Voll in die Falle getappt – "Unerträgliche" Zumutung
Dr. André Reder, Berlin
Lieber Klaus Lederer, Du hast am 11. Januar an einer Kundgebung "Solidarität mit Israel – Stoppt den Terror der Hamas" teilgenommen. Nachdem Du erklärst, daß Dir das "alles andere als leicht gefallen ist", hast Du mit deiner Rede "dokumentieren" wollen, warum Du die Möglichkeit genutzt hast, Deine Position dort zu vertreten.
Ich möchte Dir nachfolgend sagen, was mir Deine Rede "dokumentiert" hat:
1. Es ist in der Tat unerträglich, "Tod, Tod Israel" auf Demonstrationen oder anderswo zu skandieren.
2. Ohne beurteilen zu können, wie verbreitet eine solche Orgie unter Deutschen in Wirklichkeit ist (im "Palästinablock" der Demo am 11. 1. 2009 habe ich jedenfalls antisemitische Töne nicht vernommen), ist für mich mindestens ebenso "unerträglich", eine solche Rede von Dir zur Kenntnis nehmen zu müssen, die Du dort gehalten hast. "Unerträglich", weil Du nicht etwa die augenblicklichen furchtbaren Greueltaten der israelischen Armee im Gazastreifen zum Ausgangspunkt Deiner Position nimmst, sondern die irrsinnige Provokation von einigen arabischen Extremisten, vielleicht auch einigen deutschen Antisemiten in Deutschland. Ein solcher Ausgangspunkt ist absolut kein Grund für einen Sozialisten, an einer eindeutig ausgerichteten Kundgebung teilzunehmen und dort eine solche Rede zu halten.
3. Ich pflichte Dir bei, daß man dem Antisemitismus entgegentreten muß. Du greifst aber entschieden zu kurz, wenn Du meinst, daß Auslassungen von fanatischen Antisemiten in Deutschland und der Abschuß von Mörsergranaten und Raketen auf Südisrael "Ausgangspunkt" der Diskussion über Antisemitismus sein müssen. Ich rechtfertige weder Antisemitismus noch Hamas-Raketen. "Unerträglich" für mich ist, wie gedankenlos Du die 60jährige Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes und das Leid mehrerer Generationen eines im Exil bzw. unter Besatzungszustand lebenden Volkes bei Deinem "Ausgangspunkt" gänzlich ausblendest. Solange die Ursachen (Vertreibung, Nichteinhaltung von Grundsatzbeschlüssen der UNO seit 1948 und Verweigerung der Existenz eines eigenständigen souveränen Staates Palästina, entwürdigende Demütigung durch Besatzungsregime, Mauerbau und anhaltende Ausweitung besetzter Gebiete und Siedlungsbau) für diesen längsten Konflikt nach dem zweiten Weltkrieg fortbestehen, wird ein angestrebter militärischer "Sieg" nicht verhindern können, daß früher oder später sich eine Bewegung gegen dieses Unrecht erneut formieren wird.
4. Angesichts des bisher blutigsten Feldzuges der israelischen Armee in der 60jährigen Geschichte des Konfliktes prangerst Du in "unerträglicher" Weise einseitig das Vorgehen der Hamas an, ohne die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Völkermord an den Palästinensern seitens der israelischen Elite auch nur zu erwähnen (von nichtssagenden Allgemeinplätzen abgesehen). Während Du die Raketen der Hamas beim Namen nennst, sind die Luftangriffe bei Dir anonym. Die "asymmetrische Konfliktstrategie" der Hamas benennst Du konkret, die "hochentwickelten Waffensysteme" werden wertneutral abgetan. Das ist verantwortungslos, zynisch und deshalb "unerträglich". Verantwortungslos ist außerdem, daß Du Dir die israelische Propagandaversion zu eigen machst, Israel habe den "Krieg ohne Gnade" gegen Gaza als Antwort auf den Raketenbeschuß der Hamas begonnen. Seit dem 29. Dezember 2008 hättest Du wissen müssen, daß diese "Operation", wie Israels Verteidigungsminister zugab, von langer Hand geplant und vorbereitet gewesen war. Nicht die Hamas, sondern Israel hat den Waffenstillstand gebrochen, erst danach flogen wieder die Kassam-Raketen. Hamas war vorher bereit, den Waffenstillstand zu verlängern. Darauf hat Israel bekanntlich nicht geantwortet.
5. Keiner wird Dir widersprechen, wenn Du sagst, daß Du bei den Opfern der einen und der anderen Seite nicht unterscheiden kannst und wirst. Aber hättest Du als "Sozialist und Humanist" nicht wenigstens auf die Unverhältnismäßigkeit des Agierens des israelischen Militärs aufmerksam machen können und müssen? Die Folge eines solchen barbarischen Vorgehens ist aber der gravierende Unterschied bei Opferzahlen, bei der Anzahl von Verwundeten und bei Zerstörungen in Südisrael und im Gazastreifen, die Du offensichtlich als gegeben hinnimmst. Das ist ebenfalls "unerträglich".
6. Dich beunruhigen heute künftige Raketen der "fundamentalistischen Fanatiker", die eine größere Reichweite erreichen könnten, bereits mehr als die Phosphorbomben, die bereits von den Fanatikern der anderen Seite gegen die palästinensische Bevölkerung angewendet werden. Das ist "unerträglich". Wo bleibt Dein Humanismus und Völkerrechtsverständnis?
7. "Unerträglich" ist, daß ein "Sozialist und Humanist" der Linkspartei, der in Berlin inzwischen keine unwesentliche Rolle spielt, ausgerechnet im israelischen Sicherheitschef und in Zbigniew Brzezinski "Stimmen der Vernunft" ausmacht.
8. Zu Recht sprichst Du vom "sicheren Israel in Frieden" und vom "sicheren Palästina in Frieden" sowie davon, daß dies nur durch "politische Übereinkunft" erreicht werden kann. Durch Deine einseitige "Solidaritätsrede" hast Du eben diesem hehren Ziel einen Bärendienst erwiesen. Denn Deine Erkenntnis ist so alt wie die UNO-Resolution 242. Von deren Verwirklichung ist vor allem das palästinensische Volk weiter entfernt als je zuvor. Eine entscheidende Ursache dafür ist die auf militärische Lösungen ausgerichtete Politik der israelischen Machtelite. Wie kann eine "politische Übereinkunft" erreicht werden, wenn die für Diplomatie zuständige Ministerin Israels erst vor drei Tagen wieder erklärte: "Wir entscheiden, wann der Krieg endet, nicht die Staatengemeinschaft"? Diese Arroganz der Macht und deren Auswirkungen halten bereits seit über sechs Jahrzehnten an. Daß Du das in deiner Rede nicht einmal konkret benennst, geschweige denn zurückweist, ist für mich ebenfalls "unerträglich". Genau das wäre aber im Interesse einer politischen Lösung auf dem Wege von ergebnisorientierten Verhandlungen, im Interesse aller Völker, nicht nur der Nah-Ost-Region. Wie überhaupt, sprichst Du vom Gazakonflikt oder vom Konflikt (eine Verniedlichung der jetzigen Kriegsexzesse von "Gegossenes Blei") im Gazastreifen und berücksichtigst in keiner Weise den bereits lang anhaltenden gefährlichen Gesamtkonflikt in der Region.
9. Deine Rede "dokumentiert", daß Du Dich jeder Mühe entzogen hast, erschütternde Fakten zur Kenntnis zu nehmen und wenigstens für einen Augenblick Dich in die Lage der Schwächeren und größte Not leidenden Menschen in Palästina zu versetzen. Du nimmst ihnen faktisch übel, daß sie sich auf palästinensischem Territorium nicht nur mit Steinen gegen das anrückende israelische Militär zur Wehr setzen, sondern in ihrer Verzweifelung sich veralteter Raketen bedienen, um von der vielgepriesenen "Weltgemeinschaft" nicht völlig vergessen zu werden. Ich rechtfertige nicht den Raketenbeschuß, ich will Dir nur sagen, daß die Raketen eine dramatische Folge der anhaltend ausweglosen Lage der Palästinenser sind. Diese Deine Position ist übrigens nicht gerade angetan, die Glaubwürdigkeit der Linkspartei in Deutschland zu stärken, die stets betont, an der Seite der sozial Schwachen zu stehen.
10. Deine Rede "dokumentiert" schließlich, daß ich in ihr keinen einzigen Satz gefunden habe, den die israelische Regierung, die Bundesregierung, die US-Administration oder die anderen im Bundestag vertretenen Parteien nicht mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen könnten. Damit ist Dir sogar eine ganz große "Koalitionszustimmung" gelungen. Die "Staatsräson" und die darauf basierende Fähigkeit zur künftigen Regierungsbeteiligung im Bund lassen grüßen!
Ich habe nur noch eine Frage, warum angesichts Deiner Rede ist es Dir eigentlich "alles andere als leicht gefallen", der Einladung der Jüdischen Gemeinde folgend, auf der Kundgebung zu reden? Du hast kein kritisches Wörtchen an der israelischen Politik gewagt, Dich einseitig zeitgeistgemäß solidarisch geredet und keineswegs Dich mit "Menschen in Bedrohung und Not" in Palästina solidarisiert. Das empfinde ich "unerträglich" und bin auf Deine Antwort gespannt.
Meine Absicht war nicht, hier eine allseitige historische Analyse des Nah-Ost-Konfliktes vorzunehmen, sondern auf einige Aspekte einzugehen, die Du bar jeglichen Realitätssinns völlig ausgeblendet oder absolut einseitig solidarisch dargelegt hast.
Du bist längst keine Privatperson mehr und trägst Verantwortung. Ich weiß nicht, mit wem Du Dich über den Inhalt Deiner Rede vorher beraten hast, wenn überhaupt. Was ich aber weiß, und das habe ich auch versucht zu "dokumentieren", daß Du nicht in meinem Namen und auch nicht im Namen von vier Familienangehörigen gesprochen hast, die aufgrund ihrer jüdischen "Rasse" und politischen Haltung von den Faschisten verfolgt und – das betrifft zwei von ihnen – ermordet wurden.
Berlin, 15. Januar 2009
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2008-04: Kuba, Kubaner und Menschenrechte