Überlegungen zum Internationalen Frauentag
Brigitte Triems, Berlin
Als sich im August 1910 auf Einladung der deutschen Sozialistin Clara Zetkin Frauen aus 17 Ländern in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen zur II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz trafen, ahnte wohl keine von ihnen, welche weltweiten Auswirkungen die Beschlüsse der Konferenz für die Frauenbewegung haben würden. Bereits 1907 hatte sich in Stuttgart die sozialistische Fraueninternationale formiert. Unter dem Eindruck der industriellen Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen politischen Veränderungen war bei vielen engagierten Frauen die Erkenntnis gewachsen, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für die Erringung des Frauenwahlrechts einzutreten und die "ganze Frauenfrage" auf die Tagesordnung zu setzen.
Die deutschen Sozialistinnen Clara Zetkin und Käte Duncker griffen einen Vorschlag der amerikanischen Sozialistin May Wood-Simons auf, die gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen in der Sozialistischen Partei Amerikas im Februar 1909 einen nationalen Kampftag für das Frauenstimmrecht initiiert hatte und brachten den Antrag ein, "jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient", zu veranstalten.
Kampf für Frauenrechte seit vielen Generationen
Als ich 1980 an der Zweiten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Kopenhagen teilnahm, wollte ich unbedingt das Versammlungshaus im Kopenhagener Stadtteil Nörrebro ausfindig machen, in dem der Internationale Frauentag geboren wurde. Dort angekommen, gingen meine Gedanken zurück an den Mut und die Kraft der Frauen, die viele Generationen vor uns für Frauenrechte gestritten haben.
Ich dachte an die französische Bürgerrechtlerin Olympe de Gouges, die bereits 1791 während der Großen Französischen Revolution in 17 Artikeln die "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" verfasst hatte. Und an die Begründerin der Frauenrechtsbewegung in England, Mary Wollstonecraft, deren Buch "Eine Verteidigung der Rechte der Frau" 1792 international große Beachtung fand. Und an die deutsche Frauenrechtlerin Luise Otto-Peters, die 1848 die erste deutsche "Frauenzeitung" und 1865 in Leipzig den "Allgemeinen deutschen Frauenverein" gründete.
Aber auch an die vielen namenlosen Frauen musste ich denken - an die französischen Frauen, die 1789 während der Französischen Revolution auf ihrem Marsch nach Versailles lautstark das Wahlrecht für Frauen einforderten und an die amerikanischen Arbeiterinnen der Textil- und Lederindustrie, die am 8. März 1857 in den Straßen von New York in einer machtvollen Demonstration ihr Recht auf Arbeit und menschenwürdigere Arbeitsbedingungen geltend machten.
Auch der Erste Kongress der Internationalen Arbeiter-Vereinigung im Jahre 1866, der in einer Resolution erstmalig die traditionelle Rolle der Frau im Haushalt infrage stellte und Berufstätigkeit für Frauen forderte sowie die erste Anti-Kriegs-Konferenz von Frauen 1899 in Den Haag, Beginn einer umfassenden Frauen-Friedensbewegung, waren wichtige Meilensteine auf dem Weg zu jenem denkwürdigen Tag am 27. August 1910 in Kopenhagen.
Am 19. März 1911 wurde der Internationale Frauentag erstmalig in Deutschland, Dänemark, Österreich, der Schweiz und den USA begangen. Immer mehr Frauen anderer Länder schlossen sich an. In Erinnerung an den Internationalen Frauentag 1917, an dem Massendemonstrationen der Petrograder Arbeiterfrauen mit zur Auslösung der russischen Februarrevolution beitrugen, wurde 1921 schließlich der 8. März als einheitliches Datum für den Internationalen Frauentag festgelegt. Im Laufe seiner wechselvollen Geschichte ist er zu einem festen Bestandteil der weltumspannenden Frauenbewegung geworden, auch wenn sich die heutigen frauen- und gleichstellungspolitischen Forderungen wesentlich von denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterscheiden.
Gleichstellung ist Menschenrecht
Vieles hat sich seitdem getan. Historisch betrachtet, haben Frauen in ihrem Ringen für gleiche Rechte für Frauen schon einiges erreicht. Das Bewusstsein, dass Gleichstellung zwischen Frauen und Männern nicht nur ein Grundrecht, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, hat sich zunehmend durchgesetzt. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat das Internationale Jahr der Frau, das auf Initiative von Frauenverbänden 1975 von der UNO proklamiert wurde und deren Höhepunkte der Weltkongress in Berlin und die UNWeltfrauenkonferenz in Mexiko waren, geleistet. Die sich anschließende UNO-Dekade für die Frau "Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden" mit ihren beiden Weltfrauenkonferenzen in Kopenhagen 1980 und Nairobi 1985 und schließlich die Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, die eine umfassende Aktionsplattform für die Durchsetzung der Gleichstellung beschloss, sind weitere markante Punkte. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang auch das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument, das Übereinkommen für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau CEDAW, das 1979 von der UNO-Generalversammlung angenommen wurde, im September 1981 in Kraft trat und dem bis heute 187 Staaten beigetreten sind.
Trotz vieler gesetzlicher Regelungen in den Mitgliedsstaaten der UNO und auch in Europa, der Schaffung von Mechanismen institutionalisierter Gleichstellungspolitik und Umsetzung von "zeitweiligen Sondermaßnahmen zur beschleunigten Herbeiführung der De-facto-Gleichberechtigung von Mann und Frau", wie es in Artikel 4 von CEDAW gefordert wird, haben wir die Gleichstellung von Frauen und Männern immer noch nicht erreicht. Wir leben in einem Staat, der im Artikel 3 des Grundgesetzes formal Frauen und Männern gleiche Rechte garantiert. 1994 wurde diesem Artikel ein Zusatz hinzugefügt, in dem der Staat aufgefordert wird, für die "tatsächliche Durchsetzung" der Gleichberechtigung und die "Beseitigung bestehender Nachteile" Sorge zu tragen.
Auch in der Europäischen Union ist die Gleichstellung der Geschlechter ein Grundprinzip ihrer Politik und des Gemeinschaftsrechtes. Bereits in den Römischen Verträgen von 1957 wurde der Grundsatz der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit festgeschrieben. Im Vertrag von Lissabon wird die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern als Grundwert und Ziel der Europäischen Union festgeschrieben.
Es ist unbestritten, dass die Politik der Europäischen Union einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, um die Gleichstellung der Geschlechter von Frauen und Männern auf die Tagesordnung zu setzen und voranzubringen, auch in Deutschland. Und es hat Erfolge gegeben, auch wenn sie häufig sehr schwer erkämpft wurden, und es des Druckes von Frauenverbänden und anderer Mitglieder der Zivilgesellschaft bedurfte.
Wie sieht es aber in der Realität aus? Obwohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Europa und in Deutschland weiblich ist, kann von der Hälfte der Macht, des Einflusses und der wirtschaftlichen Kraft für Frauen noch lange nicht die Rede sein. Es ist noch viel zu tun. Der Gleichstellungsgrundsatz ist nach wie vor von seiner vollständigen Umsetzung entfernt: Frauen verdienen weniger, sind stärker von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen, übernehmen in der Regel den Löwenanteil der familiären Verpflichtungen und sind in Entscheidungspositionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft deutlich unterrepräsentiert. Daher bedarf es weiterer positiver Maßnahmen, gesellschaftlicher Sensibilisierung und Verbesserung der Rahmenbedingungen. Heute besteht jedoch die Gefahr, dass unter dem Vorwand der Wirtschafts- und Finanzkrise, die längst auch zu einer sozialen Krise geworden ist, die Mittel für Gleichstellungsmaßnahmen eingefroren bzw. gekürzt werden. In vielen Mitgliedsstaaten der EU kann diese Tendenz bereits beobachtet werden.
Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist kein Luxus, den man sich nur in Zeiten des Wachstums und des Wohlstands leisten kann. Gleichstellung ist ein Menschenrecht und demzufolge ein legales und moralisches Gebot. Gerade in diesen Krisenzeiten bietet sich die einzigartige Chance, einen Wandel zu bewirken. Nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt der Gesellschaft sind ohne Gleichstellung undenkbar.
Wahre Gleichbehandlung der Geschlechter macht es zwingend notwendig, die grundlegenden Ursachen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen geschlechterspezifischen Unterschiede anzugehen. In den vergangenen Jahren wurden häufig nur die Symptome der Ungleichstellung bekämpft. Wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sich nicht intensiv mit den der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zugrunde liegenden Mechanismen, mit den Ursachen ungleicher Ressourcen- und Machtverteilung beschäftigen und diesbezüglich radikale Veränderungen in Angriff nehmen, wird auch in den nächsten Jahrzehnten keine völlige Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht werden, und sie wird weiter ein "Ritt auf der Schnecke" bleiben, wie es die Politikwissenschaftlerin Dr. Sabine Berghahn so treffend bezeichnet hat.[1]
Heute gibt es in Europa die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten, die auch einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum geleistet hat und leistet. Diese Tatsache muss sich auch in der gleichen Teilhabe an allen Entscheidungsfindungen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Europas niederschlagen.
Der Internationale Frauentag wird auch in diesem Jahr deutlich machen, dass Frauen ihre Rechte einfordern, denn wie hat Louise Otto-Peters schon 1849 gemahnt: "Mitten in den großen Umwälzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie an sich selbst zu denken vergessen."
Brigitte Triems ist Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes e.V.
Anmerkung:
[1] web.fu-berlin.de/gpo/pdf/berghahn/Ritt_auf_der_Schnecke.pdf
Mehr von Brigitte Triems in den »Mitteilungen«:
2011-11: Gewalt gegen Frauen