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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Um die Seelen der Deutschen

Eberhard Butter, Berlin

 

»Wir haben Berlin erstürmt, doch die Seelen der Deutschen werden wir erst erkämpfen müssen. Das wird eine schwere Schlacht sein…« [1], so erläuterte Marschall Shukow auf der ersten Parteiaktivtagung der Berliner Garnison der Roten Armee im Mai 1945 die Aufgaben der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland.

Aus der historischen Erfahrung wusste der große Heerführer, dass sich die meisten deutschen Seelen nicht von selbst öffnen würden und auch höhere rationale Einsicht nicht zu erwarten war. Die Naziideologie, jahrelange antibolschewistische Propaganda und die mentalen Wirkungen der wenige Tage zuvor erlittenen totalen militärischen, politischen und moralischen Niederlage waren überall spürbar. Nicht nur schwer, sondern sehr schwer und langandauernd sollte diese Schlacht werden. Diesen neuen, nun friedlichen Auftrag erhielt vor allem die Informationsverwaltung unter ihrem Leiter Oberst Sergej Tjulpanow der am 6. Juni 1945 gebildeten Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, die unter Befehl des Marschalls Shukow und später der Armeegeneräle Sokolowski und Tschuikow stand. Die Informationsverwaltung war im Rahmen der Beschlüsse von Jalta und Potsdam und des Besatzungsrechtes verantwortlich für das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Ihr oblagen Anleitungs-, Informations- und Kontrollaufgaben gegenüber Institutionen, Parteien und Personen. Zur Informationsabteilung gehörte die Kulturabteilung mit ihrem Leiter Oberstleutnant Alexander Dymschitz. Zusammen mit deutschen Antifaschisten sollten diese Einrichtungen mithelfen, Grundlagen für eine antifaschistisch-demokratische Ordnung in einem einheitlichen Deutschland zu schaffen, die auch verhindern sollte, dass von deutschem Boden wieder Kriege ausgehen können.

Schweres Erbe

Der Begriff Kulturoffizier soll wie von anderen Autoren und Medien verwendet werden, um dem zunächst notwendigen »verordneten« Antifaschismus ein persönliches Gesicht zu geben [2]. Trotz gewisser Gegensätzlichkeit des Kulturellen zum Militärischen dürfte er ein angemessener Ausdruck dafür sein, was die Rettung eines Teiles europäischer Zivilisation und Gesittung aus den Trümmern des deutschen Faschismus erforderte. Bereits in den letzten Kriegsjahren wurden dazu Vorbereitungen in der Sowjetunion mit deutschen Antifaschisten getroffen. Diese Offiziere ohne Vorbild und Beispiel, die ein hohes Fachwissen von europäischer und deutscher Kultur und Literatur besaßen, mussten geduldig diskutieren, auch agitieren und über die Beschlüsse der sowjetischen Regierung und der SMAD informieren und Verständnis gewinnen. Im Grunde verlangte man von ihnen Unmögliches: die Umerziehung und Humanisierung möglichst großer Teile der Bevölkerung des ehemaligen grausamen Feindes als politisch und psychologisch noch nicht erfahrene Aufgabe. Die sozialökonomischen Grundlagen des deutschen Imperialismus mussten beseitigt werden, wie es die alliierten Beschlüsse verlangten, begleitet von einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft. Frühzeitig wurde die beschlusstreue sowjetische Deutschlandpolitik der SMAD von den westlichen Alliierten und den rechten Parteiführern ihrer Besatzungszonen als »Sowjetisierung«, besonders der »deutschen Kultur«, verleumdet. Der deutsche Faschismus vor allem hatte neben den materiellen ungeheure moralische, kulturelle und geistige Verwüstungen hinterlassen. Fassungslos reagierten z.B. oft sowjetische Vernehmer von Soldaten der faschistischen Truppen auf Aussagen darüber, warum sie als Arbeiter die Waffe gegen ihre Klassenbrüder richteten. Bei den Aggressoren aller Dienstränge war die Unkenntnis über Wesen und Ziele einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, ihre theoretischen Grundlagen, über Geschichte und Kultur des alten Russlands und selbst Deutschlands weit verbreitet. Von klassengeprägten Gesellschaftsordnungen und ihren inneren Triebkräften und Widersprüchen hörten vernommene höhere Offiziersränge zum ersten Mal, wie sie es selbst bezeugten. In späteren Jahren brachten einige Kulturoffiziere zum Ausdruck, dass sie nicht den Mut gehabt hätten, die Arbeit zu beginnen und an ihren Erfolg zu glauben, wenn sie 1945 das niedrige Niveau des Klassenbewusstseins beim überwiegenden Teil der Arbeiterschaft sowie die tiefe Verwurzelung vieler faschistischer Auffassungen gekannt hätten.

Dieser Geist mit seinen verfestigten Traditionen antikommunistischer Erziehung und Propaganda, historisch gezüchteter Arroganz gegenüber slawischen Völkern und dem rassistischen Wahn waren Voraussetzungen, um das wichtige faschistische Kriegsziel, die Vernichtung der ersten sozialistischen Gesellschaftsordnung und die Okkupation ihres Territoriums, erreichen zu können. So schreibt Sergej Tjulpanow u.a.: »Die Kompliziertheit dieser ›Umsetzung‹ der Theorie in die Praxis wurde dadurch bestimmt, dass sich der größte Teil der deutschen Bevölkerung besiegt und nicht befreit fühlte, dass sie in den ›Russen‹ nur die Sieger sahen und dass nur eine kleine Minderheit die Dialektik vom Sieg über den Faschismus oder der völligen Zerschlagung Hitlerdeutschlands und der Befreiung des deutschen Volkes verstand. Erst nach Jahren trat hier ein Wandel ein…« [3] Wirksam erstickt wurde ein solcher Wandel bereits in seinen Anfängen in den Westzonen, wenn er auch von einzelnen alliierten (meist jüdischen) Offizieren versucht wurde. Thomas Mann schrieb dazu im Zusammenhang mit den medialen Hetzfeldzügen gegen ihn in der Bundesrepublik wegen seines Auftretens zu den Feiern zu Goethes 200. Geburtstag auch in Weimar am 1. August 1949 an den Schriftsteller Paul Olberg u.a.: »In der Ostzone habe ich keine schmutzigen Schmähbriefe und blöde Schimpfartikel zu sehen bekommen, wie sie im Westen vorkamen und nicht nur ›vorkamen‹…« [4]

Antifaschistisch-demokratische Erneuerung Deutschlands

Und so erhob sich der Geist Lessings mit der Aufführung des Nathan der Weise mit Paul Wegener in der Titelrolle am Freitag, dem 7. September 1945, im Berliner Deutschen Theater aus den Trümmern der Stadt. Es folgten weitere Aufführungen des Dramas in anderen Städten. Vorher schon wurden kleinere Theater, die Städtische Oper und die Lindenoper eröffnet. Die Vermittlung der deutschen klassischen Literatur und Philosophie begann bereits in Gefangenenlagern für deutsche Militärangehörige durch sowjetische Kulturbeauftragte. Lessing, Goethe, Schiller, Heine und Kant standen vor allem wegen ihrer humanitären und völkerverbindenden Botschaften auf den Lehrplänen. Dadurch wurde der zivilisatorische Rückfall einer Nation in den Faschismus deutlicher und Fragen nach den Ursachen dringender. Armeegeneral Tschuikow ließ das wegen drohender Kriegsschäden eingemauerte Goethe/Schiller Denkmal in Weimar freilegen und ehrte die Dichter in einer öffentlichen Gedenkfeier bereits im August 1945. Die 1885 gegründete und 1939 von den Faschisten verbotene Goethe-Gesellschaft erhielt im März 1946 ihre Wiederzulassung und die SMAD setzte in dieser Zeit die Klassikergedenkstätten auf eigene Kosten instand. So wurde das Goethe-Nationalmuseum bereits am 28. August 1945 wiedereröffnet. Die Monate nach dem Mai 1945 waren erfüllt von neuem politischen und kulturellen Leben, das auch die Wiedergeburt und Neubildung demokratischer Institutionen und Parteien einschloss: Der Berliner Rundfunk als erster deutscher Sender überhaupt ging am 13. Mai und der Leipziger Rundfunk am 1. September 1945 wieder auf Sendung, die Berliner Zeitung erschien am 21. Mai und die legendäre Zeitung der SMAD Tägliche Rundschau wurde am 15. Mai 1945 gegründet. [5]
Neben Informationen und Erläuterungen zur Besatzungspolitik trug diese Zeitung vor allem dazu bei, eine neue demokratisch-humanistische Kultur und Literatur zu verbreiten, die auch die großen russischen und sowjetischen Traditionen umfasste. Erster Chefredakteur war Oberst Alexander Kirsanow, und ihr hohes politisches und intellektuelles Niveau wird von der einschlägigen Forschung bis zum heutigen Tag gewürdigt. Im Verlag der Täglichen Rundschau erschien ab Mai 1945 die kulturpolitische Halbmonatsschrift Neue Welt. Der im August 1945 gegründete Buchverlag der SMAD hatte u.a. Werke Gorkis, Ostrowskis, Katajews, Gaidars, Scholochows, Majakowskis und der russischen Literatur in seinem Programm. Die Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands fand am 8. August 1945 statt. [6] Die politischen Voraussetzungen aber für einen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn bildeten z.B. die SMAD-Befehle zur Bildung von Parteien und Gewerkschaften, von Zentralverwaltungen für Wirtschaft, Justiz und Volksbildung, zur Vorbereitung der Schulen auf den Schulbetrieb, zur Eröffnung der Hochschulen und zur Entfernung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus dem Justizdienst. Sie wurden zwischen Juni und September 1945 erlassen. An der Ausarbeitung und Umsetzung dieser Befehle hatten die Kulturoffiziere und deutsche Antifaschisten ebenfalls Anteil. Sie trafen auf hohe ideologische Schranken und äußerst begrenzte materielle Bedingungen. Auf den Gebieten der Bildung, Kultur und des Hochschulwesens waren das z.B. die Offiziere Major Professor Jessin, Hauptmann Professor Ludschuweit, Major Professor Woronow, Major Fjodorow, Oberst Professor Nikitin, Major Professor Woronzow, die auch noch lange mit den Hochschulen und Universitäten der DDR verbunden blieben. Zu den Referenten in der Informationsverwaltung gehörten Ökonomen, Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler, wie Fradkin, Auslender, Rosanow und andere. Besonders populär wurde Oberstleutnant Alexander Dymschiz als Kenner der deutschen Literatur durch sein öffentliches Auftreten bei wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen, durch Publikationen und vielfältige andere Initiativen, z.B. bei der Gründung der DEFA 1946. Als Verehrer Bertolt Brechts nahm er Einfluss auf dessen Einreise 1948 in die SBZ, ebenso auf die Berufung Arnold Zweigs zum Präsidenten der Akademie der Künste. Unvergessen bleibt auch Hauptmann Wladimir Gall, einer der sowjetischen Parlamentäre, die die kampflose Übergabe der Zitadelle Spandau unter Einsatz ihres Lebens am 1. Mai 1945 herbeiführen konnten. Später wurde er Leiter der Kulturabteilung der SMAD in Halle und war ein Freund aus Kriegstagen von Konrad Wolf.

Die beginnende Umwälzung des Denkens

Nach dem zweiten Halbjahr 1945, in dem eine Gruppe hochgebildeter Offiziere der Roten Armee Denkwürdiges leistete, um Millionen Deutschen einen Weg zur Erneuerung von Kultur und Bildung zu weisen, entfaltete sich ein kulturell-politisches Leben, das immer mehr Menschen und Institutionen ergriff. Die SMAD und ihre Offiziere unterstützten z.B. die Volkskongressbewegung gegen die Spaltung Deutschlands, die Vorbereitungen zur Bodenreform und zur Schaffung von Volkseigentum und hielten viele Kontakte zu Vertretern und Funktionsträgern der demokratischen Parteien. Auch fand eine umfangreiche Vortragstätigkeit zu literarischen, philosophischen und Themen der marxistisch-leninistischen Theorie statt. Auch mussten Fragen zur Oder-Neiße-Grenze und zu Demontage- und Reparationsleistungen beantwortet werden. Dabei wurden die Prinzipien der Beratung, Hilfe und Nichteinmischung streng beachtet. Sowjetische Opernensembles, Ballettgruppen und Philharmoniker traten im Besatzungsgebiet auf. Tausende Berliner jubelten am 18. August 1948 vor den Ruinen des Gendarmenmarktes dem Alexandrow-Ensemble zu. Am 28. Februar 1947 wurde das Haus der Kultur der Sowjetunion (später Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft) unter der Leitung des Oberstleutnants Golikow in Berlin eröffnet. Ihm folgte 1949 die Einrichtung eines Hauses des Kindes (später Zentralhaus der Jungen Pioniere) mit dem angeschlossenen Theater der Freundschaft. Ein weiterer großer Schritt zu mehr Verständnis für die Völker der Sowjetunion war die Gründung der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion (später Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft) mit ihrem Präsidenten Jürgen Kuczynski am 30. Juni 1947. Sie hatte 1985 noch sechs Millionen Mitglieder und war nach dem FDGB die zweitgrößte Massenorganisation der DDR. Rückschauend sagte später einmal Sergej Tjulpanow: »In bestimmter Hinsicht war die ›Sturm- und Drangperiode‹ der Jahre nach 1945 wie eine kleine Oktoberrevolution; hier war der Anfang zu etwas ganz und gar Neuem. Wir alle spürten die Romantik der Umwälzung des Denkens.« [7] Ende der 1940er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind Offiziere der SMAD, die diesen historisch einmaligen Kampf mit dem vollen Einsatz ihrer Person und ihrer politischen Verantwortung geführt haben, im Zusammenhang mit den Aktionen der KPdSU-Führung gegen angebliches Kosmopolitentum und vermuteten Zionismus Repressionen ausgesetzt worden. Auch sie bleiben in unserer ehrenvollen Erinnerung an Jahre friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen unseren Völkern.

Der Beitrag stützt sich auch auf: Anne Hartmann, Wolfram Eggeling: »Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ/DDR 1945-1953«, Akademie-Verlag Berlin, 1. Auflage, 1998.

 

Anmerkungen:

[1] Zitiert nach: Sergej Tjulpanow: »Deutschland nach dem Kriege (1945-1949)«, Dietz Verlag Berlin, 1987, S. 15.
[2] Die Kulturoffiziere waren in der Regel qualifizierte Akademiker in Uniform.
[3] Sergej Tjulpanow, ebenda, S. 35.
[4] Thomas Mann: »Briefe 1948-1955 und Nachlese«, Aufbau-Verlag Berlin / Weimar, 1968, S. 101/102.
[5] Mitarbeiter u.a.: Wolfgang Harich, Fritz Erpenbeck, Hedda Zinner, Wolfgang Leonhard, Stefan Heym, Karl Grünberg, Hans Fallada, Bernhard Kellermann, Willi Bredel, Alexander Abusch, Theodor Plivier, Gustaf Gründgens.
[6] Seinem Präsidialrat gehörten u.a. an: Johannes R. Becher (Präsident), Bernhard Kellermann, Günther Weisenborn, Erich Weinert, Ernst Legal, Gustav von Wangenheim, Paul Wegener, Eduard von Winterstein, Ernst Busch, Gerhart Hauptmann als Ehrenpräsident.
[7] Sergej Tjulpanow: »Zeit des Neubeginns«, S. 52, 54.

 

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