Vielleicht sollte ich Wikipedia eine E-Mail schicken ...
Mit Täve Schur im Gespräch
Am 17. Mai 1955 wurdest Du Gesamtsieger der Friedensfahrt. Wie ist Deine Erinnerung an dieses Ereignis?
Täve Schur: Wenn ihr mich nach der Erinnerung an 1955 und meinen damaligen Erfolg fragt, müsste ich diese Frage ausdehnen, denn: Meine Erinnerungen an die Friedensfahrt beginnen 1952. Da kam ich mit der Friedensfahrt das erste Mal nach Warschau, und wenn ich auch als 14-jähriger das Ende des Krieges bei Magdeburg erlebt hatte, war Warschau für mich die erste Begegnung mit dem Krieg. Ich schrieb mal: »In Warschau am Start beobachtete ich eine in der Menge stehende alte polnische Frau. Sie stand am Straßenrand, und in ihrem Gesicht glaubte ich zu lesen: Da sind sie wieder die Deutschen. Was wollen die hier inmitten der Trümmer? Ich geriet ins Grübeln. Was mochte sie alles erlebt haben. Ich habe diese Szene nie wieder vergessen und empfinde sie intensiver als meinen Sieg, zu dem auch noch einiges zu ergänzen wäre.
Zum Beispiel, dass ein ehemaliger polnischer Offizier, der Anfang der fünfziger Jahre als Sportjournalist der »Glos Ludu« tätig war, viel Widerstand zu überwinden hatte, als er vorschlug, 1950 DDR-Radrennfahrer zur Friedensfahrt einzuladen. Zu einer Zeit also, zu der Adenauer verkündet hatte, die Oder-Neiße-Grenze nie als deutsche Grenze anzuerkennen. Die DDR-Rennfahrer, die 1950 eingeladen worden waren, – daran muss ich erinnern! – knüpften 20 Jahre vor dem legendären Kniefall Brandts in Warschau die ersten freundschaftlichen Kontakte zu Polen. Ich wiederhole: Zwanzig Jahre!
Nun zu meinen Siegen. Es stimmt, dass ich 1955 meinen ersten Einzelsieg errang, aber für mich war der 1953 errungene Mannschaftssieg nicht weniger wert, und wer sich daran noch erinnern kann, wird mir bestätigen; dass er in der DDR so gefeiert worden war wie mein Sieg. Zwei Etappen vor dem Finale lag die durch Verletzungen auf ein Quartett reduzierte DDR-Mannschaft in der Mannschaftswertung 21 Minuten hinter Dänemark! Durch eine Glanzleistung reduzierten wir diesen Rückstand auf der drittletzten Etappe nach Katowice auf 42 Sekunden und auf den 206 Kilometern nach Lodz verwandelten wir diesen Rückstand in einen Vorsprung von 3:11 min. Die letzte Etappe nach Warschau musste die Entscheidung bringen und wir verloren Zeit – aber nur zehn Sekunden. Ein Mannschaftssieg wog damals so viel wie ein Einzelsieg, und deshalb wurden wir in der DDR in unseren blauen Siegertrikots stürmisch gefeiert.
Zwei Jahre später errang ich dann den Einzelsieg. Ich hatte die Etappe nach Leipzig gewonnen, lag dann nur noch zwei Sekunden hinter dem Belgier Verheist, ließ ihn auf der Etappe nach Berlin hinter mir, gewann das Gelbe Trikot des Spitzenreiters und verteidigte es gegen meinen ärgsten Rivalen, den Tschechen Jan Veselý, bis nach Warschau.
Zu den Gratulanten gehörte Polens Ministerpräsident Cyrankiewicz, und mir kam das Bild der Polin wieder in die Erinnerung, denn Cyrankiewicz hatte Jahre in Auschwitz gelitten.
Und ich wiederhole: Als ich meinen ersten Sieg errang, hatte ein Bürger der DDR gewonnen, während den Rennfahrern der BRD durch Bonner Weisung untersagt worden war, an diesem Rennen teilzunehmen. Daran sollte man hin und wieder ruhig mal erinnern und es vielleicht noch deutlicher formulieren: Aus rein politischen Gründen wurden sportliche Entscheidungen getroffen! Meine Erinnerungen von damals? Viel Blumen, viel Jubel!
Nun ein Auszug aus dem Roman Erik Neutschs »Spur der Steine«, verbunden mit der Frage, ob die Schilderung im Roman der Realität entspricht.
»Diese Weltmeisterschaft wurde mit besonderer Spannung erwartet. Der Radsport der Republik hatte in den letzten Jahren und Monaten einen internationalen Erfolg nach dem anderen errungen. Der Große, wie er manchmal genannt wurde, ein Vorbild an Willenskraft und Bescheidenheit, Kapitän auch der Mannschaft, die am Ende des Etappenrennens im Mai die Trikots in Gelb und Blau, die Zeichen der Sieger, erobert hatte, war bereits zweimal hintereinander als Weltmeister gefeiert worden, in Frankreich und in Holland; nun traute man ihm auf dem Boden der Heimat den dritten Titelgewinn zu. (…) Ein dritter Triumph des Weltmeisters schien sich anzubahnen. Wenn er weiterfuhr, wer wusste, ob die beiden anderen ihm folgen könnten … Und da geschah das Unerwartete. Balla hörte deutlich den Befehl. Der Weltmeister verzichtete auf jedes Risiko. Er rief dem Kleinen zu: »Tritt an! Ab, ab! Ich halte ihn.« Der Kleine schoss davon, stürzte sich die Abfahrt zum Ziel hinunter. Für Sekunden schien der tapfere Belgier zu erstarren. Mit einem solchen Angriff hatte er nicht gerechnet. Der Kapitän setzte sich vor ihn und bewachte ihn. Er sicherte den Sieg seines Mannschaftskameraden.«
Die Antwort könnte knapp ausfallen: Neutsch hat das richtig wiedergegeben und da gibt es eigentlich nichts zu kommentieren. Sicher ist es ein Service für den Leser, an diesen Text hier zu erinnern.
Und in diesem Zusammenhang sollte ich vielleicht einige Sätze eines BRD-Schriftstellers einfügen, der mich mal in Leipzig aufgesucht hatte und dessen Buch über mich erst unlängst wieder vom Deutschlandradio – also dem Sender der Bundesregierung – gesendet wurde. Es handelte sich um Uwe Johnson. Der Mann war irgendwie beeindruckt von meiner Popularität und wollte vielleicht literarisch darstellen, wie sie in der DDR entstanden ist – natürlich durch die SED!
Hier zunächst das Zitat aus jenem Buch »Das dritte Buch über Achim«. »Ein Jahr zuvor hatte Achim den besten Sieg sichtbar verschenkt: In der Wochenschau stehen auf hitzeweißer Zementbahn zwei Männer in Trikots, beide haben die Arme abwechselnd erhoben und bewegen sie redend, auf der Leinwand erscheint groß das aschenzitternde Gesicht des unvermuteten Siegers, der sagt ACHIM das kann ich nicht wieder GUTmachen; der Bildschnitt erinnert an steile Straßenkrümmung, über die sehr klein auf zierlichen Rädern zwei Fahrer nebeneinander in die Höhe staken, der Kleinere sackt abwärts, der Größere reißt aus unabänderlich schnellem Treten einen Arm von sich, weit ausgereckte Hand packt des anderen Sattel und reißt ihn vor und hoch und vorbei an Achim, der gemächlicher fährt hinter dem sausenden Abfall des anderen vom Gipfel der Steigung, gedankenreich springt der Film zurück in die Unterredung, Achim geht krumm wie drohend auf den Beschenkten zu, sekundenlang überdeckt sein singender Ton (QUATSCHE nicht! JETZT bist du mal Meister) die erklärenden Worte des Kommentars, der unverzüglich schwindet unter dem Aufschrei der paukenden Musik, die zeigt beide auf dem Siegespodest aber Achim auf dem zweithöchsten Sockel ...«
Es lohnt nicht, diese Darstellung etwa analysieren zu wollen. Es ist die Sachsenring-Version eines Literaten von Format, aber – ich erwähnte den 17. Juni schon – eben mit dem Versuch, mich auf die andere Seite zu befördern. Dass man das heute noch sendet, ist für niemanden von uns ein Wunder. Dass sich auch die Doping-Jägerin Geipel zu Wort meldete und mich als Dopingsünder deklarierte, konnte niemanden überraschen. Der Feldzug gegen die DDR ist nun kein Dreißigjähriger Krieg, sondern ein Feldzug für die Ewigkeit, wenn ich auch bei den vielen Versammlungen, zu denen man mich einlädt, fast jeden Tag erlebe, wie diese »Hetz«-Jagd von Tag zu Tag mehr an Wirkung einbüßt. Selbst, wenn man Uwe Johnson aus dem Grab holt.
Was hast Du nach Deinem Ausscheiden aus dem aktiven Sport gemacht?
Diese Frage will ich nicht kommentieren, weil ich nie – was viele wissen – nie »ausgeschieden« bin. Ich saß für die Linke vier Jahre im Bundestag und gehörte dort – kein Wunder – zum Sportausschuss. Ich müsste eine lange Liste schreiben, welche Funktionen ich heute noch im Sport bekleide, halte das aber für überflüssig.
Viele von Euch werden gelesen haben, welcher Knatsch der Entscheidung, mich nicht in die Halle des Ruhms aufzunehmen, folgte. Die Herren, die dafür zuständig sind, sind Unternehmer, und ich bin keiner! Die in dem Kreis tätigen Sportfunktionäre hatten nicht den Mut, den Unternehmern die Meinung zu sagen! Inzwischen bin ich längst im Goldenen Buch des Vereins »Sport und Gesellschaft« und damit gebührend geehrt.
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein Erlebnis aus dem Jahr 1954 ein, das Euch vielleicht interessieren könnte. Die Internationale Radsportföderation hatte damals auf Betreiben der »anderen« – in Bonn regierenden – Deutschen fünf Anträge, den Radsportverband der DDR in die Internationale Föderation (UCI) aufzunehmen, abgelehnt. Das funktionierte, weil Bonn seine Botschafter in aller Welt aufforderte, von den in jenen Ländern zuständigen Radsportfunktionären für die nötigen Gegenstimmen zu sorgen. Dann fand die Weltmeisterschaft 1954 im bundesdeutschen Solingen statt, und die UCI-Funktionäre sorgten für eine Ausnahme: Die DDR darf starten ohne Mitglied zu sein. Bonn fand keinen Ausweg, weil die UCI-Funktionäre sie fragten: »Seid ihr gegen die Deutschen?« Bei strömendem Regen kam es zu einem dramatischen Finale, das der Belgier Cauter gewann und mich als Sechsten einkommen ließ.
Hinter dem Ziel kam es zu einem heftigen und langwierigen Streit: Eine Wermutfirma hatte einen Pokal für den besten Deutschen gestiftet und wollte ihn dem Westdeutschen – Zehnter des Rennens – überreichen. Die Begründung: Schur sei aus dem Osten! Man rief die Kampfrichter und die bekundeten, dass Schur Sechster und Altig Zehnter geworden war und dass beide Deutsche waren! Das war vor 61 Jahren!
Unter wikipedia.de findet sich zu Dir: Schur bekannte sich auch nach der »Wende« zu den Ideen des Sozialismus. Welches sind Deine Beweggründe hierfür?
Vielleicht sollte ich Wikipedia eine E-Mail schicken und wissen lassen, dass meine Laufbahn diese Frage hinlänglich beantwortet, aber wenn jemand diese Frage dennoch stellt, sollte er wissen, dass ich den Sozialismus für die bessere Gesellschaftsordnung halte! Und das muss ich niemandem begründen oder etwa erklären. Auch wenn heutzutage schnellere Autos produziert und Kompanien von Polizisten benötigt werden, um diese Raser zu belangen …
Gustav Adolf Schur war von 1959 bis 1990 Abgeordneter der Volkskammer der DDR, von 1998
bis 2002 vertrat er die PDS im Deutschen Bundestag. Das Interview führte Ellen Brombacher.