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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Und die Kinder führten ihn

Dr. Hartmut König, Panketal

 

Zum Gedenken an Janusz Korczak, der vor 75 Jahren 200 Waisenkinder des Warschauer Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka begleitete

 

Die kleine Kolonne wird von einem SS-Mann getrieben, der den zwölfjährigen Jungen mit der Geige unter dem Arm an die Spitze treten und aufspielen lässt. In der Gesia-Straße des Warschauer Ghettos begegnet ein Augenzeuge der in Reihe marschierenden und strahlend singenden Schar von Waisenkindern. Der Augenzeuge heißt Władysław Szpilman. Er ist der berühmt gewordene Pianist, der sein wunderbares Überleben dem polnischen und jüdi­schen Widerstand sowie der seltenen Menschlichkeit eines deutschen Besatzungsoffiziers verdankt. Er hat uns seine Erinnerung ins Gedächtnis gesetzt: Der Zug der jüdischen Wai­senkinder wird von deren Erzieher Janusz Korczak begleitet. Der hält zwei der Kleinsten auf dem Arm und erzählt ihnen etwas Lustiges. Korczak, der die Wahrheit so achtet, hat sich zum Schwindeln entschlossen. Er hat den Kindern erzählt, es ginge in die Sommerfrische nach draußen – raus aus der Stickluft des Ghettoelends, aus der Hunger-, aus der Todeszo­ne. Die Kinder haben das Hübscheste angezogen und träumen das Unmögliche. Sie tragen ein grünes Hoffnungsbanner im Zug. Korczak, der sich retten könnte, besteht wie seine engste Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska darauf, die Kinder auf ihrer Fahrt in das Vernich­tungslager Treblinka zu begleiten. Es ist der 5. August 1942. Wann Korczak, Wilczyńska  und »ihre« Waisenkinder ermordet wurden, bleibt unbekannt.

Güte darf man verlangen

Wer war dieser schmächtige, oft kränkelnde Doktor der Pädiatrie, der Kindheit als Leben und nicht als Vorbereitung darauf beschrieb; der 1930 als Maxime festhielt: »Güte darf man verlangen, aber keine Aufopferung«, um sich 12 Jahre später das nicht zu Verlangende selbst als Pflicht aufzuerlegen; der vom Arzt zum Pädagogen wurde, weil er gerade die Schwächsten, die Verlassensten unter den Kindern durch menschliche Achtung und Zu­wendung, durch Stolz stiftende Fürsorge und die Überzeugung von gerechten Lebensent­würfen heilen und begleiten wollte?

Eigentlich hieß er Henryk Goldszmit. Ob er 1878 oder im Jahr darauf geboren wurde, wuss­te er selbst nicht genau. Es heißt, die Familie lebte nach den Ansichten der jüdischen Auf­klärungsbewegung Haskala, war in Glaubensdingen nachlässig und fühlte sich zutiefst im Polnischen verwurzelt. Der Vater war ein bekannter Warschauer Rechtsanwalt. Man leb­te im Wohlstand, bis der Ernährer so früh starb. Noch als Schüler, später als Medizinstu­dent gab Henryk Nachhilfeunterricht, um für den Unterhalt der verarmten Familie zu sor­gen. Er selbst blieb ledig und kinderlos. Sensible Erinnerung an manche Demütigungen in seiner eigenen  Kindheit entfachte eine leidenschaftliche Hinwendung zu den von der Gesell­schaft benachteiligten Heranwachsenden. Zeitweilig ein erfolgreich praktizierender Kinder­arzt, ließ er sich von den Reichen gut bezahlen, um die Behandlung Bedürftiger für 20 Kope­ken zu ermöglichen (gar nichts berechnen hieß: nichts können).

Henryk Goldszmits Interesse für die Kinder der Warschauer Elendsbezirke und die Verhält­nisse, unter denen sie lebten, war bereits zu seiner Studentenzeit geweckt. Er gab kostenlo­sen Unterricht, verteilte in den Slums kleine Geschenke und versuchte, ein bisschen Freude in die Öde der Armutsreviere zu bringen. Als Schüler soll er einmal gesagt haben: »Das kapi­talistische System muss gestürzt werden, ich weiß nur noch nicht wie.« Als Stu­dent veröf­fentlichte er seine erste sozialkritische Erzählung und nannte sie »Kinder der Straße«. Erst­mals tauchte hier sein Autorenname Janusz Korczak auf, unter dem er in der Zeitschrift »Głos« (»Die Stimme«) fortan publizierte und der zum Signum seiner Lebensleis­tung wurde. Bald hat sich der jüdische Linksdenker im zaristisch besetzten Teil Polens ne­ben dem sozia­len Elend mit einem zunehmenden Antisemitismus und all den zerstobenen Hoff-nungen auseinanderzusetzen, die sich 1905 an die Revolution in Russland geheftet hatten. Er kam zu dem Schluss: »Die Welt reformieren bedeutet, die Erziehung zu reformie­ren.«

Korczak, der Erzieher

Im Jahre 1909 erhält Janusz Korczak die schicksalhafte Einladung in ein jüdisches Kinder­heim. Bereits in den vorangegangenen Jahren hat er in Sommerkolonien für arme War­schauer Kids als Betreuer gearbeitet und meinte später, hier habe er das ABC der Erzie­hungspraxis erlernt. Nun bahnt sich sein Wechsel vom Kinderarzt zum Pädagogen an. Er lässt sich auf den Vorschlag ein, Warschauer Waisenkinder zu betreuen, hat zunächst mit der Optimierung von Bauplänen zu tun und zieht als Direktor im Herbst 1912 mit ein­hundert Kindern sowie Stefania Wilczyńska als leitender Erzieherin in das Waisenhaus in der Krochmalna 92. Die staatlichen Aufwendungen genügen nicht. Ohne die Spenden rei­cher Geldgeber kann das Haus nicht arbeiten. Aber Korczak hasst verletzende Mildtätig­keit. Einmal wirft die feine Gesellschaft Bonbons, Kekse und Apfelsinen aus den Fenstern ihrer Limousinen. Korczak befiehlt den Kindern, auch die angelutschten Leckereien durch die Wagenfenster zurückzupfeffern. 

Er lernt in der Krochmalna wie später in dem von ihm betreuten Domizil »Unser Haus«, wo gleichfalls Waisen, aber auch Kinder politisch verfolgter Eltern aufgenommen werden, dass die Einforderung von Gehorsam und Disziplin, die Subordination unter den Willen fraglos wohlmeinender Erzieher ein wichtiges Entwicklungsziel umgehen: Die Selbstbehauptung der Persönlichkeit. Kinder sollen »ihre Forderungen und Bedingungen stellen und das Recht haben, auch Vorbehalte anzumelden«. Korczak schreibt darüber das Buch »Das Recht des Kindes auf Achtung«. Er bildet in seinen Heimen Kindergruppen, in denen Pro­bleme diskutiert und Lösungen beratschlagt werden. Er führt die Kinderselbstverwaltung in Form eines Kinderparlaments (Kinder-Sejm) ein, unterhält ein Kameradschaftsgericht und eine Zeitung, initiiert Patenschaften über Neuzugänge mit schwierigen sozialen Prä­gungen. Zu den Gesetzen des Kameradschaftsgerichtes schreibt er: Das Gericht »muss die Stillen beschützen, damit ihnen die Starken nicht am Zeuge flicken, das Gericht muss die Gewissenhaften und Fleißigen beschützen, damit ihnen die Fahrlässigen und Faulpelze nicht im Wege stehen. Das Gericht muss darauf achten, dass Ordnung herrscht, weil Un­ordnung am meisten die guten, stillen und gewissenhaften Menschen schädigt. Das Ge­richt ist nicht die Gerechtigkeit, aber es muss nach Gerechtigkeit streben, das Gericht ist nicht die Wahrheit, aber es strebt nach Wahrheit.« Es ist ein Kindergericht, von Kindern gewählt, das nach hundert Paragraphen des Verzeihens, aber nur zehn des Verurteilens Recht spricht. Korczak selbst steht einmal vor dem Kameradschaftsgericht, weil er verbo­tenerweise das Treppengeländer hinuntergerutscht ist – einsehbar der schnellste Weg zu einem kranken Kind. Der Doktor und Erzieher weiß sehr wohl, dass seine Zuwendung für die armen und elternlosen Kinder der Gesellschaft nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Er nennt sie eine »Oase, die leider von dem bösen Sand der Wüste, die sich ringsum er­streckt, allmählich zugeschüttet wird«.

Korczak und der faschistische Moloch

Der zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen. Janusz Korczak, der die 60 überschritten hatte und ernsthaft krank war, zog aus Protest seine pol­nische Majorsuniform an. Selbst dann noch, als Hitlers Wehrmacht Warschau bereits be­setzt hatte. Was ihn auf die Straßen trieb? Die Sorge um Heizung, warme Kleidung und Ver­pflegung für die Kinder. Mit Aufrufen wandte er sich an polnische Juden und Christen, bat um »Darlehen«. 1940 organisierte er sogar noch einmal ein Sommerlager in Goclawek. Im selben Jahr pferchten die Faschisten die jüdische Bevölkerung Warschaus und anderer Landesteile in das Ghetto. Eine halbe Million Menschen vegetierten hier. Auch Janusz Korczak musste mit seinen Waisenkindern an diesen Höllenort ziehen. In die Chłodna-, später in die Śliska-Straße. Mit immer mehr Kindern auf immer engeren Raum. Korczak weigerte sich, den gelben Judenstern zu tragen. Eine Verurteilung, die wohl den Tod bedeu­tet hätte, konnte mit einer Kaution aus Spendengeldern abgewendet werden. Der kranke Korczak erbettelte immer wieder Geld für die Kinder, bewahrte sie vor dem Hungertod. Mehr noch: Umgeben von unmenschlicher Tortur versuchte er, in sein Waisenhaus Momen­te der Freude und der Ablenkung zu tragen, Atemzüge voll Freundlichkeit und Geborgen­heit. Märchenstunden, Lesungen und Konzerte verdrängten für eine Weile das tödliche Elend, das der Nazi-Terror gebracht hatte. Als 1942 in Berlin der Plan zur Vernichtung der Juden gefasst war, gab es im Ghetto noch Relikte von Hoffnung. Wohl auch bei Korczak. Aber an sich dachte er nicht. Er lehnte Angebote, ihn mit gefälschten Papieren in Sicherheit zu bringen, empört ab. Es ging ihm um die Kinder. Schließlich wurden Vorberei­tungen für einen Aufbruch getroffen, den Korczak seinen Schützlingen als Landausflug be­schrieb.

Am 18. Juli 1942 erlebten sie im Waisenhaus die letzte Theateraufführung. Ein Stück von Rabindranath Tagore, in dem ein schwerkranker Junge die nahe Welt nur durch sein kleines Fenster sieht und sich nach der großen fernen Freiheit üppiger Natur sehnt. Am 22. Juli, es war Korczaks Geburtstag, begannen im Ghetto die Deportationen. Am 5. August gingen die Waisenkinder ihren Weg zum Sammelplatz der Juden. Korczak führte die Kinder – und die Kinder führten ihn.

Der faschistische Moloch mit seiner widerwärtigen Gier, das »rassisch Fremde« auszulö­schen, ist im Gewitter der Roten Armee und ihrer Verbündeten zerschlagen worden. Aber im faschistisch infizierten Nationalgesabber einer neuen Rechtsfront wabert alte Götzen­verehrung. Ist die große Masse zu sehr mit Shopping und WhatsApp-Gedöns beschäftigt, als dass man hoffen dürfte, sie würde die Regierenden zu einem glaubhaften Antifaschis­mus und einem global wirksamen Humanismus tragen? Warum kann sich in der Bundesre­publik eine Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne halten? Warum prustet so viel unifor­mierte und zivile Entrüstung, wenn eine Ministerin mit über 60-jähriger Verspätung in der Bundeswehr ein bisschen braunen Staub wischen muss? Die strammen Nationalen notie­ren sich, wer mit antifaschistischem Geschichtsbewusstsein auf den Müll wirft, was sie für deutsche Ehre halten. Und wenn es mich schon würgt, sehe ich den Waisenzug und Korcz­ak, den schmächtigen polnisch-jüdischen Helden, den sanften Humanisten, der sich nicht retten wollte und die Kinder – Samenkörner einer besseren Welt – nicht retten konnte. Und der uns zuschreit: Seid wachsam! Wartet nicht, bis »völkisches« Vergessen blökt: Welcher Kindertrupp soll da ins Gas gezogen sein?

 

Beim Kennenlernen und Verstehen der Vita Janusz Korczaks half mir Helma Hopfers biografische Skizze in »Janusz Korczak – Die Kinder zuerst«.

 

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