Von der Größe im Kleinen
Horst Drinda (1927 – 2005)
Vor 10 Jahren - am 21. Februar 2005 - starb der Schauspieler Horst Drinda. Die Worte, die er für seinen langjährigen Intendanten Wolfgang Langhoff fand, bezeugen: Drinda war nicht »nur« ein großartiger Künstler, sondern auch ein Mensch voller Empathie.
Wir alle wußten, daß wir unseren Chef teilen mußten. Da war die Akademie der Künste, deren Vizepräsident Langhoff war, da waren die Arbeiten für das spätere Internationale Theater-Institut (ITI), da war die Partei des Kommunisten Wolfgang Langhoff und nicht an letzter Stelle unser geliebtes Deutsches Theater mit seinen vielen Mitarbeitern auf und hinter der Bühne, in den Büros und Werkstätten. Mit allen hatte Langhoff zu tun. Alles galt ihm ernst und wichtig, und die Zeiten waren schwierig. [...]
Mein Intendant
Ich möchte hier nicht von den großen Impulsen sprechen, die Wolfgang Langhoff dem deutschen Theater im allgemeinen und dem Deutschen Theater im besonderen verliehen hat. Ich möchte vielmehr eine Geschichte erzählen, in der von meiner Schande die Rede ist. Heute, an seinem Geburtstag, möchte ich sie, um ihn zu ehren, der Öffentlichkeit preisgeben. Ich habe in meinem Leben als Schauspieler drei Vorstellungen versäumt, und das gleich innerhalb von vierzehn Tagen. Die Rollen waren klein, und die Vorstellungen fielen nicht aus. Beim erstenmal wurde ich ins Betriebsbüro zu der damaligen Leiterin Frau Pape bestellt, ich bekam einen fürchterlichen Rüffel und gelobte Besserung. Aber schon ein paar Tage später stand ich wegen desselben Delikts wieder vor ihr. Sie schickte mich ohne Kommentar in das Büro unseres neuen Intendanten Wolfgang Langhoff.
Ich muß sagen, mir war sehr elend zumute. Langhoff empfing mich, er sah mich lange stumm an, aber an Stelle des erwarteten Donnerwetters begann er plötzlich von seiner Anfängerzeit zu erzählen, von gewerkschaftlichen Kämpfen um die Sicherheit in unserem Beruf - und dann gab er mir den Rat, immer einen Spielplan bei mir zu tragen und mich auch täglich im Theater zu versichern, ob dieser Spielplan nicht geändert worden war. Es war ein sehr realistischer Rat, denn 1947 waren die Gesundheit der Schauspieler, die Verkehrsverbindungen und auch die Spielpläne noch anfällig und veränderlich. Ich gelobte Besserung, versprach, seine Ratschläge zu befolgen, und bedankte mich ausdrücklich für seine Güte. In meinem Inneren aber verwandelte sich seit dieser Unterredung meine große Verehrung für Wolfgang Langhoff in eine zarte Liebe.
Zwei Tage danach schreckte ich abends zu Hause auf, ich rannte und fuhr so schnell es ging ins Theater - ich hatte meine dritte Vorstellung versäumt. Im Betriebsbüro würdigte man mich keines Blickes. An diesem Abend lief ich nach Hause. Der Spielplan in meiner Tasche hatte nichts genützt, der Spielplan über meinem Bett hatte nicht geholfen, und um ehrlich zu sein - auch der, der im Klo hing und gar nicht zu übersehen war, hatte seinen Zweck verfehlt.
Die Nacht verging schlaflos, und am nächsten Morgen ganz früh wartete ich im Vorzimmer von Wolfgang Langhoff, ich hatte mich fest entschlossen, dem Theater zu entsagen. Als Langhoff kam, wußte er noch nichts von meinem neuen Malheur. Ich mußte berichten, Langhoff hörte mir wieder still zu, nickte nur hin und wieder mit dem Kopf, danach entnahm er seiner Brieftasche Essenbons, mit denen man im Bühnenklub ein Mittagessen bekam, dazu gab er mir Geld, damit ich das Essen bezahlen konnte.
Ich konnte mich nicht bedanken. Ich brachte überhaupt kein Wort heraus - ich fing ganz schlicht und einfach an zu heulen. Langhoff sagte mir, daß er mir diese Essenbons sowieso zugedacht hätte und daß er mit seinem Arzt über mich gesprochen hätte, und ich müßte mich mal eine Weile richtig satt essen. -
Ich erzähle diese Geschichte nur, weil ich auch heute noch finde, daß die Größe von großen Leuten eigentlich im Kleinen beginnt, sonst ist sie nämlich gar nicht wahr.
Quelle: Horst Drinda (S. 795-799) in: »Verweile doch ...«, Erinnerungen von Schauspielern des Deutschen Theaters, Herausgegeben von Renate Seydel, Henschelverlag Berlin 1984.