Vom Kampf zur Rettung Mumias zum Kampf um seine Freiheit
Michael Schiffmann, Heidelberg
US Supreme Court bestätigt endgültig Aufhebung des Todesurteils
Am 11. Oktober 2011 traf der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der US Supreme Court, eine wichtige Entscheidung im Fall des wegen angeblichen Mordes an einem Polizisten zum Tod verurteilten afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal. Nachdem ein Bundesrichter schon vor fast 10 Jahren, am 18. Dezember 2001, das Todesurteil gegen Mumia aufgehoben hatte, hatte die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung nach der anderen versucht, das Todesurteil wieder in Kraft setzen und Mumia doch noch hinrichten zu lassen.
Der US Supreme Court jedoch hat jetzt beschlossen, sich gar nicht erst mit dem Antrag der Anklage zu befassen, genau wie er es jedes Jahr mit 98 bis 99 Prozent der bei ihm eingehenden Anträge tut. Für Mumia und seine Verteidigung war das ein wichtiger Sieg, denn mit dieser Entscheidung des höchsten US-Gerichts ist das Todesurteil gegen ihn endgültig vom Tisch – beinahe.
Der Haken an der Entscheidung
Nur beinahe, den es gibt noch einen Haken: Laut der Entscheidung des Bundesrichters von 2001 kann die Staatsanwaltschaft jetzt innerhalb von 180 Tagen nach der Entscheidung des Supreme Court – also bis zum 8. April 2012 – beim Prozeßgericht in Philadelphia ein erneutes Juryverfahren beantragen, bei dem es ausschließlich um das Strafmaß gegen Mumia geht. Da Mumias Versuche, einen gänzlich neuen Prozeß zu bekommen, in dem auch über die Schuldfrage verhandelt wird, gescheitert sind, würde er in einem solchen Verfahren als Mörder gelten, und als Strafe stünden nur lebenslängliche Haft ohne vorzeitige Entlassung und die erneute Todesstrafe zur Debatte.
Neuer Prozeß ums Strafmaß?
Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, daß die Anklage diesen Weg gehen wird. Diverse Artikel in der Lokalpresse Philadelphias, in denen die Witwe des getöteten Polizisten, Maureen Faulkner, ihr Anwalt sowie Vertreter der Anklage gegen Mumia zu Wort kamen, deuten darauf hin, daß diese Kräfte, die bisher regelrecht fanatisch auf die Hinrichtung Mumias hingearbeitet haben, den Weg eines solchen Mini-Verfahrens, auf dem sie ja theoretisch genau dieses Resultat erreichen könnten, nicht gehen werden. Dabei sprechen sie davon, daß sich dieses Verfahren nun seit dreißig Jahren hinziehe und Mumia nach einem Todesurteil erneut Berufungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, und irgendwann müsse eben auch der nobelste Kampf beendet werden, nicht zuletzt, um dem Staat Aufwand und Kosten zu sparen.
Aber der wirkliche Grund für diese plötzliche Bereitschaft aufzugeben, dürfte ganz woanders liegen. In einem solchen Prozeß nur um das Strafmaß könnte Mumia nämlich sämtliche Tatsachen ins Spiel bringen, die gegen ein erneutes Todesurteil gegen ihn sprechen, nämlich alles, was bei seinem ursprünglichen Prozeß von der Anklage als Beweis für die besondere Schwere seiner Schuld geltend gemacht wurde.
Das gilt ganz besonders für die Aussagen der drei "Augenzeugen" im Prozeß, die behauptet hatten, der Täter – als den zwei von ihnen Mumia erkannt haben wollten – habe den Polizisten Daniel Faulkner aus nächster Nähe regelrecht exekutiert. Diese Behauptungen waren sicher ein Faktor, der zum Todesurteil der Jury beigetragen hat. Mittlerweile ist aber bewiesen, daß diese Zeugenaussagen über eine regelrechte Hinrichtung Faulkners falsch sind. Zwei derselben Zeugen sagten außerdem aus, Mumia habe zuerst heimtückisch von hinten auf den Polizisten geschossen, was von der Jury sicher ebenfalls als strafverschärfend gewertet wurde. Aber auch diese Aussage kann widerlegt werden.
Zweiter Pfeiler des Todesurteils gegen Mumia waren die Aussagen von Polizisten und Angehörigen des Sicherheitspersonals in dem Krankenhaus, in das Mumia nach den Schüssen vom 9. Dezember 1981, durch die Faulkner getötet und er selbst schwer verletzt wurde, gebracht wurde, Mumia habe sich dort lauthals damit gebrüstet, daß er Faulkner umgebracht habe. Diese Aussagen tauchten erstmals zwei Monate nach Faulkners Tod auf, nachdem Mumia eine Beschwerde gegen die Polizeibehörde Philadelphias wegen Mißhandlung bei seiner Festnahme eingereicht hatte. Bei seinem Mordprozeß im Juni-Juli 1982 hingen sie wie ein schwerer Mühlstein um seinen Hals, denn die Absurdität der Behauptung, ausgerechnet ausgebildete Sicherheitsleute könnten ein solches Geständnis zwei Monate lang "vergessen", um sich genau zu richtigen Zeitpunkt wieder daran zu "erinnern", ging in der aufgeheizten Atmosphäre dieses Prozess völlig unter. In einem Verfahren über Mumias Strafmaß würde sie aber mit Sicherheit zur Sprache kommen.
Der dritte wichtige Punkt beim Todesurteil gegen Mumia war die Waffe, die er mit sich führte. Diverse Polizisten bezeugten in Mumias Prozeß, die Waffe habe bei ihrem Eintreffen neben ihm auf dem Boden gelegen und er habe nach ihr gegriffen, ein weiterer Beweis für seine Gemeingefährlichkeit und für die Notwendigkeit, ihn zum Tod zu verurteilen. Außerdem seien in der Waffe Patronenhülsen einer besonders starken Munition gefunden worden. Aus heutiger Sicht spricht alles dafür, daß auch diese Behauptung erlogen ist und die Waffe damals nie Mumias Holster verlassen hat – und Mumia in der Tatnacht somit weder mit starker noch mit schwacher Munition, sondern gar nicht geschossen hat.
Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang auch ein letzter Punkt, der im Prozeß gegen Mumia zu sprechen schien, nämlich, daß Faulkner der Anklage als "Polizeibeamter in Ausübung seines Dienstes" galt. Und auch die Tötung einer solchen Person galt als strafverschärfender Umstand. Wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, starb Faulkner aber sehr wahrscheinlich keinswegs in Ausübung seiner Pflicht, sondern im Rahmen einer von ihm aus rassistischen Motiven durchgeführten Verkehrskontrolle, bei der er ohne Not zu brutaler Gewalt griff. Die bloße Erörterung dieser Frage würde eine Erörterung des gesamten Tathergangs erfordern.
Wichtig an all diesen Punkten ist, daß das, was wir heute wissen, nicht nur gegen eine besondere Schwere der Schuld Mumias spricht, sondern auch dagegen, daß er überhaupt der Schuldige am Tod des Polizeibeamten Daniel Faulkner ist. Bei einem neuen "Mini-Verfahren" über das Strafmaß würde eine Debatte über die gerade angeführten Punkte automatisch zur Schuldfrage selbst führen, da Zeugenaussagen, die von der Anklage zugunsten des Todesurteils ins Feld geführt wurden, haargenau dieselben sind, auf denen auch der Schuldspruch basiert.
Und es kann kein Zweifel bestehen, daß die Verteidigung die Unhaltbarkeit dieser Aussagen in einem halbwegs fairen Verfahren über das Strafmaß beweisen würde. Für die Anklage wäre das eine katastrophale Blamage, da sich damit auch die Beweise für Mumias Schuld in Nichts auflösen würden und die Jury vor der paradoxen Aufgabe stehen würde, zu entscheiden, ob sie jemanden ohne jeden Schuldbeweis zu Lebenslänglich oder zum Tod verurteilen soll! Selbst im Establishment Philadelphias würden da wohl einige Stimmen laut werden, die die Frage stellen würden, ob denn unter solchen Umständen die Mordanklage selbst überhaupt Bestand haben kann.
Die Leser dieser Zeitschrift werden vermutlich schon am 30. Jahrestag der Verhaftung Mumias, dem 9. Dezember dieses Jahres, zumindest potentiell klüger sein als der Verfasser, denn für den Tag zuvor planen die wichtigsten Verfechter einer Hinrichtung Mumias – die oben erwähnte Witwe Faulkners, Vertreter der Anklage usw. – eine Veranstaltung in Philadelphia, in der Mumias Fall "diskutiert" werden soll. Angesichts all dessen, was oben ausgeführt wurde, vermute ich ebenso wie andere Beobachter, daß dort der "Verzicht" auf ein neues Strafmaßverfahren gegen Mumia bekanntgegeben werden wird.
Mumias Perspektiven
Damit wäre Mumias Leben natürlich gerettet, und zwar diesmal endgültig und ohne Haken. Auf der anderen Seite wäre es, was Mumias Freiheit betrifft, vermutlich paradoxerweise die beste Lösung, wenn die Staatsanwaltschaft tatsächlich den Versuch unternehmen würde, ihn von einer eigens dafür einberufenen Jury erneut zum Tod verurteilen zu lassen. Mumia hätte dann ein Forum, vor dem er Tag für Tag in aller Öffentlichkeit Beweise vorlegen kann, deren richterliche Abschmetterung weltweit enorme Empörung auslösen würde. Die Fakten, die auf seine Unschuld hinweisen, kämen nach dreißig Jahren endlich auf den Tisch, und der öffentliche Druck für seine Freilassung würde unaufhaltsam.
Wenn sich dagegen die Vermutung bestätigt, daß die Anklage dieses Risiko nicht eingehen wird, steht Mumia vor einem schweren Weg. Die Aufhebung eines einmal gefällten Schuldspruchs zu erreichen, ist in den USA noch erheblich schwerer als in Deutschland. Es ist nicht nur so, daß die Beweislast tendenziell umgekehrt ist – der Angeklagte muß seine Unschuld beweisen, nicht die Anklage seine Schuld –, sondern darüber hinaus schränken strenge Zeitfristen und sonstige Kriterien die Einführung neuer Beweise drastisch ein.
Ungeachtet dieser Hindernisse arbeitet Mumias Verteidigung an einem Antrag für ein neues Verfahren zur Schuldfrage. Hierfür bedarf es aufwendiger Auswertungen der Geschichte des Falls, neuer kriminaltechnischer Ermittlungen, kostspieliger Rechtsrecherchen und des Aufbaus eines Netzes von Experten, die all das koordinieren, also nicht zuletzt einer Menge von Geld!
Dieses Geld muß jetzt gesammelt werden, aber diese spezifische Aktivität steht in einem noch größeren Rahmen. Ohne den Druck der Öffentlichkeit wäre Mumia heute vermutlich schon tot. Wir müssen öffentlichen Druck für Mumias Freiheit machen, auch wenn sein Leben nun vermutlich nicht mehr in Gefahr ist. Genau das hat sich die Bewegung für Mumia in dieser Etappe zum Ziel gesetzt. Der Fokus verändert sich: vom Kampf um sein Leben zum Kampf für sein Leben in Freiheit. Der Kampf hierum hat nicht erst heute begonnen, aber in dieser neuen Etappe sollte er täglich intensiver werden.
Weitere Informationen zu den Aktivitäten für die Freiheit Mumias, zur Spendensammlung und zum Hintergrund finden sich hier: www.mumia-hoerbuch.de, www.freiheit-fuer-mumia.de, www.freemumia.com, und in dem Buch Mumia Abu-Jamal. Der Kampf gegen die Todesstrafe und für die Freiheit der politischen Gefangenen, Laika Verlag, Hamburg 2011.