Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Über den Frieden von Tilsit, den Roten Oktober und die Tendenz der Geschichte

Dr. Wolf-Dieter Gudopp-v. Behm

Kürzlich gab der Deutsche Freidenker-Verband e.V. eine Dokumentation der "Wissenschaftliche(n) Konferenz aus Anlaß des 90. Jahrestages der Oktoberrevolution 1917 in Rußland" heraus. Dort referierte auch Dr. Wolf-Dieter Gudopp-v. Behm, Frankfurt am Main. Sein Thema: "Über den Frieden von Tilsit, den Roten Oktober und die Tendenz der Geschichte". Gerade in Anbetracht der jüngsten Ereignisse in der Kaukasusregion, der sich verschärfenden Auseinandersetzungen zwischen revolutionären Entwicklungen und Konterrevolution in Lateinamerika und nicht zuletzt in Anbetracht der unerträglichen Hetze gegen die Volksrepublik China im Vorfeld und während der so großartig ausgerichteten olympischen Spiele haben wir uns entschieden, den Vortrag von Genossen Gudopp-v. Behm zu dokumentieren.

Vor gut 200 Jahren, im Sommer des Jahres 1807, erschienen auf einem Floß in der Flußmitte des Njemen, aus zwei Richtungen kommend, der französische Kaiser und der russische Zar und begrüßten sich brüderlich. Das reale Symbolbild war eindrucksvoll inszeniert worden. Wenige Tage nach der Begegnung ratifizierten, auf preußischem Territorium, der Romanow Alexander I. und der Korse Napoleon Bonaparte – und unter dem Protektorat des Zaren am Katzentisch auch der Hohenzoller Friedrich Wilhelm – den Frieden von Tilsit. Dem Frieden vorausgegangen waren – neben anderen politischen und militärischen Schlachten und Gefechten – die napoleonischen Siege über die Koalitionstruppen 1805 bei Austerlitz und 1806 über Preußen bei Jena und bei Auerstedt. Noch einmal hatte die Armee Napoleons auf dem Kontinent, wenn auch schon mit nur unklaren Konturen, die progressive Dynamik der Epoche gegen die alten Mächte Europas exekutiert, der Epoche, deren tragende und treibende Klasse die Bourgeoisie war.

Goethe konnte nun endlich, befreit von der Rücksichtnahme auf den Weimarer Hof, Christiane Vulpius heiraten, Hegel bekam die Gelegenheit, den Kaiser, "diese Weltseele", vorbeireiten zu sehen, und über Berlin wurde die Trikolore gehißt.

Der Teufelskreis von Krieg und Frieden

Der Tilsiter Vertrag berührte die Lebensfähigkeit Preußens; daß es überhaupt noch bestehen blieb, hatte es vor allem (trotz seiner janusköpfigen Politik zwischen einer östlichen und einer westlichen Option) dem Interesse Rußlands zu danken. (Staatsrechtlich aufgelöst wurde Preußen erst 1945.) Im Jahre 1918 wird Lenin wiederholt an dieses Datum erinnern: Preußen hat den Vertrag unterzeichnet – und wenige Jahre später war es wieder präsent. Dabei sei Tilsit, so Lenin, für Preußen unvergleichlich katastrophaler gewesen als der Vertrag, den nun, 1918, das wilhelminische Deutschland der jungen und schwachen Sowjet-Macht diktiere. Wenn man keine hinreichend funktionstüchtige Armee mehr besitze, müsse man jeden Vertrag des Siegers hinnehmen. Brest-Litowsk werde ebenso wenig das Ende Sowjet-Rußlands bedeuten wie seinerzeit Tilsit das Ende Preußens. (Zu Brest-Litowsk eine Leseprobe aus Paul Rohrbachs Rußland und wir, Stuttgart 1915, S. 54: "Japan hat wenige Monate vor dem Ausbruch der russischen Revolution [1905] zu verhältnismäßig ungünstigen Bedingungen Frieden geschlossen. Hätte es einige Monate gewartet, so hätte es von Rußland verlangen können, was es wollte. Deutschland darf diesen Fehler nicht wiederholen…") Revolutionärer Realismus bedeute nicht, etwas verloren zu geben, hielt Lenin den zahlreichen Gegnern der Vertragsunterzeichnung entgegen; die bodenlose realitätsflüchtige revolutionäre Phrase hingegen führe ins Nichts. In der Iswestija schrieb er: "Die Epochen der Kriege lehren uns, daß der Frieden in der Geschichte nicht selten die Rolle einer Atempause und der Sammlung der Kräfte für neue Schlachten gespielt hat." (Die Hauptaufgabe unserer Tage: LW 27, S. 149.)

Zurück ins Jahr 1807: Der Njemen bildete jetzt die Grenze des code civil einerseits und der Leibeigenschaft andererseits. Neben Frankreich und Rußland gab es keine kontinentalen Großmächte mehr, und die beiden konnten sich zu einer aktiven friedlichen Koexistenz verständigen. Zwischen ihren essentiellen Interessen schien es keine unüberwindlichen Gegensätze zu geben, und viele dachten, jetzt sei der ersehnte europäische Frieden in Form der brüderlichen Bilateralität besiegelt. Wahrscheinlich sprach auch jemand vom "Ende der Geschichte". Hinter der Kulisse aber galt Kants skeptische Mahnung von 1795 (nach dem Frieden von Basel): "Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden." (Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Präliminarartikel.) Alte und neue Widersprüche und Bedürfnisse verstärkten sich und erzeugten bedrohliche Konfliktlinien; beide Mächte begannen, vorsorglich gegeneinander zu rüsten und sich auf Krieg vorzubereiten.

Napoleon hatte seine alte Einsicht nicht vergessen, wonach Frankreich nur einen dauerhaften, quasi natürlichen Verbündeten haben könne, nämlich Rußland; und doch überschritt, ohne Kriegserklärung, die Grande Armée im Sommer 1812 den Njemen. Damit hatte Napoleon das Urteil über den Ausgang des Abenteuers gesprochen. In Rußland marschierten Eroberer ein, kommandiert von einem verblendeten Monarchen. Die Truppen mußten zu einem erheblichen Teil von Vasallenstaaten gestellt werden. Wofür sollten sie eigentlich kämpfen? Der geschichtliche Rückenwind, der bisher trotz allem immer noch von 1789 her geweht und, wenn auch stark nachlassend, den Kaiser begleitet hatte, blieb aus. Hegelisch gesprochen: Die Notwendigkeit hatte ihn verlassen. (Zugleich zeigte Spanien, daß sich revolutionäre Errungenschaften nicht exportieren lassen, wenn im betreffenden Land selbst kein zureichender Boden vorbereitet ist.) Hinzu kam, daß sich das russische Terrain in vielerlei Hinsicht von den bekannteren und "übersichtlicheren" Ländern unterschied; allein schon die Dimension fraß einen großen Teil der Armee auf. Die Feldherrnkunst Kutusows, der aus der Position des patriotischen Verteidigers operierte, erwies sich als überlegen: Kutusow verweigerte Napoleon die schnelle entscheidende Hauptschlacht. Der russische Rückzug erfolgte überlegt und kontrolliert und war keine Flucht; Kutusow behielt die Initiative. (Der Zar, der das Ganze nicht begriff, beschimpfte zwar seinen General gehörig, was in solchen Fällen üblich ist, er enthob ihn aber nicht des Kommandos, was bemerkenswert ist.) Die äußerst schweren Verluste, die beide Armeen bei Borodino vor Moskau erlitten, trafen den Eindringling mit seinen immensen Nachschub- und Versorgungsproblemen härter als die russische Seite. – Die weitere Geschichte ist bekannt. Nur wenige Wochen konnte sich Napoleon mit seinen dezimierten Truppen im verlassenen und ausgebrannten Moskau notdürftig einrichten. Dann war es aus. –

Die Kriegsperiode führte zu zahlreichen Kontakten und hat die Periode der bürgerlichen Revolution dem europäischen Osten näher gebracht. Nach dem Ende der napoleonischen Kontinentalsperre belebte sich der Handelsverkehr, wenn auch Rußland ebenso wie Nordamerika zunächst vor allem Rohstoffe exportierte und Industriewaren importierte, also im wesentlichen ein großes Kolonialland gewesen ist. Auf kriegerischen und auf friedlichen Wegen faßten fortschrittliche Gedanken in Rußland Fuß und drangen mit den politischen Verbannten bis nach Sibirien vor. Der Dekabristenaufstand von 1825 erfolgte schon aus der Mitte der Macht, war von Petersburger Offizieren getragen. Zwar wurde er schnell niedergeschlagen, aber er war mehr als eine Episode; er signalisierte unüberhörbar, daß die zaristische Autokratie sich nicht mehr sicher wissen konnte und ihren gesellschaftlichen Boden zu verlieren begann.

Rußland – Vorhut der revolutionären Bewegung Europas

Eben war Rußland noch die Garantiemacht der Heiligen Allianz, schon wurde es – verspätet, aber um so mächtiger – von der industriellen Revolution erfaßt. Die Geschichte beschleunigte sich. In den Zentren Rußlands entwickelte sich eine moderne Bourgeoisie und eine moderne Arbeiterklasse. Atheistische oder utopisch sozialistische Gedanken breiteten sich aus. Im Jahr 1872 erschien mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren in Sankt Petersburg eine Übersetzung des Kapital von Karl Marx. Im Januar des Jahres 1882 schrieben Marx und Engels im Vorwort zur von Vera Sassulitsch übersetzten russischen Ausgabe des Manifests, Rußland bilde gegenwärtig "die Vorhut der revolutionären Bewegung Europas"; sie stellten Überlegungen über die Besonderheit der sozialistischen Revolution in Rußland an und hielten es zumindest für möglich, daß "die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so daß beide einander ergänzen …" (MEW 22, S. 55.)

Die russische Revolution von 1905, ausgelöst durch die unerträglichen politischen und sozialen Zustände in Einheit mit der schweren Niederlage im russisch-japanischen Krieg – zu den wenigen russischen Kriegsschiffen im fernöstlichen Meer, die nicht vernichtet worden sind, gehörte die Aurora –, illustrierte sowohl die ungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus im Allgemeinen als auch die ungleichmäßige Entwicklung Rußlands selbst. Die Revolution verband bürgerliche und proletarische Interessen und Forderungen; die Bauernbefreiung stand noch immer oben auf der Agenda.

Weltgeschichtlich war der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium getreten. Die revolutionäre Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus hatte die revolutionäre Epoche der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse schon lange überlagert und war mit ihr verflochten. Mit dem Übergang zum Imperialismus wurde die neue Epochendynamik mit ihrer Richtungsanzeige definitiv zur bestimmenden Kraft der Geschichte. Der Theoretiker der Dialektik dieses Übergangs wurde Lenin – und durch revolutionären Willen und Konsequenz in Theorie und Praxis die epochale Figur oder, wie Hegel gesagt hätte, das "welthistorische Individuum" der Konzentration und Beschleunigung der neuen Zeit.

Das Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus verfaßte Lenin während des Kriegs, im Jahr 1916 in Zürich; Mitte 1917 konnte es in Petrograd erscheinen. In den Revolutionen des Jahres 1917, zwölf Jahre nach 1905, überlagerten und durchdrangen sich die weltgeschichtlichen Bewegungen der beiden modernen Epochen noch immer. Die Gravitationsverlagerung von der einen zur anderen kann am Weg von der Februar- zur Oktoberrevolution in einem entscheidenden Ausschnitt abgelesen werden. Mit der Oktober-Revolution und ihrer Geschichte wurde die maßgebende Epochen-Tendenz in eine relativ stabile Form der politisch-gesellschaftlichen Verwirklichung überführt. Die revolutionären Kräfte konnten die Macht behaupten und sie nutzen. Seit 1789 ist der universalgeschichtliche Fortschritt wesentlich mit Frankreich verbunden, seit 1917 mit Rußland, dem Anschub-Motor des Übergangs zum Sozialismus, der ersten revolutionären sozialistischen Staatsmacht und – seit dem Aufruf An Alle! – der prinzipiellen Friedensmacht.

Oktoberrevolution – epochales Ereignis

Zu sagen, daß die Oktober-Revolution die neue Epoche nicht initiiert, sondern eine qualitativ neue Phase der epochalen Entwicklung eingeleitet hat, mindert ihre Bedeutung nicht im geringsten, sondern präzisiert diese. Der Umfang der historischen Epoche reicht weiter und hat weder einen datierbaren politischen Anfang noch ein ebensolches Ende. Die Oktober-Revolution mit ihrer Entwicklung war ein politisches Geschehen in der Entwicklung der Epoche, das diese bewegte und prägte. Daher bleibt der Rote Oktober, auch wenn seine direkte Geschichte beendet wurde, weltgeschichtlich wirklich, das heißt wirkend.

Die ergänzende Revolution in Deutschland, auf die die Revolutionäre gerechnet hatten, scheiterte, und keine weltrevolutionäre Kettenreaktion entlastete den von außen und im Innern bedrängten neuen Staat. Dennoch wurde die Revolution nicht abgebrochen. Sowjet-Rußland konnte sich halten, und das revolutionäre Terrain erweiterte sich in der Form der UdSSR mit ihren enormen Ressourcen; die Entwicklung des Sozialismus in einem Land erhielt eine solide Grundlage.

Im Kampf der Roten Armee, in der patriotischen Verteidigung gegen den imperialistischen Aggressor (bei der Elemente der Strategie Kutusows nicht zu übersehen sind) und in der Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus vermittelten sich und verschmolzen Menschheitsgeschichte, Geschichte der SU und Geschichte Rußlands. Im Ergebnis wehte über Berlin die Rote Fahne.

Die Sowjet-Union und in ihr Rußland wurden zum Kern- und Kraftgebiet eines Bundes sozialistischer Staaten. In einem labilen, immer von neuem stabilisierungsbedürftigen Gleichgewicht von Koexistenz und Abschreckung standen sich nun auf der Erde Imperialismus und Sozialismus gegenüber.

Keine Garantie, die revolutionäre Front zu halten

Die Entwicklung der Waffentechnik veränderte den Charakter eines möglichen künftigen großen Kriegs und erhöhten dessen Gefahr. Er würde als ein Raketen- und auch Kernwaffen-Krieg unter Einbeziehung des erdnahen Weltraums mit riesigen Vernichtungspotentialen ausgetragen werden; die Rüstung sprengte alle ökonomische Verhältnismäßigkeit und alle politische Vernunft.

Zugleich wurde die internationale und interkontinentale Interdependenz zu einem bestimmenden Zug der Gegenwart – auch aus Gründen der ökonomischen Verflechtungen und der Informations- und Kommunikationstechnik. Konnte der Sozialismus noch in einem Teil der Erde verteidigt und entwickelt werden? Die Erde wurde zu klein für zwei gegensätzliche Gesellschaftssysteme. Wie, gemäß welcher Gesellschaftsordnung soll die eine Erde organisiert werden? Die Friedliche Koexistenz war eine Form, die der widersprüchlichen Einheit und dem instabilen Gleichgewicht während einer langen Zeit Rechnung getragen hat und verhindern half, daß sich die Konfrontation der antagonistischen Blöcke in den heißen Weltkrieg verwandelte. Aber sie war keine Lösung. Vernünftigerweise konnte die System-Frage nicht militärisch entschieden werden. (In der Geschichte hieß das Erzwingen einer Entscheidung mittels Krieg in der Regel kein abenteuerliches Alles-Oder-Nichts, koste es, was es wolle; militärische Aktionen haben ihre rationale Funktion im System politischer Zwecke und Mittel.)

Als seinerzeit die russische Revolution allein geblieben war, haben sich die Bolschewiki unter Lenins Leitung dazu entschieden, die revolutionäre Front zu halten, wissend, daß es fürs Überleben ihres Staates keine Garantie gab. (Man kann das bei Lenin nachlesen.) Wie sah es in der sich extrem verschärfenden kritischen Entscheidungslage der späteren 70er und der 80er Jahre aus? Über diese Zeit wird viel gestritten. Wäre es denkbar, daß sich die sozialistische, die mit der geschichtlichen Perspektive verbundenen Seite – wenn auch höchst unkoordiniert und mit höchst unerwünschten und einigermaßen katastrophalen Resultaten – zurückgezogen hat? Ich verwende bei der Frage mit Bedacht dieses Wort ‚Rückzug’. Die weitere Geschichte wird uns belehren.

Unvorstellbar – rote Kremlfahne niedergeholt, doch kein Ende der Geschichte

Zu befürchten war spätestens seit der Mitte der 80er Jahre ein erneutes Brest-Litowsk. Es kam schlimmer. Nicht nur wurde die Sowjet-Union aufgelöst. Es geschah das Unvorstellbare: Auf dem Kreml wurde die Rote Fahne eingeholt. Was blieb, war Rußland. Sogar die Russische Föderation wollten die Räuber noch in appetitliche Filetstücke zerlegen – nach dem alten "Orangen"-Konzept des deutschen Imperialismus, dessen Einmaleins längst auch die USA gelernt haben. Schlagartig der Ausplünderung preisgegeben stürzte Rußland in den Status einer fast wehrlosen Kolonie ab, an deren Rohstoffen sich die jetzt siegreichen Mächte mit Hilfe einer einheimischen Kompradorenbourgeoisie im Austausch gegen Industriewaren und Glasperlen bedienten.

Rußland, immerhin Rechtsnachfolger der SU, hat den schweren Einbruch überlebt, den Ausverkauf gestoppt und die Souveränität über seinen Reichtum wiederhergestellt; es trägt noch Züge eines rohstoffexportierenden und Industrieprodukte importierenden Koloniallandes, aber es betreibt mit Erfolg national und international eine allseitig antikolonialistische Politik. Rußland ist da, ist wieder da. Es entzieht sich der Heiligen Allianz von heute und steht zu seiner Geschichte, auch zum Sieg der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg. Nicht Rußland, sondern die vorgeblich "einzige Weltmacht" hat Mühe, sich aus dem Morast, in den sie sich mit ihren Kriegen manövriert hat, zu befreien, und von einem "Ende der Geschichte" spricht schon lange niemand mehr. Die Politik "Putin-Rußlands" (in Verbindung mit China, Indien und anderen Mächten) gegen einen weltumspannenden Unilateralismus und die Verhinderung einer portionierenden Zerschneidung des eurasischen Kontinents bedeutet einen Faktor der Stabilität in den internationalen Beziehungen, und sie schafft (in bestimmten Grenzen) progressiven Bewegungen Raum und Luft der Entfaltung.

Ein überaus mutiger und ermutigender Aufbruch ist die chavistische Revolution des rohstoffreichen Venezuela, die in solidarischer Verbindung mit Cuba und anderen sich befreienden Völkern und Staaten und mit einem mitreißenden Elan für das Abschütteln imperialistischer Bevormundung und Ausbeutung und für den sozialistischen Entwicklungsweg eintritt. Um die Tragweite dieser Prozesse zu ermessen, ist zu bedenken, daß der Kapitalismus ohne Kolonien (das bedeutet allerdings auch: ohne kolonialistische Kriege) nicht überleben kann.

Die gewaltige Niederlage des sozialistischen Lagers mit ihren katastrophalen Folgen war eine politische Zäsur ungeheuren Ausmaßes. Aber die Wirklichkeit der Geschichtstendenz mit ihrer begründeten Folgerichtigkeit und Notwendigkeit wurde nicht zerstört; die Weltgeschichte aus dem Ring zu werfen, vermag kein politischer Sieger. In Wahrheit wurde die Entwicklung der Epoche abrupt und doch nicht unvorbereitet in eine neue Phase überführt. Oder haben sich etwa die grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche, die ihre Bewegung treiben, aufgelöst? Die Dynamik und die Energie der Epoche sind nicht verbraucht. Sie haben neuartige, bislang weitgehend unbekannte und noch unerkannte Formen angenommen. "Das Wesen muß erscheinen" sagt Hegel; es sieht so aus, als würde sich der politische Ausdruck des Wesens unserer Epoche vorsichtig wieder beleben.

Veröffentlicht in: Freidenker, Deutscher Freidenker-Verband, Konferenzmaterial: "Die bösen Befreier von Zarismus, Faschismus und Kolonialismus, 90 Jahre Oktoberrevolution - Aufklärung gegen Geschichtslegenden", Offenbach am Main 2008, 139 Seiten, ISBN 978-3-929841-05-3