärischen Weltlager zu optieren. Dies rief vor allem jene ehemaligen KPD-Funktionäre auf den Plan, die in der Vereinigung der deutschen Arbeiterparteien eine Übergangsstufe zu einer deutschen bolschewistischen, stalinistischen Partei gesehen hatten, drängte die aufrichtigen Verfechter einer die Fehler der Vergangenheit hinter sich lassenden neuformierten Partei in die Defensive und stellte sie ins politische Abseits. Insofern gilt es einzugestehen, dass das ursprüngliche Einheitsparteiprojekt eine Niederlage erlitten hat.
In der Folgezeit entwickelte sich die SED über vier Jahrzehnte hinweg als führende Kraft eines deutschen Teilstaates. An die Beurteilung ihrer von Höhen und Tiefen gekennzeichneten Rolle sind andere, den veränderten Bedingungen entsprechende Maßstäbe anzulegen.
Nach wie vor aktuell ist, was Willy Brandt Ende der achtziger Jahre seinen Genossen anempfohlen hat und was umgekehrt auch für die Kommunisten gilt:
»Selbstverständlich kann die Sozialdemokratie von den einmal gewonnenen und in vielen Gedächtnissen gespeicherten Erfahrungen aus den vergangenen Jahren nicht völlig absehen. Aber wir werden nicht Gefangene gelernter und eingeschliffener Verhaltensmuster und Denkschemata sein, wenn die Welt vor unseren Augen sich wandelt und die alte Betrachtungsweise sich überlebt. Nichts wäre erfreulicher, als wenn auch hier nicht alle alten Schlachten immer neu geschlagen werden müssten.«
Eine bemerkenswerte Wertung mit Bezug auf die ostdeutschen Sozialdemokraten hat Harold Hurwitz getroffen: »Auf jeden Fall ließ es sich in der DDR nach einigen Jahren nicht nur leben, allmählich sogar besser leben, sondern viele ehemalige Sozialdemokraten in der SED konnten ihre Selbstachtung pflegen, weil ihre Dazugehörigkeit für sie bedeutete, dabei zu sein beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Denn trotz allem gab es in dieser Diktatur, die alles erfassen wollte, aber in der heterogenen Industriegesellschaft nicht total werden konnte, einen Sozialstaat eigener Art mit beschränkten Freiräumen; ein Demokratieverständnis, das statt Freiheit der Gleichheit huldigte; einen Staat, der sehr selektiv und auch nicht immer ganz ideologiegerecht große Teile des humanistischen Kulturerbes Europas pflegte.« [1]
Anmerkung:
[1] Harold Hurwitz: Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946-1949, Opladen 1997, S. 489.
Günter Benser wirkte seit 1955 als Historiker am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 1990 wurde er zum Direktor des neugegründeten Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung gewählt. Hochgeehrt beging er im Januar 2021 den 90. Geburtstag: www.jungewelt.de/artikel/394060.laudatio-kein-bisschen-leise.html, www.neues-deutschland.de/artikel/1146829.akribischer-arbeiter.html.