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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Über Politik und Moral vor dem Zweiten Weltkrieg

Aus Wladimir Putins Beitrag für die Warschauer "Gazeta Wyborcza"

Schon sieben Jahrzehnte trennen uns von dem tragischen, schwarzen Datum in der Geschichte der Zivilisation – dem 1. September 1939, dem ersten Tag des zerstörerischsten und blutigsten Krieges, den Europa und die ganze Menschheit erleben mußten. (...)

Die gemeinsame moralische Pflicht der heute Lebenden ist es, sich vor den Gefallenen zu verneigen, vor dem Mut und der Standhaftigkeit der Soldaten verschiedener Länder, die den Nazismus bekämpft und vernichtet haben. (…)

Wir sind verpflichtet, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wenn wir eine friedliche und glückliche Zukunft haben wollen. Es ist jedoch äußerst schädlich und unverantwortlich, mit dem Andenken zu spekulieren, die Geschichte zu präparieren und in ihr Anlässe für gegenseitige Vorwürfe und Kränkungen zu suchen. (...)

Die Leinwand der Geschichte ist keine billige Reproduktion, die man stümperhaft retuschieren und von der man je nach Wunsch des Auftraggebers wegnehmen kann, was nicht gefällt. (...) Leider trifft man heutzutage nicht selten auf solchen Umgang mit der Vergangenheit. Wir sehen Versuche, die Geschichte nach den Bedürfnissen der politischen Konjunktur umzuschreiben. In einigen Ländern ist man noch weiter gegangen: Man heroisiert die Helfer der Nazis, stellt Opfer und Henker, Befreier und Okkupanten in eine Reihe. (...)

Symptomatisch ist, daß sich mit der Entstellung der Geschichte häufig jene befassen, die doppelte Standards auch in der Gegenwartspolitik anwenden. (…) So fordert man uns heute auf, ohne alle Bedenken anzuerkennen, daß der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 der einzige "Startschuß" zum Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Die Verfechter dieser Position stellen sich allerdings elementare Fragen nicht: Hinterließ der Vertrag von Versailles, der einen Schlußstrich unter den Ersten Weltkrieg zog, nicht eine Vielzahl von "Minen mit verzögerter Wirkung"? Die wichtigste war, daß nicht nur die Niederlage, sondern auch die Erniedrigung Deutschlands fixiert wurde. Wurden Grenzen in Europa nicht lange vor dem 1. September 1939 schon verletzt? Gab es nicht den Anschluß Österreichs, gab es nicht das Zerreißen der Tschechoslowakei, als sich nicht nur Deutschland, sondern auch Ungarn und tatsächlich auch Polen an der territorialen Aufteilung Europas beteiligten? Am gleichen Tag, als das Münchner Abkommen geschlossen wurde, stellte Polen der Tschechoslowakei ein eigenes Ultimatum und zeitgleich mit den deutschen Truppen schickte es seine Armee in die Gebiete von Cieszyn und Fryšták.

Kann man die Augen vor den Versuchen der westlichen Demokratien verschließen, sich hinter den Kulissen von Hitler "freizukaufen" und seine Aggression nach Osten umzulenken? Davor, wie planmäßig und mit allgemeiner Duldung die Sicherheitsgarantien und die in Europa existierenden Systeme der Rüstungsbegrenzung demontiert wurden?

Schließlich: Wie war das militärpolitische Echo der Vereinbarung vom 29. September 1938 in München? Hatte Hitler nicht schon damals entscheiden, daß man ihm "alles erlauben" werde? Daß Frankreich und England keinen Finger rühren würden, um ihre Verbündeten zu verteidigen? Der "komische Krieg" an der Westfront, das tragische Schicksal des ohne Hilfe bleibenden Polen zeigten leider, daß seine Hoffnungen ihn nicht trogen.

 

Ohne jeden Zweifel kann man den im August 1939 abgeschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt mit vollem Recht verurteilen. Aber ein Jahr zuvor hatten Frankreich und England in München das bekannte Abkommen mit Hitler, das alle Hoffnungen auf die Bildung einer Einheitsfront im Kampf gegen den Faschismus zerstörte.

Heute verstehen wir, daß jede Form von Abkommen mit dem nazistischen Regime aus moralischer Sicht unannehmbar war und keinerlei Aussichten auf praktische Realisierung hatte. Aber im Kontext der historischen Ereignisse jener Zeit sah sich die Sowjetunion nicht nur alleine mit Deutschland konfrontiert, weil die westlichen Staaten das vorgeschlagene System der kollektiven Sicherheit ablehnten. Sondern sie stand auch vor der Bedrohung eines Zweifrontenkrieges, weil gerade im August 1939 das Feuer des Konflikts mit den Japanern am Fluß Chalchyn Gol mit voller Kraft entbrannte.

Durchaus begründet befand es die sowjetische Diplomatie jener Zeit zumindest für unklug, das Angebot Deutschlands über einen Nichtangriffspakt in einer Lage abzulehnen, da mögliche Verbündete der UdSSR im Westen auf analoge Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich bereits eingegangen waren und nicht mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wollten, so daß sie alleine der mächtigen Militärmaschine des Nazismus gegenüberstand. (...)

Im Rückblick auf die Vergangenheit sollten wir alle unbedingt daran denken, zu welchen Tragödien Kleinmut, Kabinettspolitik hinter den Kulissen und das Streben führen, Sicherheit und nationale Interessen auf Kosten anderer zu garantieren. Es kann keine vernünftige, verantwortungsvolle Politik außerhalb moralischer und rechtlicher Rahmen geben. (...) Und in diesem Zusammenhang erinnere ich daran, daß der unmoralische Charakter des Molotow-Ribbentrop-Pakts in unserem Land eine eindeutige parlamentarische Wertung erfahren hat. Das kann man von einer Reihe anderer Staaten nicht sagen, obwohl auch sie in den 30er Jahren streitbare Entscheidungen getroffen hatten.

Und noch eine Lehre der Geschichte: Alle Erfahrungen der Zeit vom Versailler Frieden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zeigen überzeugend, daß es unmöglich ist, ein effektives System kollektiver Sicherheit ohne Beteiligung aller Länder des Kontinents zu schaffen – eingeschlossen Rußland. (...)

Für die Völker der Sowjetunion, Polens und anderer Staaten war es ein Krieg ums Leben, um das Recht auf ihre eigene Kultur, ihre Sprache, ihre Zukunft. Wir erinnern uns aller, die an diesem Kampf gemeinsam mit dem sowjetischen Volk teilnahmen. Der Polen, die sich als erste dem Aggressor in den Weg stellten, Warschau und die Westerplatte im September 1939 mutig verteidigten und später in den Reihen der Anders-Armee und der Polnischen Streitkräfte, der Armia Krajowa und der Armia Ludowa kämpften. Der Amerikaner, Engländer, Franzosen, Kanadier und anderer Kämpfer der zweiten Front, die Westeuropa befreiten. Der Deutschen, die ohne Furcht vor Repressionen dem Hitlerregime Widerstand leisteten.

(...) Das Volk Rußlands (…) versteht gut die Gefühle der Polen im Zusammenhang mit Katyn, wo Tausende polnischer Soldaten begraben liegen. Wir sind verpflichtet, das Andenken an die Opfer dieses Verbrechens gemeinsam zu schützen. Die Gedenkstätten von Katyn und Mednoje wie auch die tragischen Schicksale der russischen Soldaten, die während des Krieges 1920 in polnische Gefangenschaft gerieten, müssen zu Symbolen gemeinsamer Trauer und gegenseitigen Vergebens werden. (…)

Quelle: Neues Deutschland vom 5. September 2009