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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Verschwommenes "Sehen" und Ungereimtes

Walter Ruge, Potsdam

 

Der Einfachheit halber soll hier mit dem Begriff "Wir" operiert werden, konfessionsfreien Menschen, die sich noch heute der Engelsschen Devise "Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen" verbunden fühlen, mit Engels der Auffassung sind, daß Klassenkampf eine wesentliche Triebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts geblieben ist.

Ein dem Sozialismus verbundenes Quartett hat hier in Potsdam ein Diskussionspapier "Die DDR –wie wir sie sehen", vorgestellt. Es wäre billig, solche Bemühungen als Provinzposse abzutun – Analoges finden wir in Berlin, in Sachsen und anderswo. "Auch die Nebelbildungen im Gehirn des Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses" (Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie). Auf diese Potsdamer "Sublimate" und das bei der Darstellung verwendete Kauderwelsch soll hier kurz eingegangen werden.

Der Glaube an den "Burgfrieden" (1914) hat sich weder als friedensstiftend noch als sozialistisch erwiesen, alle Bemühungen – einer Seite –, den Klassenkampf einzustellen, zu leug­nen, sind "Sublimate" der Eliten, beflügelten den Klassenkampf durch eben diese Eliten. Unser Quartett "sieht" die DDR auch ohne ‚Klassenkampf’ – in Abwandlung der Engelsschen These wird diese verschämt mit "Andersdenkende wurden unterdrückt" umschrieben. Hatte man sich – bis hin zur LINKEN – verrenkt, um den ,Klassenkampf’ und seine Ursache, den ‚Kapitalismus’ aus der Welt zu schaffen – es gab nur noch "Dienstleistungsgesellschaft" und "Informationsgesellschaft". Mit der unübersehbaren "System"-Krise haben sich die "Macher" rückbesonnen, "Kapitalismus", biologisch abgewandelt zu "Raubtierkapitalismus" und "Heuschreckenkapitalismus". Hier blieb die Kritikfreudigkeit der Vier aus, sie beschränkte sich – der Glaubwürdigkeit halber – auf die DDR. Sie verstehen nicht, daß die DDR längst instrumentalisiert ist, der entbrannte "Kampf" keine "Aufarbeitung" der Vergangenheit, sondern Klassenkampf der Gegenwart ist.

Ein Glied dieses Quartetts glaubt gar, "daß man die heutige Gesellschaft viel glaubwürdiger kritisieren kann, viel eher bündnisfähig wird, wenn man auch selbstkritisch ist". – Woher diese Milchmädchenrechnung? Man schlägt erst gemeinsam mit Gegners Schergen, den Knabe und Birthler, auf das "Erbe der PDS" ein und wird dadurch mit seiner Kritik an eben diesem Gegner "glaubwürdig"; Glaubwürdigkeit ist saisonbedingter Bestandteil des Wahlkampfes – nicht mehr.

"Die LINKE muß (...) ihren Beitrag leisten, der zukünftig gesamtdeutsch und generationen­übergreifend Akzeptanz findet"(ebenda) geht in dieselbe Richtung; weniger ‚Ursachen’ sind gefragt als ‚gesamtdeutsche Akzeptanz’. Dieses Unentwegt-Kritisieren-Müssenist krankhaft, zudem unwissenschaftlich. Der Wissenschaftler forscht, sucht, studiert, experimentiert, um der Sache auf den Grund zu kommen – er kritisiert nicht. So sollten wir auch auf den Pfaden der Vergangenheit vorgehen. Nur Dilettanten könnten (harsche) "Kritik" an den römischen Gladiatorenkämpfen, den Autodafé der spanischen Inquisition, der Pariser Guillotine üben; es hieße, das Muttermal auf dem Hintern einer Braut zu "kritisieren". Niemand weiß besser als wir, daß die DDR Muttermale hatte – wir waren entsetzt über die Praxis des Freikaufs von rechtmäßig abgeurteilten Straftätern – 20 Jahre danach solche "Deformationen" "anzupran­gern", reduziert sich aufs Posieren vor gleichgeschalteten Kameras.

Wehe den "Menschen, die das Herrschaftssystem der DDR vergleichsweise milde wahrgenommen haben" (ebenda). Das ruft unsere Vier auf den Plan: Sie werden "ihre Bemühungen um die Auseinandersetzungen mit der DDR-Geschichte nicht verringern" – hier wird nicht kritisiert, nicht aufgearbeitet, hier wird bereits Partei ergriffen gegen die "milden Menschen", das ist selektive "Verarbeitung" der DDR-Geschichte à la Brie und BILD. Wo kommt bloß diese "vergleichsweise milde" Sicht her? "Diese Sicht auf die Geschichte ist vielmehr der Ablehnung des Bestehenden geschuldet" (ebenda). Hier trennen sich die Geister in "Ablehnung des Bestehenden" und eben in Apologeten. Überall tobt der Kampf um Hartz IV, Tarife, Arbeitsplätze, Mindestlöhne, Renten, Kinderbetreuung, bis hin zum Krieg in Afgha­nistan; und da darf die ‚gesamtdeutsche Sicht’ auf DDR-Geschichte nicht der "Ablehnung des Bestehenden" geschuldet sein. So sind den Autoren die "bestehenden" steuer-gefräßigen Ban­ken, die Immobilienhaie – die es in der DDR nun mal nicht gab – kein Dom im Auge, dafür "prangern" sie ein "bürokratisch-zentralistisches Regime" an.

Schon in seiner "Kritik des Agnostizismus" würdigt Engels die (englischen) "respektablen Mittelklassen" – in Potsdam würdigen die deutschen "respektablen Mittelklassen" "mit Respekt viele ältere Mitglieder unserer Partei, die sich für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt haben" – und klassenübergreifend wird diese "Anerkennung und Respekt" auf die­jenigen, "die sich gegen stalinistische Deformationen zur Wehr gesetzt haben, Vertrauen für die Zukunft zu gewinnen" erweitert! So ein bißchen riecht das schon nach Engels und seinen "Nebelbildungen im Gehirn des Menschen".

"Repressionen und Unfreiheit können nicht auf Dauer den ökonomischen ‚Erfolg’ ersetzen" – hat die SED außer dem Kaffeeersatz tatsächlich diesen "Ersatz" angestrebt? Wie sich erweist, irren die glorreichen Vier zutiefst: der ständige Ausbau elektronischer Überwachung, V-Leute wohin das Auge schaut, flächendeckende Bespitzelung der Belegschaften kann ökonomische Erfolge, einen DAX, durchaus beflügeln, allerdings streng gekoppelt mit "Unehrlichkeit" und Lügen im politischen Alltag dieses Landes; daran werden Kilometer von Akten der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und die ehrlich gemeinten Bedenken unserer Autoren nichts ändern.

Fern jeder Dialektik wird erklärt: "Der Sozialismus hat das proklamierte Ziel nicht erreicht". Sozialismus aufbauen ist kein Hundertmeterlauf, ein schwieriger, langwieriger Prozeß. Es gehörte zu den Muttermalen der SED – wie übrigens der LINKEN auch – daß ein imaginäres Ziel, wo dann "alles erreicht" ist, von "der Partei" nie "selbst gesetzt" wurde; "Aufbau" bleibt bedeutend umfassender als "Ziel". Wozu diese wichtigtuerischen Feststellungen, dieses Ausleihen von Aufarbeitungsbedarf bei den Opponenten, die "das Thema MfS natürlich nicht außen vorsehen" möchten. Die "selbst gesetzten Maßstäbe" sind ‚Leihgut’.

Nach so viel Politik-Geschnetzeltem lassen die Autoren mit dem "entscheidenden Konstruktionsfehler des Realsozialismus" aufhorchen, es sei "die ungenügende Verknüpfung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität", was ja ursprünglich einmal Liberté, Egalité, Fraternité hieß, und hier ,aktualisiert’ – durch Austausch der ursprünglichen "Brüderlichkeit" gegen ,Solidarität’ – geboten wird. Bleiben wir bei diesem Schlußakkord; "Solidarität" eine unübertroffene Stärke der DDR, international und national – Chile, Nicaragua, Vietnam, Angela Davis, Patrice Lumumba und Paul Robeson sprechen für sich. Die "Volks-Solidarität"hat alle Seebeben des ,Anschlusses’ überstanden. Alle Menschen – die sehr jungen Autoren hatten wahrschein­lich noch keine Gelegenheit – waren "frei" und bereit, sich in diese allgemeine "Solidarität" einzubringen.

Was die "Egalite" anbelangt, so soll gerade diese "sozialistische Gleichmacherei" der Gesellschaft der "Leistungsträger" unterlegen sein. Heute ist in jeder Tageszeitung, auch konservati­ven, nachzulesen, was ein ,Leiharbeiter’ und besagte ,Leistungsträger’ an Boni, Managergehältern, Abfindungen kassieren und in Steueroasen verlagern; bedaure, so was gab’s bei uns nicht – wer also die DDR und ihr imperialistisches Gegenstück sehen will, dem sind keine kommunistischen Scheuklappen verordnet.

Aber die "Freiheit", da fangen wir an zu stottern – man denkt an Mallorca, Kalifornien, Bali, die blaue Adria und die Zugspitze; keine "Reisefreiheit"! So einfach ist das, denn auch heute hängt die "Reisefreiheit" vom Geldbeutel ab – das ist in den einschlägigen Prospekten nachzulesen. Inzwischen hat sich der Freiheitskatalog – mit "Freiheit" der Niederlassung, "Freiheit" des Erwerbs von Eigentum – betrifft Polen und Tschechien – aufgestockt, da hätte ich besser die Finger von gelassen.

Walter Ruge bezieht sich hier auf einen Text von Sascha Krämer, Stefan Wollenberg, Pete Heuer und Tino Erstling, zu finden unter www.dielinke-potsdam.de/partei/debatte.

 

Mehr von Walter Ruge in den »Mitteilungen«:

2009-04: Kurzfassung – sächsisch

2008-10: Mit der DDR gewachsen

2008-03: Die Arena stimmt nicht