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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Tragödien sind nicht zu Ende, wenn der Vorhang fällt

Daniela Dahn, Berlin

Wie antisemitisch war die DDR? Die aufklärerische Substanz im Osten war offensichtlich wirksamer als alle westdeutschen Versuche

Angesichts des exzessivsten Rassismus, den die Welt je erlebt hat, war es ausgeschlossen, daß sich nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in Teilen der deutschen Bevölkerung in Ost und West nicht ein latenter Antisemitismus erhalten hätte. Nachdem aber, wie Hannah Arendt befand, der Totalitarismus in Deutschland mit Hitlers Tod und in den realsozialistischen Staaten mit Stalins Tod vorbei war, stand vor beiden deutschen Regierungen die Aufgabe, diesem Erbe mit wirksamen Überwindungsstrategien entgegenzutreten. Historiker und Publizisten haben bei der Suche nach den überzeugenderen Ansätzen die einmalige Chance, so etwas wie Zwillingsforschung betreiben zu können. Zwei (Landes)Hälften mit der selben (schuldbeladenen) Ausgangsposition schlagen zwei beinahe konträre Wege ein. Komparative Forschung – in anderen Disziplinen eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Nicht aber auf diesem Gebiet, wie ein jüngeres Beispiel belegen mag: Die Finanzierung für die Erforschung von Schändungen jüdischer Friedhöfe in ganz Deutschland, von der Weimarer Republik bis heute, sei leider nicht bewilligt worden, bedauerte Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung im März bei einer Veranstaltung im Berliner Centrum Judaicum. „Vielleicht will man sich mit so was Negativem nicht beschäftigen“, spekulierte er ironisch. Um so dankbarer müsse man sein, daß die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wenigstens die Dokumentation von Monika Schmidt „Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR“ (Berlin 2007) gefördert habe.

Wenn es um die DDR-Geschichtsschreibung geht, kann es bekanntlich gar nicht negativ genug sein, um staatliche Aufträge zu bekommen. Da aber Wahrheitsfindung immer positiv ist, bleibt das von der Autorin besorgte Zusammentragen von 85 Fällen von Schändungen jüdischer Friedhöfe in der SBZ/DDR auf vielleicht unvorhergesehene Weise verdienstvoll und aufschlußreich.

Die Geschichten sensibilisieren für das Bewußtsein, daß Tragödien nicht zu Ende sind, wenn der Vorhang fällt. Wenn es soviel mehr Tote als Lebende gibt – wer übernimmt ein würdiges Gedenken?

Die sechs eher winzigen jüdischen Gemeinden der DDR waren hoffnungslos überfordert mit der Pflege ihrer fast 300 Friedhöfe. Und staatliche Stellen, ihrerseits überfordert, Wohnungen vor dem Verfall zu bewahren, verschlossen auf beschämende Weise die Augen vor Verwahrlosungen oder sich bedienenden Steinmetzen, die nahmen, worauf niemand mehr Anspruch erhob. So wurden viele der einst „guten Orte“ zu verwilderten Abenteuerspielplätzen, auf denen das Umstürzen von verwitterten, wackligen Steinen als Mutprobe galt. Oft wurden Kinder oder Jugendliche erwischt, bei denen das Versagen von Elternhaus und Schule durch nachträgliche Aussprachen wettgemacht werden sollte. In relativ wenigen Fällen wurden Hakenkreuzschmierereien oder antisemitische Parolen wie „Juden raus“ entdeckt. Nie ist auch nur ein Erwachsener als Täter ermittelt worden, ob beabsichtigt oder nicht, bleibt offen. Weitgehend unerwähnt blieb dieser Vandalismus in den DDR-Medien, in denen ja sowieso beinahe alles Unangenehme verschwiegen wurde. Und was auf mangelnde antifaschistische Gesinnung schließen ließ, erst recht. Wohlwissend schrieb die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig 1977 an den Rat der Stadt, als sie den Bau einer neuen Friedhofsmauer beantragte: „Wir wollen dem kapitalistischen Ausland keine Gelegenheit geben, Kritik an dem Aussehen unseres Friedhofes zu üben“. Die Gemeinden fürchteten bei Publizität wohl auch, Nachahmer erst auf Ideen zu bringen.

In ihrem Buch behauptet Monika Schmidt nicht nur, daß ein Vergleich zu Friedhofsschändungen in Westdeutschland bisher nicht gezogen werden könne, sie hat auch den Vandalismus auf christlichen, kommunalen oder russischen Friedhöfen in der DDR ausgeblendet. Auch spart sie Angaben über staatliche Unterstützung aus. Erwähnt wird weder der Ministerratsbeschluß von 1977 über die Denkmalpflege auf jüdischen Friedhöfen noch die jährliche Förderungssumme. DDR-Bücher über die Berliner Jüdischen Friedhöfe wurden nicht zur Kenntnis genommen. In der Diskussion erwies sich die Autorin auch als wenig sachkundig, wenn es um Geschichten ging, in denen sich Anwohner und Bürger für jüdische Friedhöfe engagiert hatten. Wie 1986 in einer Unterschriftensammlung gegen das erneute Aufkommen der seit über 100 Jahren bestehenden Straßenbaupläne auf einem der Stadt Berlin gehörenden, unbelegten Flurstück durch den Friedhof in Weißensee. Angeblich mit den Worten: Was der Kaiser den Juden nicht zugemutet hat, werden wir ihnen auch nicht zumuten, übergab Honecker der Gemeinde das Flurstück erstmalig zur eigenen Nutzung. Zuvor hatte die Stadt bereits für 2,5 Millionen Mark eine kilometerlange neue Friedhofsmauer mit Menora-Ornamentik gebaut.

Die Autorin verteidigte sich damit, ihr Forschungsauftrag habe sich eben nur auf die Schändungen bezogen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn eine Materialsammlung vorgelegt wird, die sich auf Grund mangelnder Kenntnisse im Umfeld vor verallgemeinernden Schlußfolgerungen hütet. Denn ein Denken jenseits gesellschaftlicher Zusammenhänge erfreut sich bei den Auftraggebern immer dann großer Beliebtheit, wenn man an absehbaren Ergebnissen interessiert ist. Dafür wird der Untersuchungsgegenstand solange segmentiert und aus störenden Kontexten gerissen, bis er der gewünschten Mißdeutung zugänglich ist. Man sollte meinen, solche Praktiken lägen endlich hinter uns.

Doch Markus Meckel, Ratsvorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, gab in dankenswerter Schlichtheit die erwünschte Lesart vor: Es handele sich hier um ein „kleines, aber feines Buch, das aufräumt mit der Meinung von DDR-Intellektuellen, der konsequente Antifaschismus sei das Positive an der DDR gewesen.“ Dieses „grundweg falsche Bild“ könne nicht mehr aufrecht erhalten werden, da die Dokumentation belegt, daß der Antisemitismus in der DDR tiefer verwurzelt war als gedacht. Besonders fein ist dann auch das hanebüchene Fazit des Buches: die Ideologie des Antifaschismus habe die konkrete Auseinandersetzung mit NS-Judenverfolgung und jüdischer Geschichte nicht erlaubt.

Bei allen Unzulänglichkeiten sei darauf verwiesen: Schon in der Nachkriegszeit, als in bundesdeutschen Kinos noch die Förstertochter im Silberwald lief, drehte die DEFA Spielfilme wie Affaire Blum, Ehe im Schatten, Sterne und Professor Mamlock. Der Dokumentarstreifen Aktion J von Walter Heynowski lief 1961 im Fernsehen. Fachleute erstellen zur Zeit in Privatinitiative eine Übersicht von in der DDR erschienenen Titeln zu den Themen Judentum, jüdische Geschichte und Holocaust. Bislang unvollständige Recherchen haben 720 Bücher und 65 Dokumentar- und Spielfilme ergeben, darunter die einzige Oscar-Nominierung der DEFA, Jakob der Lügner von 1975.

Die Organisatoren vom Zentrum für Antisemitismusforschung hatten bei jener Buchpräsentation einseitiger Geschichtsschreibung durch einen erschütternden Lichtbildervortrag von Marion Neiss vorgebeugt. Dem war zu entnehmen, daß von 1945 bis 1989, im gleichen Zeitraum also, in dem in der DDR die beschämenden 85 Schändungen passierten, in Westdeutschland 1.400 Übergriffe auf jüdische Friedhöfe stattfanden. In vielen Fällen verbunden mit Inschriften, die einen extremen Judenhaß erkennen ließen, wie: „6 Millionen sind zu wenig“. Auch seien die Zerstörungen nicht selten mit schwerer Technik begangen worden. So wurde die Grabsteinplatte des ehemaligen Vorsitzenden der Westberliner Gemeinde, Heinz Galinski, gesprengt. Der Präsident des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, der kurz vor seinem Tod beklagte, er habe nichts oder fast nichts bewirkt, wußte, weshalb er nicht in Deutschland begraben werden wollte. Seit der Wende haben hier bereits 650 Schändungen stattgefunden.

In diesem Kontext drängt sich plötzlich ein ganz anderer Schluß auf als der von Meckel intendierte: Wie immer der in der DDR oft undifferenziert praktizierte Antifaschismus zu bewerten ist – seine aufklärerische Substanz war offensichtlich wirksamer als alle westdeutschen Versuche. Wie anders wäre zu erklären, daß antisemitische Einstellungen in Ostdeutschland immer signifikant geringer waren und selbst heute noch nur halb so verbreitet sind wie im Westteil? [Friedrich Ebert Stiftung, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Berlin 2006]

Ein weiterer Grund, weshalb der Antisemitismus, der ja christlichen Ursprungs ist, in Ostdeutschland weniger verwurzelt ist, mag an der dort herrschenden Säkularität liegen. Der religiöse Urstreit über den wahren Messias hat hier die wenigsten wirklich interessiert. Ein gewisses Desinteresse an Trennendem verbindet. Wie ja auch niemanden interessiert hat, daß in Spitzenpositionen der Partei, der Regierung, der Diplomatie, der Justiz, der Medien und Kultur in der DDR immer deutlich mehr Juden waren als in Westdeutschland. Wo sie – ob religiös oder nicht – so gut wie keine Chance hatten. Was aus anderen Gründen offenbar auch niemanden interessierte.

Der westdeutsche Philosemitismus, den Harald Schmid in dieser Freitag-Debatte als nachhaltig beschrieb, reichte jedoch nie so weit, juristisch konsequent all die einstigen Verfolger der Juden zur Verantwortung zu ziehen. Mehr als einmal haben israelische Botschafter die „kalte Amnestie“ für NS-Täter beklagt, die nicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen belastete, sondern auch Signale an die eigene Bevölkerung sendete. Als sich anfangs in Israel begeistert Kibbuzim bildeten, die das Privateigentum radikaler in Frage stellten, als es in allen sozialistischen Ländern geschah, glaubte man in der DDR, dieses Land würde eine Karte im eigenen Blatt werden und vertrat durchaus proisraelische Positionen. Erst als die Führung Israels unverkennbar nichtsozialistische Wege einschlug, entdeckten die Propagandisten der SED den Zionismus als „rassistische Praxis der Bourgeoisie“, die sich in den Dienst des Imperialismus gestellt habe und zur „Tragik der jüdischen Bevölkerung Israels“ geworden sei. Spätestens im Sechstagekrieg 1967 war in den DDR-Medien klar: „Die NATO stand hinter dem Aggressor Israel“, der nun unsensibel, in klassenkämpferischen Klischees wie ein Renegat beschimpft wurde. Es macht die Sache nicht besser, aber auch nicht schlechter, daran zu erinnern, daß eine scharfe Tonlage gegen Israel und den Zionismus damals kein DDR-Spezifikum war. Bruno Kreisky nannte den Überfall auf den Libanon 1982 einen „ungeheuerlichen Akt der Aggression“, in Vietnam und Angola sprach man genauso von Aggressionskrieg wie in Australien oder in Zypern, dessen Präsident nicht davor zurückschreckte, die Flüchtlingslager mit KZs zu vergleichen. In einer fragwürdigen Resolution hatte die UN-Generalversammlung schon 1975 den Zionismus als Form des Rassismus verurteilt. Das war internationaler Zeitgeist.

Doch was die Welt darf, dürfen Deutsche noch lange nicht. Es war unerträglich, wenn einzelne DDR-Kommentatoren sich nicht entblödeten, das militärische Vorgehen Israels in die Tradition von NS-Verbrechen zu stellen. Es steht Deutschen ein für alle mal nicht zu, die Quelle ihres Schuldgefühls mit Schuld zu beladen, um sich zu entlasten.

Es steht ihnen allerdings auch nicht zu, wie westdeutsche Medien dies taten, die Juden aus schlechtem Gewissen für ihr „stählernes Soldatentum“ im „Blitzkrieg“ zu loben, in dem sie „wie Rommel“ gerollt seien. Offenbar wehrmachtsähnlich, „schossen sie sich in die Herzen jenes Volkes, in dessen Namen sie einst ausgerottet werden sollten.“

Auch die Behauptung von „Wiedergutmachung“ durch Geld war anmaßend. Wie es problematisch ist, Entschädigungsleistungen als pauschalen Beweis für Philosemitismus zu vereinnahmen. Letztlich hat jede Seite nur für die Opfer im Bereich ihrer politischen Verbündeten bezahlt. Die Summe, die von der kleinen DDR an Reparationen für die Sowjetunion und Polen erbracht wurde, entsprach ziemlich genau der Summe, die die große Bundesrepublik an Israel zahlte. Daß aus dem antifaschistischen Credo der DDR keine gesonderte Verpflichtung gegenüber den Juden in Israel erwuchs, ist genauso bedauerlich wie der Umstand, daß sich aus dem philosemitischen Credo der Bundesrepublik keine gesonderte Verpflichtung gegenüber der größten jüdischen Opfergruppe, nämlich der osteuropäischen, ergab.

Und auch in der Bundesrepublik gab es Juden, die von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen wurden. Wenn sie sich nämlich nach wie vor als Kommunisten bekannten. Im Westen war der Antikommunismus immer eine verläßlichere Größe als der Philosemitismus. Und im Osten der Kommunismus. Deshalb wurden die jüdischen Überlebenden und ihre Kinder hier auf eine ambivalente, wenig bekannte Art entschädigt, mit Sozialleistungen: Die Verfolgten des Nationalsozialismus bekamen ab 1946 bevorzugt Lebensmittelkarten, sie verfügten über höhere Renten und mehr Urlaub als die übrigen Bürger, sie hatten eigene Urlaubs- und Kurheime und eine bessere medizinische Betreuung, sie wurden bei Wohnungszuweisungen und in ihren Bildungs- und Berufswegen mit Stipendien und Zulassungen vorzugsweise gefördert und bei der Zuteilung von Mangelwaren wie Telefonanschlüssen, wenn möglich, bedacht. Unter Honecker waren für sie und jeweils eine Begleitperson alle öffentlichen Verkehrsmittel, einschließlich der Reichsbahn kostenlos. Diese Vergünstigungen wurden ihnen nicht geneidet, jedenfalls mußten vor Synagogen und jüdischen Kultureinrichtungen keine bewaffneten Polizisten stehen. Antisemitismus ist etwas anderes.

Aus: Freitag, 29/07, 20. Juli 2007.

Wir danken für die freundliche Zustimmung zum Nachdruck.