Vom Tag der Befreiung zum Tag der Besinnung und des gemeinsamen Handelns
Dr. Andrej Reder, Berlin
Ob ich mir vorstellen könnte, zum 70. Jahrestag der Befreiung für die »Mitteilungen« einen Beitrag zu schreiben, lautete die Frage, die ich bejaht habe. Sodann wurde mir klar, dass eigentlich jeder, der die »Mitteilungen« liest, aus diesem Anlass selbst etwas schreiben könnte. Und jeder hat zu diesem Tag verständlicherweise einen ganz unterschiedlichen Bezug.
Den Tag vor 70 Jahren erlebte ich mit meiner Mutter in der ehemaligen sowjetischen Unionsrepublik Kasachstan, in einem entlegenen Ortsteil eines Baumwollsowchos. Damals vernahm ich lediglich die Freude der Erwachsenen, dass »Gitler kaputt« war und dass das Land, in dem ich geboren wurde und seit über acht Jahren lebte, gesiegt hatte. Erst Jahre später erfasste ich die Tragweite der damaligen Freude. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands besiegelte an diesem Tag die Niederlage des Hitlerfaschismus. Der blutigste und zerstörerischste Krieg in Europa war beendet. Die Macht der Sowjetunion brachte der Welt den langersehnten Frieden. Dennoch mussten seitdem 40 Jahre vergehen, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bonner Bundestag erklärte: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Eine mutige Erkenntnis des Staatsoberhauptes in der damaligen BRD. Im östlichen Teil Deutschlands, in der DDR, wurde dieses welthistorische Datum bereits jährlich als Feiertag würdig begangen.
Seit 1945 bis in die Gegenwart verhalten sich Menschen, Regierungen und Staaten äußerst unterschiedlich zu einem Ereignis, das das Ende eines verbrecherischen Eroberungskrieges und die Zerschlagung der Machtstrukturen einer faschistisch-militärischen Diktatur symbolisierte. Auch Politikerinnen und Politiker unseres Landes, die unaufhörlich der Friedensliebe frönen, wie auch dem Kampf gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, für Freiheit und Menschenrechte, sperren sich noch 70 Jahre danach, den historischen 8. Mai 1945 als einen Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus zu würdigen. Auch die Bundeskanzlerin folgt leider einer unrühmlichen Tradition. Sie ließ am 11. März 2015 verlauten, dass sie »Mit Blick auf das russische Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine« an den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai in Moskau nicht teilnehmen werde. Ausgerechnet die Regierungschefin des Staates, der die Rechtsnachfolge des faschistischen III. Reiches antrat, verweigert angesichts aktueller Entwicklungen die Ehrbezeugung gegenüber den Völkern der Sowjetunion und ihrer Roten Armee, die die Hauptlast des Krieges trugen und gezwungen wurden, den höchsten Blutzoll zu erbringen.
Zum real existierenden Sozialismus kann man heute stehen wie man will. Davon aber die derzeitige Haltung zur welthistorischen Leistung der Hauptmacht der Antihitlerkoalition bei der Zerschlagung des real existierenden deutschen Faschismus mit seinen ebenso real begangenen einmaligen Verbrechen in der Welt abhängig zu machen, läuft darauf hinaus, die Geschichte für kurzsichtige geopolitische Ziele zu missbrauchen. Damit wird 70 Jahre nach Beendigung des Krieges in Europa der untaugliche Versuch unternommen, ihn faktisch mit Methoden des Kalten Krieges fortzusetzen.
Charakter des Zweiten Weltkrieges
Der Zweite Weltkrieg war als Revanche für die erlittene Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg konzipiert. Eine angebliche »jüdisch bolschewistische« Gefahr sollte abgewendet und der »Lebensraum« für Deutsche erweitert werden. Das konnte nur durch Gewalt, durch Krieg erfolgen. Der deutsche Imperialismus schickte sich an, die Welt neu aufzuteilen. Der Versuch, ein »tausendjähriges Reich« zu errichten, unterschied sich zweifellos von bis dahin geführten Kriegen hinsichtlich seiner verbrecherischen Dimension und der Brutalität, mit der er geführt wurde. Aber noch entscheidender war, dass die imperialistische Eroberungspolitik erstmals darauf gerichtet war, eine seit der Oktoberrevolution 1917 neu entstandene, eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf einem Sechstel der Erde gewaltsam zu beseitigen und in Sowjetrussland die kapitalistischen Verhältnisse wiederherzustellen. Im Fokus des Zweiten Weltkrieges standen somit der nach Weltherrschaft strebende deutsche Faschismus und die Völker der Sowjetunion, die sich im Großen Vaterländischen Krieg dem Aggressor entgegenstellten. Die Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Sozialismus endete am 8. Mai 1945 mit dem Sieg der UdSSR und einer breiten Antihitlerkoalition, die im Verlaufe des Krieges auf Betreiben der sowjetischen Diplomatie zustande kam und vom antifaschistischen Widerstand in Deutschland sowie in zahlreichen Ländern miterkämpft wurde.
Der zweite Versuch im 20. Jahrhundert, die Einflusssphären in der Welt neu aufzuteilen, war gescheitert. Der Zweite Weltkrieg ging von deutschem Boden aus und fand dort ebenso sein Ende, und dennoch verweigern die Herrschenden unseres Landes bis heute, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen. Der Nachfolgestaat des »Dritten Reiches« tut sich damit schwer und beschränkt sich lediglich auf die lapidare Feststellung eines Kriegsendes. So unterschiedlich der Klassencharakter der Staaten und Kräfte der Antihitlerkoalition und Deutschlands gewesen ist, so unterschiedlich verhielten sie sich zu dem Tag, an dem das Ende des Krieges verkündet werden konnte. Nach dem Tag der Befreiung vom Faschismus folgten bekanntlich Tage und Jahre des Kalten Krieges zwischen den beiden Weltsystemen, und die reaktionärsten kalten Krieger waren nicht bereit, ihre Niederlage einzugestehen. Sie sind es bis heute nicht. In geschichtsrevisionistischer Manier wird die Eröffnung der zweiten Front der Alliierten (D-Day) im Juni 1944 als das über alles herausragende Ereignis des Zweiten Weltkrieges zelebriert und die entscheidende Rolle der Sowjetunion bewusst ignoriert bzw. heruntergespielt.
70 Jahre danach ist der 8. Mai mehr denn je ein Tag der Befreiung, weil an diesem Tag nach fast vier Jahren des bis dahin beispiellosen verbrecherischen Krieges in Europa der Frieden eingeläutet und unser Kontinent von der Geißel des Krieges befreit wurde. Das schuf die Voraussetzungen für eine Welt ohne Gewalt, eine Welt des friedlichen Nebeneinanders. Ein Tag der Befreiung, weil all derer würdig zu gedenken ist, die einen hohen Blutzoll für die Befreiung der Menschheit von der faschistischen Barbarei erbracht haben. Millionen Menschen in okkupierten Ländern, in Konzentrationslagern und Gefängnissen wurden befreit, sie erhielten die Möglichkeit, ein neues, selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Blut von 55 Millionen darf nicht umsonst gewesen sein. Diese Toten mahnen uns, die errungene Freiheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sie mahnen uns, die schlimmste Menschenrechtsverletzung, den Krieg, für immer zu verbannen. Und nicht zuletzt, weil nach dem 8. Mai 1945 auch den kolonial unterdrückten Völkern die Perspektive einer eigenständigen Entwicklung eröffnet wurde.
Faschismus und Krieg nicht gebannt
Zwar wurde die Welt vor 70 Jahren vom Faschismus befreit, ist aber diese Welt, Europa oder Deutschland deshalb heute faschismusfrei? Keineswegs. In vielen europäischen Ländern zelebrieren Faschisten seit Jahren ihre Auferstehung und treiben mitunter ungehindert ihr rassistisches und antisemitisches Unwesen. Das erfolgt nicht nur ungehindert, sondern man bedient sich ihrer als willfährige Speerspitze gegen Frieden, Sicherheit und sozialen Fortschritt. Ihre Demagogie und das brutale Vorgehen gegen Andersdenkende, Andersaussehende, Andersgläubige und Anderslebende werden von den Herrschenden hierzulande bewusst ausgeblendet bzw. kleingeredet. Nicht zuletzt die Mordtaten der NSU-Verbrecher in Deutschland und die Bandera-Faschisten in der Ukraine haben offenbart, wozu die Verharmlosung der Gefahren, die von faschistischen Umtrieben ausgeht, führt. Neonazis nutzen die Versammlungs- und Redefreiheit im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie aus, um ihre Demagogie zu verbreiten und ihr menschenverachtendes Unwesen auszuweiten.
Zwar wurde vor sieben Jahrzehnten der Weltkrieg nach ungeheuren Opfern und bis dato nie dagewesenen Zerstörungen beendet, und der Frieden kehrte ein. Aber sind wir deshalb gegenwärtig vor Krieg durch Frieden gesichert? Keineswegs! Schon wieder ziehen in Europa Kriegswolken auf und verdunkeln die Aussichten auf dauerhaften Frieden. Die drohende Kriegsgefahr in Europa ist nicht gebannt. Der militärisch-industrielle Komplex in vielen NATO-Staaten, aber auch in anderen Ländern, produziert ein Arsenal von Mordwerkzeugen nie gekannten Ausmaßes. Der weltweite Handel mit modernsten todbringenden Waffen ist besorgniserregend. Das Waffengeschäft ist zudem äußerst profitabel. Und diese Mordinstrumente werden hergestellt, um schlussendlich deren Gebrauchswert und Effizienz im Einsatz nachzuweisen. Das geschieht bekanntlich im Krieg. Politiker, die auf Krieg als Politik mit anderen Mitteln, d. h. mit Mitteln der Gewalt, im Zeitalter der vielfältigen Massenvernichtungswaffen setzen, handeln nicht nur verantwortungslos, sondern kalkulieren die Vernichtung der Menschheit ein. Wie weit ein Aggressor gehen kann, wenn seine Ziele zu scheitern drohen, zeigte die Bereitschaft der Nazis im Zweiten Weltkrieg, als die Raketen-Wunderwaffe V1 und V2 zum Einsatz gebracht werden sollte, um die Entscheidung im Krieg, den »Endsieg«, herbeizuführen. Man stelle sich vor, über wie viele »Wunderwaffen« das heutige Militär verfügt! Die Toten des Zweiten Weltkrieges und aller Kriege danach mahnen uns, die Ursachen von Krieg und Faschismus zu erkennen und die Kriegsspirale zu stoppen, bevor es zu spät ist.
Deutschland vermochte seinerzeit nicht, den Faschismus und den verheerenden Eroberungskrieg zu verhindern. Deutschland war nicht in der Lage, sich vom Faschismus selbst zu befreien. Wir Deutschen sollten den Tag der Befreiung als eine historische Chance begreifen, alles zu tun, damit eine neue Katastrophe rechtzeitig abgewendet, ein Weltbrand für immer ausgeschlossen wird. Die Mehrheit der Deutschen hat den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt, und immer weniger Bundesbürger haben glücklicherweise eine tatsächliche Vorstellung davon, was Krieg bedeutet. Jahrzehntelang wähnten wir uns in Frieden und Sicherheit. Frieden wurde schon fast zur Selbstverständlichkeit. Spätestens an der Schwelle zum 21. Jahrhundert wurden wir auch in Europa daran erinnert, dass Krieg nicht gottgegeben ist, sondern ein von Menschen begangenes Verbrechen. Somit ist Frieden keine Selbstverständlichkeit, denn er muss gegen jene Kräfte erkämpft und verteidigt werden, die am Krieg interessiert sind, an ihm verdienen und unter fadenscheinigen Vorwänden immer aufs Neue zum Waffengang blasen.
Regierungen unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen waren sich 1945 der großen Verantwortung gegenüber der Menschheit und unserem Planeten als Ganzes bewusst, die sich aus dem Zweiten Weltkrieg ergab. Sie einigten sich auf ein »Grundgesetz« des internationalen Handelns, auf die UNO-Charta. Darin brachten sie die feste Entschlossenheit der Völker der Vereinten Nationen zum Ausdruck, »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren«. Zum erstrangigen Ziel erklärten sie, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.« (Kapitel I., Art. 1.1. der Charta).
»Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«, schworen die KZ-Häftlinge von Buchenwald nach ihrer Selbstbefreiung. So einleuchtend dieser Schwur, so schwierig erweist sich in unseren Tagen dessen praktische Umsetzung. Den Friedensbewegten scheint die Zeit davonzulaufen, wenn sie debattieren, bis eine klassenmäßig fortschrittliche »lupenreine« Friedensbewegung zustande kommt. Eine solche hat es nie gegeben, kann und wird es auch nicht geben. Denn Frieden ist lebens- und überlebenswichtig für alle Menschen. Nur eine breite antifaschistische Antikriegskoalition vermag die eskalierende Kriegsgefahr einzudämmen und über alle Unterschiede hinweg jene Falken im Zaum zu halten, die danach streben, die Welt zu beherrschen. Aus den Erfahrungen der Antihitlerkoalition lernen, heißt in unserer Zeit über existierende Unterschiede hinweg die friedensrelevanten Gemeinsamkeiten so zu bündeln, dass Krieg unmöglich wird.
Berlin, 1. April 2015
Mehr von Andrej Reder in den »Mitteilungen«:
2015-03: Dienstreise – Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955
2013-11: Bleibendes Gedenken in unserer Gesellschaft bewahren
2013-11: Worin wir uns einig sind