Unterschiedliche Verläufe, ähnliche Merkmale, dieselben Ursachen
Prof. Dr. Harry Nick, Berlin
Ein Vergleich der Weltwirtschaftskrise 1929/31 mit der gegenwärtigen Krise
Die Weltwirtschaftskrise 1929 begann mit einem Crash an der New Yorker Börse. Am 22. Oktober sanken die Kurse um 6,3 Prozent, was eine heftige Verkaufswelle auslöste, die am Donnerstag, den 24. Oktober – in Deutschland war dies infolge der Zeitverschiebung Freitag, der 25. Oktober – ihren Höhepunkt erreichte. Binnen einer Woche verlieren die Aktien 40 Prozent ihres Wertes. Diese Krise breitete sich schnell auch in Europa aus.
Die gegenwärtige Krise begann im August 2007 mit dem Zusammenbruch einiger Hypothekenbanken. Sie begann als Immobilienkrise, entwickelte sich zur Bankenkrise, schließlich zu einer Weltkrise des Finanzsystems, dann zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise und kann in Verbindung mit Umweltkrise, sozialer Krise zu einer allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems werden. Die markantesten Ereignisse dieser Krise waren der Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers am 19. September 2008 und die durch Verstaatlichung verhinderte Pleite der Münchener Hypo Real Estate im selben Jahr.
Globale Labilität
Die Ausbreitung der Weltwirtschaftskrise 1929 hatte sichtbare Ursachen in traditionellen internationalen Finanzbeziehungen. Ihr schnelles Übergreifen auf Deutschland erklärt sich vor allem aus der sehr hohen Verschuldung gegenüber den USA. Deutschland sicherte seine Währungsstabilität, bestritt seine ihm im Versailler Vertrag auferlegten hohen Reparationszahlungen an die Siegermächte des 1. Weltkrieges und seine staatliche Wirtschaftsförderung mit hohen US-Krediten. Bis 1929 hatte Deutschland 15 Mrd. Reichsmark Kredite von den USA erhalten.
Die heutigen Krisen entstehen und entfalten sich auf der Grundlage neuartiger Globalisierung der Weltwirtschaft, vor allem des Finanzsystems. Die bemerkenswerteste ausführliche und treffende Analyse der Krisenursachen im heutigen Finanzsystem ist von George Soros, dem erfolgreichsten Geldspekulanten des vorigen Jahrhunderts. Er veröffentlichte in kurzer Abfolge zwei Bücher: Krise des globalen Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr (1998); Die offene Gesellschaft. Für eine Reform des globalen Kapitalismus (2001). Ihn trieb ernste Sorge um den Bestand des Kapitalismus. "Daß das kapitalistische Weltsystem seinen eigenen Defekten unterliegen wird, liegt meines Erachtens auf der Hand – wenn nicht dieses Mal, dann bei der nächsten Gelegenheit". Aber noch sei Rettung möglich. Die Ursachen der globalen Krise lägen im internationalen Finanzsystem. Von den wirklichen Vorgängen hätten die heutigen Marktradikalen keine Ahnung oder würden sie ignorieren. Nicht etwa das Uhrenpendel, sondern die Abrißbirne sei die treffende Metapher für die entfesselte Marktwirtschaft im globalen Währungs- und Finanzsystem. "Das derzeit vorherrschende Paradigma – daß Finanzmärkte zum Gleichgewicht tendieren – ist ebenso irrig wie irreführend".
Die neue Art internationaler Finanzkrisen wurde erstmals deutlich sichtbar in der "Mexiko-Krise" 1995, wiederholte sich in der "Asien-Krise" 1997 und in folgenden Krisen. Die mexikanische Regierung hatte im Dezember 1995 den Peso um 15 Prozent abgewertet. Bislang hatten solche Aktionen fast nur die Interessen der Exporteure und Importeure des betreffenden Landes und deren internationale Partner betroffen. Diesmal aber war alles anders. Auf den internationalen Finanzmärkten drohte eine Panik auszubrechen. Weil global players über 50 Mrd. USD in mexikanischen Staatsanleihen angelegt hatten. Quasi über Nacht mußten Stützungsgelder in dieser Höhe aufgetrieben werden, um eine Finanzkatastrophe globalen Ausmaßes zu verhindern. Dies erinnerte durchaus an eine in der Chaos-Theorie beliebte Metapher: Wenn auf einer japanischen Insel sich von einer Blüte ein Schmetterling erhebt, könne dies auf der anderen Seite der Erdkugel heftige Unwetter auslösen. Ein Beispiel dafür, daß eine offenkundig unsinnige These einen wahren Kern haben kann: In einem sich in nur labilem Gleichgewicht befindlichen System vermögen relativ geringe und nur punktuelle Veränderungen tiefgreifende Veränderungen des gesamten Systems hervorzurufen. Wie auch zufällige und geringe Anlässe große Fischschwärme zu Richtungsänderungen veranlassen können. Die Weltwirtschaft befindet sich ein einem sehr labilen, sehr anfälligen, permanent gefährdeten Gleichgewicht.
Nur auf dem Gebiet der Finanzen ist wirtschaftliche Globalisierung schon heute total. Finanzoperationen sind informationelle Operationen. Auf der Grundlage moderner Informationstechnik und der Abschaffung der internationalen Finanzkontrollen seit den siebziger Jahren verbreiten sich finanzielle Transaktionen quasi mit Lichtgeschwindigkeit rund um den Erdball.
Hauptquelle der globalen Labilität ist die US-Politik, die Rolle des USD im internationalen Finanzsystem.
Die USA haben einen gefährlichen Kreislauf installiert: Die enorm gestiegenen Kriegskosten werden zum Großteil durch Verschuldung, vom Ausland, finanziert; die Militärmacht wiederum wird für die Stützung des Einflusses, der Autorität der USA in der Welt und ihrer Währung eingesetzt. Die durch den Großmarkt USA, aber auch politisch-militärisch verbürgte US-Dominanz läßt den Dollar in dieser globalen Welt als die noch verläßlichste Währung erscheinen.
Aber die Stabilität des Dollars wackelt, sowohl infolge sehr hoher Auslands- wie auch Binnenverschuldung. "Für den Kapitalismus ist die finanzielle Instabilität das, was für die Könige und Diktatoren des Mittelalters die Nachfolgeprobleme waren. Beide gefährden die Systeme an sich", resümiert George Soros.
Wettenökonomie, Blasenökonomie
Spekulation, Geldblasen ohne realwirtschaftliche Grundlagen gehören zum Kapitalismus von seinem Anbeginn. Seit der ersten großen Spekulationsblase im Jahre 1637 in Holland kann man sich den Kopf darüber zerbrechen, ob die Akteure wirklich wissen, was sie tun. Haben sie wirklich geglaubt, daß eine Tulpenzwiebel den Wert eines Hauses oder einer Kutsche mit vier Pferden haben könnte wie auf dem Höhepunkt der damaligen Tulpenmanie?
Spekulation, Geldblasen sind an kapitalistischen Krisen immer beteiligt. Im heutigen Kapitalismus kann solche Spekulation nicht nur einzelne Erzeugnisse in einzelnen Regionen heimsuchen, sondern das Kapital im globalen Maßstab. Auf dem Höhepunkt der "New-Economy"-Blase in den 1990er Jahren wurde eine Steigerung des Marktwertes der an den Börsen von New York, Tokio und Frankfurt/M. notierten Unternehmen in zehn Jahren um das Vierzehnfache registriert, während Umsatz und Gewinne nur um etwa 60 Prozent gestiegen waren. Eine solche Preissteigerung hätte zur Inflation führen müssen, wenn das "geschöpfte" Geld nicht wieder in das Geldsystem geflossen wäre. Auch die Krise 1929 wurde durch Überbewertung der an den Börsen notierten Unternehmenswerte ausgelöst.
Wer da glaubt, Spekulation durch Aufklärung, moralische Appelle aus der Welt schaffen zu können wie die Bundeskanzlerin, der irrt sich sehr. Es geht bei der Spekulation nicht um unrealistische Annahmen, auch nicht um Gier allein. Spekulation verheißt hohen und schnellen Gewinn. "Wer zu spät kommt, denn bestraft das Leben" gilt gleich doppelt, für den, der zu spät einsteigt, wie für den, der zu spät aussteigt. Natürlich spielen Gier und Selbsttäuschung eine Rolle, vor allem der Glaube, man werde die richtigen Zeitpunkte schon erwischen. Ausschlaggebend aber ist die Profitmacherei.
Wollte man die Unterschiede zwischen der heutigen Krise und der Krise 1929 gründlich analysieren, müßte man die wichtigsten Veränderungen des Kapitalismus in seinem neuen Krisenzeitalter untersuchen. Hier nur ein paar Stichpunkte: die neuen undemokratischen weltwirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen; Veränderungen in den Eigentumsstrukturen durch Etablieren neuer großer Geldsammelstellen, Investmentfonds, darunter Hedgefonds; ausufernde Privatisierung in Bereichen, die selbst Liberale noch vor wenigen Jahrzehnten ablehnten, wie die öffentliche Daseinsvorsorge, selbst hoheitlicher Aufgaben des Staates, Bereiche der Kultur und der individuellen Lebensweise; und nicht zuletzt die neuen Finanzinstrumente wie Derivate, Kreditbriefing, Leerkäufe.
Stärkere Bankenaufsicht, Bonusbegrenzungen u.a. mögen nützlich sein; an fortschreitender Entfaltung der Kapitallogik werden sie nichts ändern: Trennung von Eigentum und Verfügung über das Kapital, Konzentration und Zentralisation, Monopolisierung, Wirtschaften mit fremdem Geld, Spekulation, Anonymisierung der Geldbewegungen. Die Dominanz des Finanzsystems über die Realwirtschaft ist nicht aufzuhalten und Wirtschaftslenkung gleicht immer mehr schlichtem Wetten.
"Diese Wirtschaftsform besteht aus Wetten, die auf Geschäftsverläufe abgeschlossen werden, die noch gar nicht existieren, die vielleicht niemals existieren werden. Und auf dieser Basis schließt sie Wetten ab auf Spiele, auf Wertpapiere, auf Schulden, Zinsen und Wechselkurse, die inzwischen jeden Eigenwert verloren haben und sich auf völlig willkürliche Projektionen beziehen, sich nahe zügellosester Phantasie und quasi parapsychologischer Prophezeiungen bewegen. Diese neue Wirtschaft besteht vor allem aus Wetten, die auf Resultate all dieser Wetten abgeschlossen werden. Und dann wettet sie auf die Resultate der Wetten, die auf diese Resultate abgeschlossen werden, usw.", sagt die französische Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Viviane Forrester in ihrem Buche Terror der Ökonomie.
Die Hauptursache
Es ist die Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums, sowohl der Vermögen wie der Einkommen, von unten nach oben. Trotz aller Entwicklungshilfe sind die Geldströme aus den armen in die reichen Länder, auch durch die Politik des IWF und der Weltbank, heute immer noch größer als in der umgekehrten Richtung. In den entwickelten Ländern, am deutlichsten zu sehen in den USA und der Bundesrepublik, fließt der gesamte Wert- und Vermögenszuwachs der reichen Minderheit zu, die Arbeitseinkommen stagnieren, die Renten sinken. Kinder- und Altersarmut nehmen zu. Die bislang relativ wohlhabende "soziale Mitte" erodiert, zerbricht; aber nicht in der Mitte: Eine Minderheit wird reicher, die Mehrheit ärmer.
"Fett schwimmt nach oben", wie jeder weiß, das Geld offenbar auch. Sowohl von den unteren zu den oberen sozialen Schichten, wie auch von der Realwirtschaft, den produzierenden und dienstleistenden Unternehmen, in die Finanzsphäre. Und von dort findet es immer schwerer heraus.
Das eben ist das neue Grundproblem: Es sammeln sich Gelder an, die nicht wissen, wo sie hin sollen, die verbissen nach profitabler Anlage suchen, die Mindestmarge der Profitabilität gar hinaufschrauben, aber den Zugang zur Realwirtschaft immer schwerer finden. Wegen nicht ausreichender Massenkaufkraft vor allem. Den Ausweg sucht das Geld dann eben zunehmend – im Geldsystem selber.
Der zunehmende Druck der flüssigen Geldmengen sucht natürlich auch in andere neuen Anlagesphären zu entweichen, die aber sämtlich die Tendenz der sozialen Polarisierung verstärken. Die Anlage suchenden Geldmassen erzeugen einen kräftigen Druck in Richtung fortschreitender Privatisierung, der eben nicht nur durch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte verursacht ist – die wiederum vor allem ein Ergebnis sozialer Polarisierung sind –, sondern noch mehr durch den Anlagedruck privater Geldvermögen. Die Anlage suchenden Geldmassen treiben die Aktienkurse in die Höhe und verursachen so eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Realwert der Unternehmen und ihrem börsennotierten Wert, sammeln sich in Spekulationsblasen. Ohne der sozialen Polarisierung Einhalt zu gebieten, eine Umverteilung in entgegengesetzter Richtung zumindest für eine gewisse Zeit vorzunehmen, werden auch in Zukunft Finanzkrisen nicht zu vermeiden sein.
Auswege?
Es gibt einen verhängnisvollen Unterschied im Umgang der herrschenden Eliten mit diesen beiden Weltwirtschaftskrisen. Der Ausweg aus der Krise des vorigen Jahrhunderts war vor allem das Eingehen eines Sozialstaatskompromisses, begründet durch die Politik des New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Es war eine keynesianische Politik der Nachfrageförderung noch vor dem Erscheinen des Hauptwerkes von John Maynard Keynes "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" im Jahre 1936. Das große Verdienst von Keynes ist zweifellos darin zu sehen, daß er das von Marx erstmals umrissene und von ihm begründete Phänomen einer hinter dem Gesamt-Angebot zurückbleibenden Gesamt-Nachfrage als erster unter den bürgerlichen Ökonomen ebenfalls akzeptiert, wiederholt hat. Wie Marx – und mit denselben Argumenten – widerlegte Keynes das Theorem des Jean Baptiste Say (1787–1832), wonach es volkswirtschaftlich kein Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage und damit eigentlich keine Wirtschaftskrisen geben könne, weil jedes Angebot sich angeblich eine Nachfrage in gleicher Höhe schaffe. Die Bundeskanzlerin hat alles, was sie im FDJ-Studienjahr über den Kapitalismus gelernt und wohl auch gelehrt hat, wieder vergessen und hält heute das Verhalten von Bankern für die alleinige Krisenursache. Das Herumstochern im Nebel ist für die Neoliberalen auch in dieser Sache unvermeidbar. Josef Ackermann verkündete in Washington noch im Oktober 2008, als die Finanzkrise schon offen ausgebrochen war: Der Verlauf der Krise zeige, daß die meisten Finanzinstitute "fundamental stark" seien: das Weltfinanzsystem sei "fundamental gesund", und der Staat solle sich heraushalten. Ein halbes Jahr später rief er dann nach Hilfe des Staates für die Banken. Roosevelt hat mit seiner nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik des New Deal den Kapitalismus gerettet, äußerte der US-amerikanische Ökonom John Kenneth Albraith. Heute ist der Kapitalismus sicher weniger gefährdet, weil ihm der weltpolitische Herausforderer abhanden gekommen ist. Aber die Blockade der wichtigsten Auswege aus der Krise – vor allem die Beendigung der Umverteilung des Reichtums von unten nach oben – wird die Labilität, die soziale, auch die moralische Erosion der kapitalistischen Gesellschaften steigern.
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