Träume? Ja, Träume. Realistisch wie noch nie
Träume? Ja, Träume. Realistisch wie noch nie.
Bücherbord: Egon Krenz, China wie ich es sehe, edition ost, 148 Seiten, 12.99 €.
Das ist ein Buch, dem ich weitestgehende Verbreitung wünsche, viele aufmerksame, aufgeschlossene bzw. sich aufschließende Leser; nachdenkliche auch. Ein Buch zur rechten Zeit. Dank Trump ist ja China mehr denn je in aller Munde bzw. in allen Gazetten, auf allen Sendern. Die Presse hatte es angekündigt und ich wollte es in der noch jungen Wandlitzer Buchhandlung bestellen. Das war unnötig, es war schon da (!).
Und bald, schon nach den ersten Seiten, wurde mir deutlich: Auf dieses Buch hatte ich gewartet. Nur war es mir nicht bewusst.
Land mit geplanter Zukunft
Gewiss. Manche Information konnte der politisch interessierte Leser auch in den Medien finden, klar oder entstellt oder auch verfälscht, je nach deren Coleur. Daraus sich ein komplexes Bild zu formen, dem er vertrauen konnte, fiel schwer.
Was besticht: Krenz gibt kein geschlossenes, eher ein akzentuierendes Bild, auch kein statisches, sondern eines in Bewegung. Ein gewordenes. Ein werdendes. Er zeigt uns ein Land, das sich seiner Probleme bewusst ist, ohne derentwegen in Panik zu geraten. Ein Land mit geplanter, in absoluter Gewissheit zu erwartender Zukunft.
Selbstverständlich war Egon Krenz sich bewusst, dass verlässliche, Tatsachen und Zusammenhänge zeigende Berichterstattung rar war hierzulande. Und ist. Und so beginnt er zu erzählen, unmittelbar mit dem ersten Morgen im Hotel:
Als ich an diesem Morgen aus dem Hotelfenster schaue, bin ich enttäuscht. Schade, denke ich, es regnet. Nun haben bürgerliche Medien ihren Einstieg zum Parteitag: das Wetter. Die Korrespondenten enttäuschen mich nicht. Der Mann von der ARD meldet nach Deutschland: »Das hatte sich Chinas politische Führung anders vorgestellt. Regen und Smog an diesem Morgen in Beijing. Dabei tut man vor wichtigen Großveranstaltungen immer alles für saubere Luft und blauen Himmel. Fabriken haben extra ihre Produktion gedrosselt, Baustellen werden vorübergehend stillgelegt – dieses Mal«, so der Fernsehjournalist abschließend irgendwie zufrieden, »ohne Erfolg«.
Krenz weiter: Nebel und Smog sind für Beijing durchaus ein Problem. Glücklicherweise ein immer geringeres. Als ich vor vier Jahren hier war, ging man noch von 58 Tagen im Jahr mit starker Luftverschmutzung aus. Jetzt sind es nur noch 23 Tage. Erst gestern erfuhr ich, daß die Regierung an einem Zeitplan für den Ausstieg aus Produktion und Absatz von benzingetriebenen Autos arbeite. Schon jetzt fahren in China mehr als eine Million Elektroautos ... (hic!) Seit 2003 gibt es Staatsplanziele für die »ökologische Zivilisation«. So heißen hier die Umweltauflagen.
Krenz zeigt sich beeindruckt von Chinas erstaunlichen Leistungen und deren Dimensionen. Wer mehrmals in China war und Vergleiche hat, findet bei jedem Besuch etwas Neues. Als ich 2015 dort war, besuchte ich das »Nationale Supercomputerzentrum« in Changshu. Dort befindet sich ein Supercomputer mit einer Leistungsfähigkeit von über 1.372.000.000.000.000 Rechenoperationen in der Sekunde. Das übersteigt zwar mein Vorstellungsvermögen, aber mein Respekt vor einer 16-stelligen Zahl sagt mir: Hier geht es um Großes. Digitalisierung ist nicht Propaganda, sondern chinesische Strategie.
Das weltgrößte Amphibienflugzeug AG 600 mit einer Reichweite von 4.500 Kilometern, möglicher 12stündiger Flugzeit, komplett in China entwickelt, erwähnt er fast nebenbei.
Das Entwicklungstempo der Volkswirtschaft belegt er mit diesen Tatsachen: Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich das Wirtschaftsvolumen Chinas verdoppelt. Die Volksrepublik rückte vom fünften auf den zweiten Platz der stärksten Volkswirtschaften der Welt vor. Platz eins hingegen belegt China bei Industrierobotern – 2016 setzte man fast 90.000 Stück ab.
Die chinesische Weltraumstation Tiangong (Himmelspalast), das Tiefseetauchboot Jiaolong (Meeresdrachen), das Radioteleskop Tianyan (Auge zum Himmel) sind schon keine Sensationen mehr.
Und in der folgenden schlichten Zahl sind Tempo und humanitäre Dimension der produktiven Entwicklung zusammengefasst: Die durchschnittliche Lebenserwartung der Chinesen ist in diesen 68 Jahren (seit Gründung der Volksrepublik 1949, W.W.) von 36 auf 74 Jahre gestiegen.
Die Lebenserwartung 1949 in China entsprach etwa der in Mitteleuropa zu Lebzeiten Mozarts! Solche Erfolge, solche eindrucksvollen Zahlen haben ihr eigenes, unaufdringliches, aber sehr ehrliches, sozusagen überprüfbares Pathos. Krenz lässt die Genugtuung ahnen, die er empfindet. Man versteht seinen Stolz auf die Leistungen und die Klugheit der Genossen in China.
Ich meine: China gibt der sozialistischen Idee neuen Auftrieb, auch wenn manches noch nicht so läuft, wie es die Chinesen selbst gern hätten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es die perfekte, die vollkommene Gesellschaftsordnung nicht gibt und wohl auch nie geben wird.
Solches Nachdenken schützt mich davor, dem Neuen in China überheblich zu begegnen. Wir haben es in Europa nicht geschafft, den Sozialismus am Leben zu halten; warum sollte ich über jene die Nase rümpfen, die völlig neue Wege beschreiten, um das zu erreichen?
Auch den Kontrapunkt zum Pathos findet man: … und ehe es weitergeht, suchen wir die Toilette auf: Die ist in einem bemerkenswerten Zustand, wie in einem Sternehotel. Ich kenne auch andere »Stille Örtchen«.
Über dem Urinal auf Augenhöhe steht, natürlich auf Chinesisch, auf einer Tafel ein Spruch. Ich möchte wissen, was dort zu lesen ist. Unser Begleiter lacht, übersetzt aber sogleich. »Ein halber Schritt vorwärts zum Becken ist ein ganzer Schritt in Richtung Zivilisation.«
Krenz kommentiert und erläutert. Das müsste er nicht. Aber bei dieser Gelegenheit teilt er doch beiläufig mit, dass auch der Parteichef dieDorfbewohner nach dem Zustand ihrer Toiletten fragt. »Bessere Toiletten seien ein Teil der Verschönerung Chinas ländlicher Regionen ...«
Wie viel oder wie wenig wissen wir?
Ich versuche, mich zu erinnern. Was wusste ich eigentlich über China? Momentaufnahmen. Stationen. Einiges fällt mir ein:
- »China blutet«, »China kämpft« von Agnes Smedley;
- Egons Namensvetter Kisch natürlich: »China geheim«;
- die sogenannte Hunnenrede Wilhelm II. (Pardon wird nichtgegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen ...);
- der abendfüllende DEFA-Film »China – Land zwischen gestern und morgen«, Joop Huisken und Robert Menegoz, DokWoche 1957, und darin, besonders beeindruckend, diese Szene: eine junge Chinesin, Ingenieur eines Talsperrenbaus, drückt, selbstbewusst und fröhlich lachend, ihre Hand in den noch nassen Beton;
- 30 Jahre später »Der letzte Kaiser« von Bernardo Bertolucci.
Aber auch:
- Die Tagungen der Führer der Kommunistischen und Arbeiterparteien 1957 und 1960 in Moskau, die die chinesische Politik verurteilten;
- die Kämpfe am Ussuri 1969, Grenzfluss zwischen China und der Sowjetunion;
- Krieg zwischen China und Vietnam 1979 und ein bestürzender DokFilm in Leipzig;
- »Kulturrevolution« und Viererbande;
- die imponierende Armee aus Terrakotta-Soldaten, jeder ein Individuum;
- der »Große Sprung«.
Ein Bollwerk der Besonnenheit
1973 schenkte mir Otto Braun sein Buch Chinesische Aufzeichnungen (1932-1939). Eine scharfe Polemik gegen den Maoismus als eine ideologisch falsche und politisch schädliche Erscheinung im revolutionären Weltprozess, so kann man im Klappentext lesen. Otto Braun hatte als einziger Europäer im Auftrag der Kommunistischen Internationale am Langen Marsch teilgenommen, hatte Mao und seine Gruppe sehr unmittelbar erlebt, sozusagen von innen.
Das war vor rund 80 Jahren. Und nun: China heute! Welch ein imposanter, widersprüchlicher, temporeicher Prozess! Welch eine spannende Entwicklung! Und von welcher Dimension!
Krenz lakonisch: Der Parteitag baut auf dem auf, was seit Mao geschaffen wurde. Später wird eine deutsche Zeitung ihrem Bericht die Überschrift geben: »Mao reloaded«. Dass nun Mao »neu geladen« wurde, kann man wirklich nicht sagen. Er gehört seit Gründung der KP Chinas zu ihrer Geschichte. Die Chinesen wissen, welche Verdienste er hat. Sie reden aber auch offen über seine Irrtümer. Beides gehört zu ihrer Geschichte.
Das erscheint mir besonders interessant: Krenz lässt keine Gelegenheit aus, sich der DDR, ihrer Probleme, der Irrtümer ihrer politischen Führung, zu der er selbst gehörte, was er auch ausdrücklich erwähnt, sich also mancher Ursache des Scheiterns der DDR zu erinnern.
Nachdem er die Marxsche These von den zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft zitiert hat, fährt er fort: Walter Ulbricht leitete in den 1960er Jahren daraus die These ab, der Sozialismus sei eine relativ selbstständige Gesellschaftsformation. Relativ in Bezug auf das strategische kommunistische Ziel, selbstständig in Bezug auf eine längere, nicht willkürlich zu bemessende Zeitdauer seiner Existenz.
Die SED-Führung unter Erich Honecker, der ich angehörte, verwandelte in den 1970er Jahren diese richtige wissenschaftliche Erkenntnis in die nicht wissenschaftlich begründete Formel, unverzüglich mit dem Aufbau einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu beginnen. So tappten wir in die Falle des Wunsches, die Segnungen einer kommunistischen Gesellschaft noch zu unseren Lebzeiten erfahren zu können. Die zeitgerechte Losung »Der Sozialismus siegt« gerann zu der Illusion, dass er bereits gesiegt habe. Wer der Gesellschaftswissenschaft misstraut oder Marx missachtet, begeht irreparable Fehler, das bekamen wir zu spüren. Es beruhigt darum zu sehen, dass die chinesische Führung am Marxismus-Leninismus festhält, weil sie ihn unverändert als gesellschaftspolitischen Kompass für den »Sozialismus mit chinesischer Prägung« versteht.
Mir imponiert der Weitblick, mit dem sie gesellschaftliche Entwicklungen angeht ...
Die Tatsache, dass China ein sozialistisches Land ist, bedeutet ja keineswegs, dass China schon den Sozialismus hat ... Das Land befinde sich »derzeit und auch noch lange Zeit im Anfangsstadium des Sozialismus«, erklärte der Generalsekretär … Beeindruckend an der chinesischen Vision ist ihre Langfristigkeit.
Damit sind interessante Fragen aufgeworfen, Fragen durchaus nicht nur rhetorischer Art. Ist Sozialismus nie etwas Endgültiges, etwas ein-für-allemal Erreichbares? Ist er also permanent in Bewegung, Veränderung, Vervollkommnung?
Haben wir folglich unsere Zeitvorstellungen vom Weg zwischen Idee und »Vollendung« gründlich zu überdenken? Die Berechtigung solcher und gewiss weiterer Fragen zu akzeptieren würde bedeuten, dass an jedem Punkt der Entwicklung die Aufgabe lautet, immer wieder aufs Neue Wunsch und Wirklichkeit in die Waage zu bringen. Darin also bestünde die Triebkraft sozialistischer Entwicklung?
Geradezu zwangsläufig führt solches Nachdenken zu unserem Freund und Genossen Mischa Benjamin. In seinem »Beitrag zum PDS-Thesenpapier«, Dezember 1994, schreibt er über »Die geistigen Wurzeln der PDS«: Gerade als Kommunist bin ich der Meinung, daß die PDS – will sie ihren Pluralismus ernst nehmen – über Lippenbekenntnisse zu ihren sozialdemokratischen, anarchistischen, religiösen, demokratischen, emanzipatorischen (z.B. Pazifismus und Frauenemanzipation) Wurzeln und Traditionen hinausgehen, sie bewußt machen und kritisch aneignen muß. Natürlich gilt das nicht minder für die kritische Aneignung des Marxismus und des kommunistischen Erbes in seiner ganzen Breite.
Daß beispielsweise die Hervorhebung der Demokratiefrage, der Kampf um soziale Verbesserungen, die Teilnahme am gewerkschaftlichen Kampf und an der Kommunalpolitik, generell des Verständnis von »Sozialismus als Bewegung« (Hervorhebung W.W.) erheblich auf sozialdemokratische Traditionen zurückgehen, ist ebenso wenig zu übersehen wie etwa die anarchistischen Wurzeln der Kritik an der »Verstaatlichung« der Gesellschaft und die Hervorhebung des menschlichen Individuums und der Selbstorganisation der Individuen.
Nicht vergessen sollten wir, daß der Satz »So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen« aus den Briefen des Apostels Paulus stammt.
Noch manches wäre zu erwähnen und zu werten: Warum z.B. Frau Merkel zum elften Mal als Bundeskanzlerin China besuchte, was es für die deutsche Industrie bedeutet, dass die chinesische Firma CATL eine riesige Fabrik für Batteriezellen bei Erfurt bauen wird, wie es sein kann, dass eine Stadt – eine Stadt! – eine Fläche einnimmt, die etwa drei Vierteln des DDR-Territoriums entspricht: Chongqing, 32 Millionen Einwohner, größte Metropolregion der Welt. Und überhaupt:
Welches internationale Gewicht besitzt die »Neue Seidenstraße« für Welthandel und Völkerverständigung? Was bedeutet konkret und im Detail »Sozialismus chinesischer Prägung«? Alles spannende Themen, deren Bearbeitung uns helfen kann, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Zehn Seiten vor Schluss gesteht Egon Krenz, dass er auch mit 80 Jahren noch Träume habe. Ja, warum denn nicht? Er träumt doch unseren Traum. Zu dem gehört, dass er, bevor wir uns einmal umdrehen, chinesische Realität sein kann.
Für Krenz jedenfalls ist die Volksrepublik inzwischen ein Bollwerk der Besonnenheit in dieser unruhigen Welt.