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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Vor 125 Jahren: Des Kaisers Hunnenrede

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Bremerhaven, 27. Juli 1900. Kaiser Wilhelm II. spricht zu den deutschen Truppen, die er in Ergänzung zu den dort bereits im Kampf befindlichen deutschen Marinesoldaten zur Niederschlagung des Boxeraufstandes [1] nach China befohlen hat. Es erscheint alles ganz logisch, ganz normal: Ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung hat sich erdreistet, sich mit der Waffe in der Hand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Aus­plünderung des Landes durch die imperialistischen Mächte zu erheben und am Ende gar das Pekinger Gesandtschaftsviertel zu belagern – also formieren diese Mächte Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien, Russland, die USA, Japan und das Deutsche Reich in trauter Eintracht und brutaler Selbstverständlichkeit eine inter­nationale Aggressionsstreitmacht, um dem Treiben ein Ende zu setzen und die von ihnen geschaffene Ordnung wiederherzustellen. Kolonialismus in unverhüllter Gestalt; China am tiefsten Punkt seiner Demütigung.

Der deutsche Kaiser fühlt sich noch mehr als die anderen Kolonialherrscher zu flam­mender Vergeltung berechtigt. Sein Gesandter Clemens von Ketteler ist neun Tage zuvor, am 18. Juni 1900, auf offener Straße von einem Korporal der chinesisch-kaiser­lichen Armee namens En-hai erschossen worden. Darum holt er zum ganz großen Schlage aus. »Die Chinesen«, ruft er den Soldaten zu, »haben das Völkerrecht umge­worfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen«, und das sei »umso empö­render, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre alte Kultur stolz ist.« – So werden Kriegsgründe gemacht: Nicht En-hai war es, sondern eine ganze »Nation«; nicht ein Mord ist geschehen, sondern eine »Umwerfung des Völker­rechts« – was blieb da anderes übrig, als den Untertanen die »große Aufgabe« aufzu­erlegen, das von »den Chinesen« angerichtete »schwere Unrecht« zu »sühnen«? [2]

Und zwar so: »Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch ver­fallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferungen und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestä­tigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzu­sehen.« [3]

Und in der Tat: Pardon wurde nicht gegeben. Von über 100.000 Toten sprechen die Quellen, davon 2.500 Soldaten der Interventionstruppen, 526 westliche Missionare, 32.000 chinesische Christen, 20.000 Soldaten der chinesisch-kaiserlichen Armee und eine »unbekannte Anzahl an Boxern«. Die Interventionstruppen überboten sich in sum­marischen Hinrichtungen, Plünderungen, Massenvergewaltigungen und der Niederbren­nung von Dörfern. Mit dem »Boxerprotokoll« vom 7. September 1901 wurden dem besiegten China »Reparationen« auferlegt, deren Rückzahlung auf nicht weniger als 39 Jahre angelegt war. Bis heute enthalten auch deutsche Museen ungezählte damals geraubte chinesische Kulturgüter. [4]

August Bebel von der Noch-Friedenspartei SPD fand am 10. November 1900 im Reichs­tag für das deutsche Vorgehen deutliche Worte: Es handele sich um einen »ganz gewöhnlichen Eroberungskrieg und Rachefeldzug und weiter nichts«; »[…] die Art der Kriegsführung, das gräbt sich auf Jahrhunderte von Generation zu Generation in die Herzen der Massen der chinesischen Bevölkerung ein.« [5]

Wie dem Kaiser die Zerschlagung des Boxeraufstandes in seinen weltmachtambitiösen Kram passte, zeigen einige weniger bekannte Sätze seiner Hunnenrede. »Große über­seeische Aufgaben«, hieß es da, seien »dem neu entstandenen Deutschen Reiche zuge­fallen […], Aufgaben weit größer, als viele Meiner Landsleute erwartet haben«, aber das brauche niemand zu schrecken, denn im Unterschied zum »alten Römischen Reich deutscher Nation« sei das »neue Deutsche Reich […] in der Lage«, diese Aufgaben auch »zu lösen«, und »das Mittel, das ihm das ermöglicht«, sei »unser Heer«. Dieses sei – hört, hört! – »in dreißigjähriger treuer Friedensarbeit […] herangebildet worden« und müsse »nun vor dem Feinde die Probe ablegen«. [6] Vom Krieg in China ging es direkt in die (dann auch mit überwältigender Mehrheit von der SPD getragene) »Kriegstüchtig­keit« für den Weltkrieg 1914/18.

 

Anmerkungen:

[1] Die Bezeichnung leitet sich her aus der Faust, die die Aufständischen als Angehörige der Yihequan-Bewegung (»Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie«) als Erkennungszeichen auf dem Ärmel trugen.

[2] Wenn Krieg gewollt ist, scheren bekanntlich keine Details. Dem US-amerikanischen China-Historiker Sterling Seagrave zufolge war der Gesandte von Ketteler für ein besonders menschenverachtendes Vorgehen gegenüber den Chinesen namhaft geworden. Nicht nur habe er, als er am 18. Juni von chinesischen Soldaten routinemäßig angehalten wurde, sofort seine Pistole gezogen und geschossen, sondern bereits am 12. Juni auf der Gesandtschaftsstraße einen Chinesen verprügelt, dann einen 10- oder 11-jährigen Jungen in der deutschen Botschaft eingesperrt und in einem Tobsuchtsanfall erschossen, am 14. Juni einen Feuerüberfall deutscher Soldaten auf chinesische Boxer geleitet, bei dem sieben Boxer getötet worden sein sollen, und am 17. Juni einen weiteren Feuerüberfall auf Steine werfende Boxer herbeigeführt (vgl. Wikipedia-Eintrag Clemens von Ketteler [Aufruf 26.06.2025]). – Was den Todesschützen En-hai betrifft, so wurde er im Dezember 1900 enthauptet (vgl. Ebenda).

[3] Zitiert nach germanhistorydocs.ghi-dc.org, 503_Wilhelm-II-Hunnenrede_84.pdf. – In dieser Fundstel­le wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Rede nicht im Manuskript vorlag und daher in zwei Versionen an die Öffentlichkeit kam. Die offizielle Fassung, aus der der Vergleich mit den Hunnen vom Auswärtigen Amt »hinausgesäubert« wurde, wird zitiert nach: Johannes Penzler (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II., Bd. 2: 1896-1900. Leipzig o.J., S. 209-12. Der Absatz mit der Hunnenpassage, wie er hier in Gänze zu lesen ist, folgt dem Abdruck der inoffiziellen, von Journalisten überlieferten Version in: Manfred Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, Opladen, 1996. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 274, S. 357.

[4] Vgl. den Wikipedia-Eintrag Boxeraufstand (Aufruf 26. Juni 2025). – Als besonders lesenswert sind darüber hinaus zu empfehlen: Roland Felber/Horst Rostek: Der »Hunnenkrieg« Kaiser Wilhelms II. Imperialistische Intervention in China 1900/1901, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin (DDR) 1987 und Erhard Korn: Peking muss rasiert werden, in: »junge Welt«, 04.09.2021.

[5] Hier zitiert nach ceags.uni-hannover.de, Artikel Alfred von Waldersee (Aufruf 26. Juni 2025).

[6] Vgl. Fn. 3.

 

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