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Foto: Dieter Vogel
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Terrorismusverdacht und Bürgerrechte

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin - Referat auf der 3. Tagung der 13. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform

 

Wenn ich auch der KPF nicht angehöre, so hoffe ich doch, daß Ihr mit meiner Anrede: Liebe Genossinnen und Genossen einverstanden seid. – Zur Sache:

(1) Neun Tage, nachdem am 11. September 2001 neunzehn Attentäter vier in den USA zu Inlandflügen vollbesetzt gestartete Verkehrsflugzeuge entführt, zwei von ihnen in die beiden Wolkenkratzer des World Trade Center in New York und ein drittes in das bei Washington gelegene Pentagon mediengerecht gestürzt, dabei sich selbst getötet, dreitausend Menschen ermordet und einen Milliardenschaden angerichtet hatten, erklärte die imperiale Präsidentschaft vor dem US-Kongreß, daß sich jedes Land in jedem Teil der Erde nunmehr entscheiden müsse: Entweder ihr seid für uns oder ihr seid für die Terroristen. [Vgl. den Abdruck der am 20. September 2001 gehaltenen Rede von George W. Bush vor dem US-Kongreß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. September 2001, Nr. 221, S. 8, sowie seine Rede zur Lage der Nation vom 29. Januar 2002 über die Achse der terrorexportierenden Bösen in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Jg. 47, März 2002, S. 367-370.]

Mit dieser – juristisch gesprochen – Nötigung eröffneten die USA den (angeblichen) Antiterrorkrieg gegen Afghanistan, der zwei Jahre danach auch gegen den Irak herbeigelogen wurde, und seit Jahr und Tag gegen den Iran oder andere als Schurkenstaaten (rogue states) bezeichnete Achsenmächte des sogenannten Bösen ausgeweitet zu werden angedroht wird. Kaschiert als Kreuzzug (crusade), als Operation für unendliche Gerechtigkeit (infinite justice) oder für dauerhafte Freiheit (enduring freedom).

Befinden wir uns also seit jenen an die US-Parlamentarier und darauf folgend an das US-Volk gerichteten Bush-Reden vom 20. September bzw. 7. Oktober 2001 in einem Weltkrieg gegen den Terrorismus (global war on terror – GWOT)? Gibt es zu ihm keine Alternative, wie die herrschende Meinung mit einem Thatcher-Schlagwort lautet: there is no alternative (TINA)? Und auf welcher Seite stehen wir oder sollten wir stehen in diesem Krieg? Denn daß wir uns in einem Krieg befinden, ist nicht zu leugnen.

Lassen wir uns nicht täuschen. Entgegen allem Anschein und Mediengetöne handelt es sich nicht um einen Krieg von Antiterroristen gegen Terroristen. Und es bedurfte auch nicht jenes 11. Septembers von 2001, um das angeblich letzte Gefecht der Guten gegen die Bösen auszulösen.

Um mit Sprachlichem zu beginnen: Der deutsche Terminus "Terror" ist erst im 18. Jahrhundert der französischen Sprache entlehnt worden, in der terroriser "völlig verängstigen, total einschüchtern" und terreur "Schreckensherrschaft" bedeutet; letztlich leitet sich das nunmehr deutsche Wort "Terror" aus der lateinischen Vokabel terrere ab, das mit "Furcht erregen" oder "Schrecken verbreiten" zu übersetzen ist. So findet sich in Martin Luthers Bibelübersetzung (Buch Hiob, XVIII, 14) Gott als "König des Schreckens" wieder (in der englischen Version: "king of terrors"). Terror bedarf der Macht, des Zwanges und der Gewalt. Sonst wäre er ein Messer ohne Klinge. Unter den Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft, in der eine Gewaltanwendung von Menschen gegen Menschen nur in rechtlich geregelter Weise erfolgen darf, bedeutet Terror eine extralegale Einflußnahme auf das Verhalten anderer mittels Furchterregung und Schreckensverbreitung, und Terrorismus nichts anderes als die systematische Anwendung brutalster Gewalt, um eine bestehende Herrschaftsordnung zu exekutieren oder aber zu unterminieren. Schon daraus ergibt sich, daß es ein fundamentaler Fehler ist, das Terrorismus-Phänomen lediglich oder auch nur vorrangig mit moralischen oder theologischen Kriterien bewerten zu wollen, statt es in historischen und juristischen Kategorien dingfest zu machen.

Daß die Versuche, für den "Terrorismus" eine international akzeptierte Definition zu finden, bisher gescheitert sind, ist nicht auf intellektuelles Unvermögen zurückzuführen: der Freiheitskämpfer des einen ist für den anderen ein Terrorist. Noch immer waren im Verlauf der Geschichte die Macht- und Gewalthaber daran interessiert, daß ihre Gegenspieler von vornherein auf Macht und Gewalt verzichten. Zutreffend ist bei einer Klassifizierung von Terrorismen darauf verwiesen worden, daß Terror zuweilen als eine Waffe von Armen und Unterjochten gegen ihre Ausbeuter und Despoten benutzt wird, zuweilen aber als eine von diesen gegen jene angewandte Unterdrückungsmethode. [Vgl. Sebastian Scheerer, "Terroristen sind immer die anderen", in: Dieter S. Lutz (ed.), Zukunft des Terrorismus und des Friedens, Hamburg 2002, S. 17f.] Da wir es in der Gesellschaftsrealität mit sehr unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Erscheinungsformen von Terrorismus zu tun haben – mit Staatsterrorismus und nichtstaatlichem, nennen wir ihn: Privatterrorismus, mit innerstaatlichem und zwischenstaatlichem Terrorismus; mit regionalem und internationalem, im Extremfall sogar mit globalem Terrorismus – empfiehlt es sich, einen möglichst weiten Terrorismusbegriff zu verwenden.

Die häufigste und brutalste Art von Terrorismus ist der von einem Staat nach innen und/oder nach außen praktizierte Terrorismus, der Staatsterrorismus. Der Nazi-Staat hat von Beginn an mit seinen Zuchthäusern und Konzentrationslagern, seinen Gaskammern und Galgen Teile des eigenen Volkes und im Zweiten Weltkrieg mit seiner Wehrmacht auch Europas Bevölkerung samt deren Regierungsgewalten terrorisiert. Pinochet und Pol Pot operierten mittels Staatsterrorismus. Beim Ku-Klux-Klan mit seiner Lynchjustiz an einheimischen Schwarzen durch protestantische Weiße (zwischen 1882 und 1962 knapp fünftausend Ermordete) handelte es sich um einen privaten, allerdings in die vom Rassismus infizierte Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft integrierten Terrorismus. Auch der GULAG war ein staatsterroristisches Unternehmen, ein uns doppelt schmerzendes dazu.

Wer nicht zwischen einem Terrorismus, mit dem die Unterdrückung einer unterworfenen, etwa einer kolonisierten Bevölkerung verschärft wird, und jenem Terrorismus zu unterscheiden versteht, mit dem die Unterjochten eine Okkupationsmacht oder eine Militärdiktatur herausfordern, erweist sich als blind oder verblendet. Letzteres ist vermutlich interessenbedingt. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise natürlicher und sozialer Phänomene hat noch immer damit begonnen, daß diese auf ihre Ursachen befragt werden, und der Terror, wo immer er und mit welchen Folgen er auch auftritt, ist nun einmal keine Wirkung ohne Ursache!

In ihrer Bewertung sind die terroristischen Aktionen der sizilianischen Mafia, der Todesschwadronen in Lateinamerika, der Grauen Wölfe in der Türkei oder anderswo, der RAF in der Bundesrepublik oder der IRA in Nordirland nicht auf einen Nenner zu bringen mit den im September 1793 von Frankreichs Konvent gefaßten Beschlüssen über den revolutionären Terror, la terreur, der die durch Invasionen und Föderalistenrevolten an den Rand des Abgrunds gedrängte Revolution zu retten bestimmt war. [Vgl. Maximilien Robespierre, Ausgewählte Texte, Hamburg 1989, S. 562-581: "Über die Grundsätze der Revolutionären Regierung"; Bernd Jeschonnek, Revolution in Frankreich 1789 – 1799. Ein Lexikon, Berlin 1989, S. 203-204: "La Terreur".]

Oder mit dem vom Rat der Volkskommissare am 5. September 1918 erlassenen "Dekret über den roten Terror", auf dessen Grundlage der "weiße Terror" – am 30. August 1918 war der Vorsitzende der Petrograder Tscheka, Moissej Solomonowitsch Urizki, ermordet und am selben Tag ein Attentat auf Lenin durch Fanny Jefimowna Kaplan verübt worden – unterdrückt und die noch in jeder Revolution unausbleibliche Frage: wer/wen endgültig entschieden werden sollte. [Vgl. H. Klenner, "Recht im revolutionären Umbruch" [1957], in: Topos, Heft 28, Neapel/Berlin 2007, S. 127; das Lexikon der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Leipzig 1987, enthält kein Lemma über den Roten Terror und erwähnt selbst in seiner Chronologie der vom 25. Oktober 1917 bis zum 10. Dezember 1918 erlassenen Revolutionsdekrete (S. 71-75), dieses Dekret nicht; es findet sich jedoch in: Dekrety Sovetskoj Vlasti, Band 3, Moskau 1964, S. 291. Laut Ronald W. Clark, Lenin, London 1988, S. 356, vermeldete die Tscheka zwischen 1918 und 1921 insgesamt 12.753 Exekutionen.] Oder mit der Entscheidung des African National Congress (ANC), seine ursprüngliche Politik der Gewaltfreiheit aufzugeben (nachdem diese vom Apartheid-Regime als Freibrief für eigene Gewaltakte betrachtet worden war) und 1961 einen bewaffneten Flügel Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation) zu bilden, der auch Sprengstoffanschläge zu verüben, Guerillakrieg zu führen und Terrorismus zu betreiben konzipiert war (weshalb Amnesty International es ablehnte, sich für den ANC zu verwenden!), und dessen Oberkommandierender – es ist wenig bekannt genug – der bekennende Christ Nelson Mandela wurde. [Vgl. Nelson Mandela, Der Kampf ist mein Leben. Gesammelte Reden und Schriften, Wien 1986, S. 194-197: "Manifest des Umkhonto we Sizwe" vom Dezember 1961; Mandela, Long Walk to Freedom. The Autobiography, London 1994, S. 272, 603.]

Einem Gründungsmitglied des Marxistischen Forums wird man hier eine Einfügung nachsehen: Karl Marx ist in seinen umfangreichen historischen Analysen immer wieder auf den revolutionären wie auf den konterrevolutionären Terror, auch auf den Terrorismus des Glaubens und den der Vernunft, zu sprechen gekommen, und als im November 1848 die europäische Konterrevolution, wie er sich ausdrückte, ihre "Orgien feierte" und die "royalistischen Terroristen von Gottes- und Rechts-Gnaden" auch in Wien siegten – wenige Tage später wurde dort der linksliberale Robert Blum ungeachtet seiner Immunität als Paulskirchen-Abgeordneter standrechtlich erschossen (die heutigen Tageszeitungen berichten aus Jubiläumsgründen darüber) –, da prophezeite er in der Neuen Rheinischen Zeitung, daß der Kannibalismus der Konterrevolution die Völker überzeugen werde, daß es nur ein Mittel gebe, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft und die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen und zu vereinfachen, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus, und den werden wir, so fügte er hinzu, wenn die Reihe an uns komme, nicht beschönigen. [Vgl. Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 5, Berlin 1959, S. 457, Bd. 6, S. 505; ferner: Sachregister zu MEW, Berlin 1989, S. 711: "Terror".] Lenin wiederum, der sich 1902 in Was tun? gegen den Terror als Kampfmittel von Sozialisten ausgesprochen, noch Anfang November 1917 die Sowjets als "Organisation der vollen Freiheit des Volkes" bezeichnet und einen Terror, wie ihn die französischen Revolutionäre anwandten, die waffenlose Menschen guillotinierten, abgelehnt hatte, rechtfertigte später den durch den weißen Terror erzwungenen roten Terror als absolut notwendig. [Vgl. Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 431- 435; Bd. 6, S. 181-188; Bd. 26, S. 289 f., 461, 503; Bd. 30, S. 222, 318; Bd. 32, S. 370; Bd. 33, S. 344; Bd. 35, S. 313.] Rosa Luxemburg hingegen bekannte sich in dem von ihr verfaßten Programm des Spartakusbundes vom Dezember 1918 (das mit nur unwesentlichen Änderungen vom Gründungsparteitag der KPD als Parteiprogramm beschlossen wurde) zur Gewaltfreiheit ohne Wenn und Aber: die proletarische Revolution bedürfe für ihre Ziele keines Terrors; sie hasse und verabscheue den Menschenmord, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpfe und nicht mit naiven Illusionen in die Arena trete, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. [Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 445.] Vier Wochen später wurde Rosa – mir stockt die Stimme – ein Mordopfer des weißen Terrors. Um die Reihe der Marxisten abzuschließen: der unverbesserliche Bertolt Brecht legte 1949 in seinen Tagen der Kommune einem Kommunarden die Einsicht in den Mund, daß es in gewissen Situationen nur "blutbefleckte Hände oder abgehauene Hände gibt". [Bertolt Brecht, Werke, Bd. 8, Berlin/Weimar/Frankfurt 1992, S. 301.] Erspart mir den Kommentar …

Um auf die Jetztzeit zurückzukommen: Heutzutage wird der eine Terror (al-Qa’ida) im Namen Allahs ausgeübt und der andere Terror (Bush) in eines anderen Gottes Namen. Oder ist es ein und derselbe Gott, der den Terrorismus gegen den Staat ebenso wie den Terrorismus durch den Staat legitimiert? Die Behauptungen der einen Religion vermögen gegen die entgegengesetzten Behauptungen einer anderen Religion ohnehin nichts auszurichten: Glauben widerlegt Glauben nicht! Ohne leugnen zu wollen, daß die Religion eine zuweilen ordnungsstörende, zuweilen ordnungsstiftende Rolle zu spielen vermochte und vermag – man denke nur an den Einfluß der Reformation auf den Bauern- und den Dreißigjährigen Krieg – so hat es sich doch noch immer ausgezahlt, bei einer Ursachen- und Wirkungsanalyse gesellschaftlicher Macht/Ohnmacht-Strukturen nicht bei deren geistigen Widerspiegelungen stehenzubleiben. Marxisten bekennen sich bekanntlich zu einer atheistischen, notfalls agnostischen Indifferenz gegenüber dem Glaubensinhalt einer jeglichen Religion, zumal Gott zu beweisen, theologisch überflüssig, philosophisch aber unmöglich ist. Ein begriffener Gott wäre ohnehin kein Gott.

Was nun, um das gegenwärtig meistgescholtene Kind beim Namen zu nennen, den Islam anlangt, so wurde in einem von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften jüngst herausgegebenen umfangreichen Forschungsbericht hochkarätiger Spezialisten nachgewiesen, daß eine kausale Verknüpfung von Islam (und Judentum, füge ich hinzu) und religiös argumentierendem Terrorismus lediglich beim israelisch/palästinensischen Konflikt festzustellen ist. [Kurt Graulich / Dieter Simon (ed.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, Berlin 2007, S. 3-37: "Islam und Staatlichkeit", besonders S. 9, 34.] Sonst aber nicht!

Vergleichbares wird man wohl selbst dem Christentum derjenigen zubilligen müssen, die sich nach dem Johannes-Evangelium (III, 3) Wiedergeborene Christen nennen, auch wenn sich deren Glaubensinhalt, wie bei allen Fundamentalisten, besonders leicht funktionalisieren läßt. "We are a nation under God", behauptet der sich seiner Religiosität rühmende Bush. Sind seine Kriege – und Kriege sind ja nichts anderes als nach außen gewendeter Staatsterrorismus – etwa deshalb Gottesdienst? Oder sind es, wenn die selbstgefällige Supermacht einen global war on terror entfesselt, um die ganze Welt von allen Übeln zu befreien ("to rid the world of evil", lautet die religionsgeschwängerte Floskel) nicht eigentlich die Ursachen, die ihre Wirkungen bekriegen? Es ist mehr als ein Quentchen Wahrheit in der Behauptung, daß Krieg der Terror der Reichen gegen die Armen sei, und Terror der Krieg der Armen gegen die Reichen. So erweist sich der Terrorismus als die finstere Zwillingsschwester der Globalisierung. Ist die Simultaneität von Religionsfundamentalismus und Marktradikalismus, mit denen gegenwärtig die ganze Welt beglückt wird, purer Zufall? Das sich durch seine Aggressionskriege hochverschuldende Imperium – allein die beiden Aggressionsfeldzüge gegen Afghanistan und Irak kosteten die USA seit 1992 bisher annähernd 1600 Milliarden Dollar – beschert der Weltbevölkerung auch noch eine Wirtschaftskrise. Das komplementiert die globale Katastrophe.

Es versteht sich für einen Internationalisten von selbst, daß er kein antiamerikanisches Referat zu halten gesonnen ist. Wohl aber ein antikapitalistisches. Terrorismus mag im Einzelfall religiös oder ethnisch oder einfach regionalmachtpolitisch motiviert sein. Was wir aber gegenwärtig als global war on terror erleben, ist darüber hinaus etwas ganz anderes: Es ist die weltgeschichtliche Niederlage der realexistierenden Sozialismen in Europa von 1989/90, die dem realexistierenden Kapitalismus die von ihm dann auch gnadenlos genutzte Chance bot, ein seinen Klasseninteressen gemäßes neoliberales Gesellschaftssystem zu globalisieren und – soweit es die nationalen und internationalen Kräfteverhältnisse zulassen – notfalls auch mit militärischen Mitteln zu exekutieren: altbekannter Imperialismus in den Farben von heute. Da kann es doch nicht ausbleiben, daß dieser sich globalisierende Neoliberalismus, der im Verhältnis zu den sogenannten Entwicklungsländern nichts anderes ist als eine Erscheinungsform von Neokolonialismus, auf den (auch eruptiven) Widerstand vieler Völker stößt. Kein Wunder, daß diese Völker mit ihren jeweiligen Wirtschafts- und Rechtsordnungen, ihren Kulturen undReligionen, und vor allem auch mit ihren zuweilen Jahrhunderte langen Erfahrungen im Umgang mit Imperien, ihr völkerrechtlich verbrieftes Selbstbestimmungsecht wahrzunehmen mutig genug werden.

Und dann sind es ja nicht nur die sich als Weltpolizist und Weltenrichter in einem aufspielende USA, die auf innerstaatlichen Terrorismus mit zwischenstaatlichem bis hin zu globalem Terrorismus reagieren. Es war die Regierung (und mehrheitlich auch das Parlament) des Staates, für dessen Tun und Unterlassen ich als sein Bürger seit siebzehn Jahren mitverantwortlich bin, die sich willig in den Universalisierungsanspruch der US- und der Monopolinteressen des Kapitals einordnen. Deutschlands Bundeskanzler versprach in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag am 12. September 2001 den USA die "uneingeschränkte Solidarität" – als ob das Völkerrecht nicht dazu da wäre, die Willkürpotenzen von Staaten einzuschränken! Deutschlands damaliger Außenminister tönte: "we appreciate the US-leadership", und mit der Behauptung, daß Deutschland (zwar nicht von der Maas bis an die Memel, jedenfalls aber) auch am Hindukusch verteidigt werde, [Minister Peter Struck, in: Frankfurter Rundschau, 6. Dezember 2002.] sprach der damalige Verteidigungsminister nur das aus, was er dachte, und er dachte, was Bush und Blair und Berlusconi vor ihm dachten, daß er’s denken solle. Jedenfalls ist bei den Kriegen gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan, gegen den Irak wie bei der Aufrüstung und den Rüstungsexporten als mehr oder weniger williger Vasall jener mit achthundert Milliarden € verschuldete Staat mit von der Partie, dessen steuerzahlende Bürger wir sind. Nach den USA haben "wir" die meisten Soldaten im Auslandseinsatz, und Deutschlands Parlament, Regierung und Justiz dulden auf Kosten seiner Bevölkerung die Permanenzanwesenheit kriegführender US-Amerikanischer Truppen und deren auf unserem Territorium lagernde Atombomben.

Ungeachtet kleinerer Kontroversen hängt im globalkapitalistischen Empire der Haussegen nicht schief. Die Regierungschefs der "freien Welt" duzen sich untereinander, laden sich zu Schwein am Spieß oder auf ihre Ranch ein und sitzen auch mal in der Sonderanfertigung eines Riesenstrandkorbes – fast hätte ich gesagt: Hand in Hand – nebeneinander. Es sind in zivilrechtlicher Terminologie Erfüllungsgehilfen, in strafrechtlicher Terminologie Mittäter, in moralischer Terminologie Komplizen in dem irrsinnigen Wechselspiel von Terror, Antiterror und Anti-Antiterror. Nicht vom Boden der viel gescholtenen DDR sind Kriege ausgegangen; wohl aber werden vom Boden und über der Luft der sich die DDR aneignenden BRD Kriege geführt, Aggressionskriege, wohlgemerkt. Auf unser aller Kosten, finanzielle und moralische sind gemeint.

Es hat nicht des 11. Septembers 2001 bedurft, um die militärischen Konsequenzen aus der globalen Verortung und Vernetzung der kapitalistischen Weltmächte zu ziehen. [Zum Folgenden vgl. vor allem: Norman Paech, "Neue NATO-Strategie – Neues Völkerrecht?", in: Joachim Hösler (ed.), Der gerechte Krieg?, Bremen 2000, S. 48-99.] Die strategische Neuorientierung des wichtigsten militärischen Arms des globalisierten Neoliberalismus erfolgte bereits auf dem Londoner NATO-Gipfel vom 6. Juli1990 und wurde auf der NATO-Tagung vom 7./8. November 1991 in Rom ausformuliert. Ihr Inhalt war nach der Selbstaufgabe des Warschauer Paktes eine neue Bedrohungsanalyse mit der Offensiv-Konsequenz, daß auch der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zu "verteidigen" sei, weshalb in den darauf basierenden Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesverteidigungsministeriums vom 26. November 1992 unter Ziffer 8 zu den deutschen Sicherheitsinteressen auch die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung" gezählt wird. Und zwei Jahre vor dem September 2001 nahmen schließlich auf dem Gipfeltreffen des Nordatlantikrates zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung in Washington D. C. die beteiligten Staats- und Regierungschefs am 24. April 1999 eine Erklärung an, mit der sie das "Neue Strategische Konzept" der NATO billigten. [Deutsche Fassung in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 24 vom 3. Mai 1999, S. 221 ff.] Mit ihm wurde die NATO aus einem Verteidigungsbündnis (so stand es jedenfalls im Artikel 5 des Nordatlantikvertrages von 1949) in eine weltweit operierende Interventionsallianz umgewandelt. Dieses Konzept enthält nämlich in seinen Ziffern 3 und 24 drei höchstgefährliche Momente, nämlich a) die Erweiterung der Kernfunktion der NATO, b) der Kriseneinsatz auch ohne UNO-Mandat, und c) die Festschreibung der Option des nuklearen Ersteinsatzes. Da die zuletzt genannte Option die Existenz der ganzen Menschheit aufs Spiel setzt, dürfte sie das schlechthin unübersteigbare Maximum einer Terrorismusandrohung sein.

Damit ist auch die hausbackene Vorstellung vom lokalen Format künftiger Kriege hoffnungslos veraltet. Das Völkerrechtsverbot von Präventivkriegen scheint obsolet und die Zeiten vorbei zu sein, da blauäugige (oder sich blauäugig gebende) Bürgerrechtler ihre Politik mit der im vorchristlichen Jahrtausend den Propheten Jesaja (II, 4) und Micha (IV, 5) unterschobenen Zurechtweisung begründeten, daß die Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden seien; nun darf man sich wieder auf den entgegengesetzten Rat des lebenserfahreneren Tempelpropheten Joel (IV, 10) besinnen, daß man Pflugscharen zu Schwertern und Sicheln zu Spießen umzuschmieden habe.

(2) Was aber haben die Bürgerrechte mit dem global war on terror zu tun? Nach Meinung der Akteure dieses Weltkrieges dient ihr Krieg dem Schutz der Bürger, mit dem kleinen Haken freilich, daß deren Rechte deshalb etwas eingeschränkt werden müssen. Der Verlust an Sicherheit vor dem Staat werde durch einen Zugewinn an Sicherheit durch den Staat reichlich aufgewogen; die Freiheit habe nun einmal ihren Preis.

Nun läßt sich kaum bestreiten, daß jedweder physische oder psychische Terror – und zwar unabhängig davon, ob mit dem Verbreiten von Furcht und Schrecken oder der Ausübung brutaler, raffinierter Gewalt eine bestehende Gesellschafts- und Staatsordnung verunsichert oder aber gesichert werden soll – das Leben, die Freiheit und das Eigentum von Menschen bedroht. Doch dürfte der Verursacher der Gefahr wohl der letzte sein, der gegen diejenigen Gewalt anzuwenden oder die Rechte derjenigen zu beschneiden legitimiert ist, die gegen die Ursachen der Gefahren Widerstand zu leisten gesonnen sind. Den Dammbruch gegen die Bürgerrechte in Heiligendamm haben wir ja erlebt. Aber was gehen uns, um eine ganz andere Sicht der Dinge ins Spiel zu bringen, eigentlich die Bürgerrechte einer bürgerlichen Gesellschaft an, da unser Lebensziel wohl nicht darin besteht, in dieser bürgerlichen Gesellschaft wieder angekommen zu sein, obwohl wir sie eigentlich hinter uns lassen wollten? Man erhofft sich doch von dem Seil eines Schiffes, das brennt oder absäuft, keine Rettung.

Ist also für diejenigen, die innerhalb des Realkapitalismus von heute die Systemfrage zu stellen für unabdingbar halten – und Sozialisten, von Kommunisten ganz zu schweigen, die das nicht tun, haben aufgehört das zu sein, was zu sein sie vorgeben – ein rechtsnihilistisches Verhalten nur konsequent und daher vernünftig? Gehören doch auch die Bürgerrechte zum Ordnungsreglement einer herrschaftsförmig organisierten Gesellschaft und reflektieren wie die anderen ideologischen und institutionellen Momente des Überbaus im Wesentlichen die ökonomische Basis, also die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Wäre also: "Menschenrechte, bla, bla, bla – dafür sind die Pfaffen da!" eine für Linke vertretbare, vielleicht sogar die einzig wirklich radikale Losung? Gemach. Das deutsche Wort radikal ist dem Lateinischen entlehnt, in dem radix "die Wurzel" bedeutet. Radikal denkt und handelt nicht, wer den Extremisten noch eins draufsetzt, sondern wer den Dingen auf den Grund geht und die Probleme an deren Wurzeln faßt.

Was nun das Bürgerrechtsproblem anlangt, so lohnt es sich zunächst nüchtern festzustellen, daß das Recht nicht Willkür der herrschenden Klasse ist, sondern deren normierter Wille. Mag auch dessen Gesamtinhalt die ökonomisch bedingte Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft widerspiegeln, in seiner konkreten, übrigens auch widersprüchlichen, Gestaltung ist der jeweilige Regelungsgehalt des Rechts das Ergebnis von Klassenkämpfen, also auch von Klassenkompromissen, zuweilen sogar eine Art von Waffenstillstand zwischen den sich befehdenden Parteien. [Vgl. die "Marx/Engels-Anthologie zur Natur des Rechts", in: H. Klenner, Vom Recht der Natur zur Natur des Rechts, Berlin 1984, Kap. 5, sowie Klenner, Recht und Unrecht, Bielefeld 2004.] Das in Zeit und Raum konkrete Recht reflektiert die Gesellschaft als Ganzes; der Inhalt ihres Normenbestandes widerspiegelt also auch die Schwächen und Stärken derjenigen, die im Herrschaftsgefüge einer Gesellschaft nicht der sogenannten politischen Klasse angehören. Es ist der Gehorsam der Gehorchenden, der den Befehlenden ihre Autorität beschert. Aber kein Gehorsam ist grenzen- und bedingungslos. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärungen mit der allergrößten Ausstrahlungskraft wiederum waren das Ergebnis von Revolutionen, der Französischen von 1789 vor allem. Und bis zum heutigen Tag normieren die Bürgerrechtskataloge nicht nur die Rechte der Bürger, sondern auch die Pflichten der Staatsorgane. Eine Rechtsnorm ist eben nicht nur ein von der Staatsmacht für das Verhalten anderer gesetztes Maß, sondern auch ein selbstgesetztes Maß für das Verhalten der Staatsmacht. Das ist der Sinn der sogenannten subjektiven Rechte, wie sie sich auch in den Verfassungstexten finden. Am Beispiel von Grundgesetz-Artikel 5: In Deutschland ist jeder berechtigt, seine Meinung frei in Wort und Schrift zu äußern und zu verbreiten; korrespondierend dazu ist jedes Staatsorgan verpflichtet, dieses Bürgerrecht zu respektieren. Der studierte Jurist (promovierte Philosoph und privatisierende Ökonom) Marx charakterisierte das Recht nicht nur als den zum Gesetz erhobenen, sich aus ihren materiellen Lebensbedingungen ergebenden Willen herrschender Gesellschaftsklassen, sondern auch – was weniger geläufig ist – als einen in gleicher Weise anzuwendenden, die unumschränkte Macht einer Regierung begrenzenden Maßstab. [Vgl. Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1959, S. 477; Bd. 12, S. 541.] Jedes Recht ist Mittel und zugleich Maß von Macht. Daraus folgt, daß ein gleichgültiges Verhalten gegenüber den Bürgerrechten gleichbedeutend wäre mit einem gleichgültigen Verhalten nicht nur zu den allgemeinen Lebensbedingungen, sondern auch zu den tagtäglichen Bedingungen, unter denen diejenigen kämpfen, die an einer Systemveränderung der Gesellschaft interessiert sind.

So unvollständig – gemessen am internationalen Menschenrechtsstandard – der Bürgerrechtskatalog in dem seit 1949 durch inzwischen 52 Änderungsgesetze tiefgreifend umgestalteten Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auch sein mag (es fehlen unter anderem das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Kultur, das Recht auf soziale Sicherheit), und so häufig auch eine Folgegesetzgebung diesen Bürgerrechtskatalog durchlöcherte – er ist das Beste, was die deutsche Rechtsordnung der Gegenwart zu bieten hat. Widerspiegeln sich doch in seinem Ursprungstext auch die Ergebnisse des Sieges der Alliierten über den Nazifaschismus, wie sie unter anderem in den dreißig Artikeln der Universellen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 ihren Ausdruck fanden. Gerade weil die Bürgerrechte, deren Einhaltung sich ohnehin nicht im Selbstlauf vollzieht, sondern, wie die Demokratie selbst, Demokraten voraussetzt, eigentlich immer, nun aber wegen des global war on terror besonders gefährdet sind, wäre ein leichtfertiges Verhalten zu ihnen durch sich für besonders radikal haltende Linke für die gute alte Sache der Linken kontraproduktiv. Es wäre radikalistisch, nicht aber radikal.

Doch hatte sich nicht Marx selbst, beginnend mit seiner in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von 1844 veröffentlichten Rezensionsabhandlung Zur Judenfrage, aber auch später immer wieder, kritisch zu den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der bürgerlichen Gesellschaft geäußert? Tatsächlich hat Marx nicht die nordamerikanischen und französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Virginia Bill of Rights von 1776 etwa oder Frankreichs Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 kritisiert, sondern die in der damaligen Arbeiterbewegung verbreitete Illusion, daß eine Verwirklichung dieser Rechte gleichbedeutend mit einer Überwindung kapitalistischer Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse sei. Wie sich aus den jeweiligen Artikeln 3 der Statuten des "Bundes der Geächteten" von 1834 und des "Bundes der Gerechten" von 1838 ergibt, waren nämlich diese Vorläufer des späteren "Bundes der Kommunisten" der Ansicht, daß die bürgerlich-revolutionären Menschenrechtserklärungen des vorangegangenen Jahrhunderts bereits das genuine Programm für einen Sozialismus, einen Kommunismus gar, enthalte. Dieser seines Erachtens Fehlorientierung setzte Marx nun die Erkenntnis entgegen, daß es unmöglich sei, die Gesellschaft auf einer Basis revolutionieren zu wollen, die selbst nur der verschönerte Schatten dieser Gesellschaft sei.

Um mit der Ausbeutung, Unterdrückung und Verdummung des Menschen durch den Menschen radikal zu brechen, bedürfe es einer allseitig menschlichen, d.h. einer nicht nur politischen, sondern auch sozialen und geistigen, mit einem Wort: einer humanen Emanzipation. Ihre gestaltende Kraft aber finde die ihrer – so im gewollten Anklang an eine Formulierung Hegels – "Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung" im Proletariat. [Vgl. Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 2, Berlin 1957, S. 37; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], Berlin 1981, S. 37, 505.] – Übrigens: während Marx die in der Gleichsetzung von menschlicher Emanzipation und Aufhebung des Privateigentums gipfelnden Unterscheidung zwischen den Menschen- und den Bürgerrechten konzipierte, nahm er an den Versammlungen der deutschen und französischen Arbeiter in Paris teil und wohnte in der Rue Vaneau, Faubourg Saint-Germain, im gleichen Haus wie das Mitglied des "Bundes der Gerechten", der Lehrer und Schriftsteller German Mäurer (1815–1885), der später auch für den "Bund der Kommunisten" wirkte.

Mit seiner von ihm erstmals 1844 publizierten Unterscheidung zwischen den Bürgerrechten und den Menschenrechten, zwischen der bloß politischen und der wahrhaft menschlichen Emanzipation hatte Marx den Grundstein für alle seine späteren Erörterungen zu dieser Thematik gelegt. Seine Orientierung auf eine ausbeutungs- und unterdrückungsfreie Gesellschaft, auf eine, wie der inzwischen meistzitierte, wenn auch gelegentlich unterbelichtete Satz des Kommunistischen Manifests lautet, "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", [Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1959, S. 472.] hat sich bis in die Gegenwart als unüberholt erwiesen. Es mutet so hinterwäldlerisch wie inhuman an, wenn der vom Berliner (angeblich rot-roten) Senatherausgegebene neueste Verfassungsschutzbericht ausgerechnet die "auf ein herrschaftsfreies, mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit (Befreiung von unterdrückerischen Machtstrukturen) ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen: die so genannte herrschaftsfreie Ordnung" ausgerichtete Auffassung als linksextremistisch bezeichnet. [Verfassungsschutzbericht 2006, herausgegeben von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz, Berlin 2007, S. 164.]

Die Marxsche Menschen- und Bürgerrechtskonzeption mag in ihren historischen Details, auch in der Annahme ihrer unmittelbar bevorstehenden Realisierungsmöglichkeit überholt sein. Was jedoch keinesfalls überholt ist, ist die Warnung vor den Illusionen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man die Formulierung von Bürgerrechten mit ihrer Verwirklichung verwechselt oder dem schönen Schein erliegt, der sich aus einem pathetisch formulierten Paragraphentext von selbst ergibt, so etwa, wenn Deutschlands Grundgesetz-Artikel 1 die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, obwohl bereits ein wenig Nachdenken doch zu der Einsicht führen sollte, daß es bestenfalls schön wäre, wenn es so sein würde! In der harten Gesellschaftsrealität wird die Würde der Bevölkerungsmehrheit unserer Erde durch Kriege und anderen Terror, durch Vertreibungen, Hunger, Obdach- und Arbeitslosigkeit millionenfach angetastet und dieser Zustand bedarf keiner Phrasentünche, sondern einer Ursachenanalyse als einer Voraussetzung für seine Aufhebung.

Und dann kommt noch etwas zumeist Übersehenes hinzu: Sogar die in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichten Bürgerrechte tragen zu der Illusion bei, daß diese Bürgerrechte die normierte Inkarnation wahrhafter Menschenrechte seien. Aber die in nahezu allen postfeudalen Staaten postulierte Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz konsolidiert (und kaschiert zugleich) deren Ungleichheit unter dem Gesetz! So ist das gesetzlich gewährleistete gleiche Recht eines jeden, sein (Produktions- und Konsumtionsmittel-) Eigentum nach Belieben zu benutzen, nicht nur kompatibel mit der äußersten Ungleichheit innerhalb der tatsächlichen Eigentumsverteilung in der Gesellschaft, sondern trägt zu der Selbsttäuschung bei, daß dieses Recht auf Gleichheit von Ungleichen im gleichen Interesse aller liege. Schützt es doch die Eigentümer vor den Begehrlichkeiten der Nichteigentümer (Art. 14 Grundgesetz; § 903 BGB). Schärfer formuliert: Die Reichtums- und Machtexpansion des einen Teils der bürgerlichen Gesellschaft bedingt die Macht- und Reichtumsreduktion ihres anderen Teils, wie diese Reduktion jene Expansion ermöglicht: Wäre A nicht arm, wäre B nicht reich! Da die bürgerliche Gesellschaft einem jeden gestattet, arm zu sein, aber nur wenigen ermöglicht, reich zu werden, ist unter ihren objektiven Bedingungen die Gleichheit vor dem Gesetz auch als Garantie einer Ungleichheit unter dem Gesetz zu begreifen.

Wäre es aber deshalb angemessen, die Gleichheit vor dem Gesetz (Grundgesetz-Artikel 3: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") als wertlos zu betrachten? Oder die Pressefreiheit (Art. 5), auch wenn die Medien kein Volkseigentum sind? Oder die Vereinigungsfreiheit (Art. 9)? Oder das Kriegsdienstverweigerungsrecht (Art. 4)? Oder das Streikrecht (Art. 9)? Oder daß über Freiheitsentziehungen einer Person nicht die Exekutive, sondern nur ein Richter und nur auf der Grundlage eines Gesetzes entscheiden darf (Art. 92, 104)? Auf die soziale Bedingtheit oder die Widersprüchlichkeiten der in einer bürgerlichen Gesellschaft integrierten Bürgerrechte zu verweisen, heißt nicht etwa zu ihrer Geringschätzung aufzufordern. Eher im Gegenteil. Löst man doch die Widersprüche einer Gesellschaft nicht dadurch auf, daß man sie ignoriert. Da die Bürgerrechte den Handlungsraum für die erforderlichen sozialen Auseinandersetzungen legalisieren, lohnt es sich gerade für diejenigen, die sich nicht zu Mitspielern an dem sich brutalisierenden Realkapitalismus gemausert haben, für deren Durchsetzung zu kämpfen: Die in ihren Normen als subjektive Rechte eines jeden formulierten Ansprüche erleichtern den Fortschritt, wenn sie wahrgenommen werden; ihr unvermeidliches Illusionspotential gilt es aufzudecken, wie es ihren Regelungsgehalt zu erweitern gilt; und da die Bürgerrechte selbst gefährdet sind, bedürfen sie einer Verteidigung gegen den sich globalisierenden Neoliberalismus samt seinen militärischen Interventionsmechanismen.

Zu den Gefährdungen: Sechs Wochen nach den im September 2001 aus Sicht von Terroristen erfolgreichen Terrorflügen in die Zwillingstürme von Manhattan billigte der USA-Kongreß mit überwältigender Mehrheit doch nahezu ohne Debatte und in verbreiteter Unkenntnis seines Inhalts den offensichtlich seit Jahren vom Justizministerium vorbereiteten Patriot-Act, ein sage und schreibe 342 Seiten langes Gesetz, dessen mehr als eintausend Paragraphen die von der USA-Verfassung und/oder vom Völkerrecht normierten Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten einschränken. [Vgl. den unter dem Titel Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism zugänglich gemachten Gesetzestext, in: www.lifeandliberty/gov/text of the patriot act.]

Ganz so schnell schossen die Preußen in Deutschland nicht. Immerhin hat bereits am 14. Dezember 2001 der Bundestag gegen den Protest der Liberalen und der PDS eine als antiterroristisch ausgegebene innenpolitische Aufrüstung auf den Weg gebracht, indem er auf einen Schlag siebzehn Gesetze änderte, womit er, wie es in einem früheren Manifest der Humanistischen Union hieß, die Freiheit durch deren Einschränkung verteidigte. [Zum Folgenden vgl. Burkhard Hirsch, "Terror und Antiterror", in: Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 15-26; Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, "Der Fall Khaled el Masri", in: Grundrechte-Report 2006, Frankfurt 2006, S. 24-28, sowie Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007.]

Im Ergebnis dieser gesetzgeberischen Sonderaktion wurden unter anderem die unmittelbaren Zuständigkeiten des Bundeskriminalamtes drastisch und kaum mehr konkret abgrenzbar erweitert. Die Tätigkeit des sogenannten Verfassungsschutzes wurde auch auf Bestrebungen ausgedehnt, die sich nicht gegen die Bundesrepublik richten, sondern gegen die Störung des Friedens irgendwo sonst auf der Welt. Die Standorte eingeschalteter Funktelefone dürfen überwacht werden. Es wurden die Polizei- und Geheimdienstbefugnisse zur Einholung von Auskünften bei Kreditinstituten, Luftfahrtunternehmen und Ausländerbehörden ausgeweitet; die vom Verfassungsschutz gewonnenen Informationen dürfen bei einschlägigen Delikten an andere Stellen, auch an ausländische Dienste, weitergegeben werden. Die Speicherdauer wurde auf zehn Jahre verdoppelt. Die Sicherheitsüberprüfungen wurden auf sicherheitsempfindliche Tätigkeiten in verteidigungs- und lebenswichtigen Einrichtungen, auf Versorgungs- und Verkehrsbetriebe, Krankenhäuser, chemische und pharmazeutische Fabriken, Banken, Rundfunk- und Fernsehanstalten ausgedehnt. Pässe und Personalausweise dürfen künftig biometrische Merkmale von Fingern oder Händen oder Gesicht in verschlüsselter Form enthalten; Migranten sind unter Generalverdacht gestellt und werden einer intensiven Überwachung unterzogen. Die Ausländerzentraldatei wird auch den Nachrichtendiensten im Online-Verkehr zugänglich gemacht. Flüchtlings- und Ausländerämter werden verpflichtet, ihnen sachdienlich erscheinende Informationen von sich aus dem Verfassungsschutz zuzuleiten. Auch nach dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bleibt der nun deutsche Staatsbürger für weitere fünf Jahre in dieser Ausländerkartei. Bereits die Beantragung eines Visums löst erkennungsdienstliche Maßnahmen auch hinsichtlich des Einladenden aus. Durch eine Erweiterung von § 129 a StGB wurde der zuvor schon strafbare Tatbestand der "Bildung einer terroristischen Vereinigung" so ausgeweitet, daß sich in den neun Absätzen dieses nunmehrigen Mammutparagraphen, einer Mißgeburt in jeder Beziehung, das halbe Strafgesetzbuch wiederfindet und nur studierte Juristen herausfiltern können, wodurch sich jemand strafbar macht oder ob er/sie nur seine/ihre Rechte wahrnimmt; durch § 129 b StGB werden auch bestimmte im Ausland tätige terroristische Vereinigungen deutschem Strafrecht unterstellt, wobei der Exekutive Eingriffe in die Judikative zugebilligt werden, ein Musterfall einer rechtsstaats- und grundgesetzwidrigem Strafrechtsbestimmung.

Am 1. September 2006 wurde schließlich in den Absatz I von Artikel 73 des Grundgesetzes eine Ziffer 9 a eingefügt, mit der nunmehr die Zuständigkeit für eine Gesetzgebung zur "Abwehr der Gefahren des internationalen Terrorismus" geregelt worden ist. [Vgl. Horst Dreier (ed.), Grundgesetz (Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht), Tübingen 2007, S. 56. – Ältere Ausgaben des seit 1990 bereits 17 mal geänderten Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sind also mit Vorsicht zu benutzen!] Damit wurde Terrorismus, ein von Haus aus historisch-politischer und national wie international umstrittener Begriff, erstmals zu einer Kategorie des bundesdeutschen Verfassungsrechts, ohne daß sich der Bundestag der rechtsstaatlich gebotenen Mühe unterzogen hätte, zu sagen, was eigentlich er unter Terrorismus versteht. Daß er der Bundesrepublik eigene – teils direkte, teils indirekte – Beteiligung an den völkerrechtswidrigen Aggressionskriegen gegen Afghanistan und gegen den Irak nicht als Staatsterrorismus, sondern als Antiterrorismus, als Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten betrachtet, dürfte keine Unterstellung sein. Und es ist auch nicht nur Nibelungentreue, wenn sich die hierzulande Herrschenden den Sicherheitsanforderungen jenes die ganze Welt als sein eigenes Empire beanspruchenden Staates unterzuordnen und dabei auch deutsche Bürgerrechte einzuschränken bereit sind.

Nicht irgend ein "transnationaler islamistischer Terrorismus", sondern die durch den sich globalisierenden Neoliberalismus samt seinen militärischen Exekutionen als global war on terror aufbrechenden sozialen Widersprüche sind in den Ländern des Realkapitalismus die eigentliche Ursache des breitgefächerten Angriffs auf die Bürgerrechte. Dessen zumindest pauschale Bekanntheit wird durch die vom Grundgesetz (Artikel 5) garantierte und insoweit funktionierende Pressefreiheit ermöglicht, wobei allerdings nicht verschwiegen werden soll, daß in den USA die Medien wesentlich detaillierter und vor allem schärfer als bei uns über die Bürgerrechtsverletzungen durch den Staat berichten. Die regierungsseitig als innerstaatliche Kollateralschäden zwischenstaatlicher Kriegführung, als Peanuts der Rechts- und Unrechtsgeschichte kleingeredeten Bürgerrechtsgefährdungen umfassen ein ganzes Bündel. Zuweilen hat man den Eindruck, daß wir uns auf dem Weg von einem liberal-demokratisch zumindest konzipierten Rechtsstaat zu einem präventiv-autokratisch praktizierten Sicherheitsstaat befinden und einer Guantánamoisierung der Rechtsordnung entgegensteuern.

Ohne zwischen den zumindest für diskutabel erklärten, den in Aussicht genommenen, den schon auf den Gesetzgebungsweg gebrachten und den bereits geheim oder gar offen praktizierten Formen aufgeweichter Gesetzlichkeit zu unterscheiden, sei hier, ohne eine Rangordnung auch nur anzudeuten, lediglich erinnert an die Drahtkäfighaltung vorläufig Festgenommener in Heiligendamm und die dortigen Tornado-Einsätze über gewaltfrei Demonstrierende; an die heimlichen Online-Durchsuchungen auf Privatcomputern; an die allein bei der Deutschen Telekom im vergangenen Jahr eingegangenen ca. 27.000 Anfragen nach Telefonverbindungen und 94.000 Anfragen nach Internetverbindungen; an die neben den Strafverfolgungsbehörden auch den Geheimdiensten aus 52 Staaten zugängliche verdachtsunabhängige Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbindungs- und Standortdaten (vgl. www.vorratsdatenspeicherung.de); an die ausufernde Videoüberwachung im öffentlichen Raum; an die Legitimierung der sogenannten Rettungsfolter; an das gezielte Töten mutmaßlicher Terroristen (shoot-to-kill-policy), als ob die Ermordung eines Mörders nicht Mord wäre; an die Etablierung eines sogenannten Feindstrafrechts, das im Unterschied zum Bürgerstrafrecht nicht rechtsstaatlichen Standards entsprechen müsse (eine Kostprobe haben wir nach 1990 in den Strafverfahren gegen DDR-Bürger erlebt, als das Rückwirkungsverbot ausgehebelt wurde); an die Akzeptanz von angeblich rechtsfreien Räumen im Ausland, in die man das Foltern mutmaßlicher Terroristen, für die ohnehin die Unschuldsvermutung nicht gelten würde, verlagern könne, womit der auf Jahre hin gefangen gehaltene Betroffene in den mittelalterlichen Status eines Vogelfreien zurückgeworfen wird; an den flächendeckenden Widerruf des Status von Asylberechtigten aus Afghanistan und dem Irak; an die Verbotsverfügung des Innenministeriums gegen kurdische Vereine und Organisationen; an die Auslieferung der für ihre Rechte kämpfenden Kurden an die Türkei; an die Privatisierung öffentlichen Eigentums (dem Gegenteil nicht nur von Sozialisierung, sondern auch von Demokratisierung!), um die Staatseinnahmen auf das angebliche Kerngeschäft des Staates konzentrieren zu können; an die Rasterfahndungen nach islamistischen "Schläfern"; an den Asylwiderruf als Antiterrormaßnahme; an die moderne Militärdoktrin mit ihrer Umwidmung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer weltweiten Interventionsarmee, auch als Vasall in völkerrechtswidrigen Kriegen samt Polizeifunktion im Inneren; an die Erfassung von Demonstrationsteilnehmern in Polizeicomputern; an die Übermittlung privater Flugpassagierdaten aus den EU-Ländern an US-Sicherheitsbehörden und an die Geringschätzung des Völkerrechts und des eigenen, Aggressionskriege "eigentlich" illegalisierenden Verfassungs- und Strafrechts.

Daß die innerstaatliche wie die zwischenstaatliche Gewaltanwendung nicht auf einer Selbstmandatierung der Gewaltanwender beruhen, sondern nur nach dem Maß geltender Rechtsnormen erfolgen darf, gehört zum harten Kern jeder Rechtsstaatlichkeit (in etwa: rule of law). Selbstmandatierung von Gewalt, Faustrecht also, ist nicht Recht, sondern Bruch des Rechts. Wie die innerstaatliche, so läßt sich auch die zwischenstaatliche Lynchjustiz nur als Unrecht charakterisieren, als Verbrechen oder Kriegsverbrechen. Statt rule of law nun rule of terror. Nun ist das Recht, wie jede andere Normenordnung auch, kein sich selbst verwirklichendes System. Wenn Interessenkonstellationen, die einen bestimmten Rechtsinhalt ermöglichten oder erzwangen, sich ändern, ändert sich zwar nicht automatisch das Recht, wohl aber dessen Verwirklichungschance. Macht macht Recht, aber auch Unrecht. Daher ist ein bloßes Moralisieren darüber unangebracht, daß wie beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien so auch bei den USA-Kriegen der "freien Welt" gegen Afghanistan und den Irak, das Völker- und das Verfassungsrecht auf der Strecke blieben.Um dem Kriegsgebaren der Herrschenden wenigstens den Schein von Legalität zu entziehen, ist aber der Nachweis sehr wohl angebracht, daß es sich beim ganzen global war on terror tatsächlich um schwerste Rechtsverletzungen, nämlich um Kriegsverbrechen handelt, die "eigentlich" der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes unterliegen, dessen Statut von 1998 seit dem 1. Juli 2002 auch für die Bundesrepublik Deutschland (aber nicht für die sich verweigernden USA) gilt. [Vgl. Norman Paech, "Terror und Krieg. Zur Zivilisierung der neuen Weltordnung", in: Dieter Lutz (ed.), Zukunft des Terrorismus und des Friedens, Hamburg 2002, S. 75-92.] Gemessen an der Aufdeckung der eigentlichen Ursachen des gegenwärtigen Terrors durch Krieg ist das ein zugegeben schwaches Argument, aber ein unverzichtbares wohl doch.

Charakteristisch ist dabei auch die juristische Rabulistik, mit der Unrecht sich in Recht verkehrt. Da wird in Abu Ghraib, Guantánamo Bay und anderswo das auch völkerrechtlich absolut gesetzte Folterverbot (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 7: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden") in verbrecherischer Weise ausgehebelt, indem man ein sogenanntes "zärtliches" Foltern in Gestalt von Scheinhinrichtungen, waterboarding und Hundehaltung von Menschen für legal erklärt. [Vgl. die im Literaturverzeichnis genannten Bücher von Beestermöller, Reemtsma, Trapp und Wagenländer.] Oder die überwiegend unbemerkt gebliebene Tatsache, daß der global war on terror als ein unerklärter Krieg begann, denn einen Krieg zu erklären, ist nämlich nur der Kongreß (also Senat plus Repräsentantenhaus) berechtigt. Doch hat ein von 2001 bis 2003 im Justizministerium arbeitende Juristenprofessor gelehrte Abhilfe geschaffen: Zwar dürfe der USA-Präsident gemäß Artikel 1 Abschnitt 8 der USA-Verfassung keinen Krieg erklären, aber beginnen dürfe er ihn sehr wohl aus eigenem Entschluß ("to declare war" sei schließlich etwas ganz anderes als "to commence a war"); in einem begonnenen Krieg aber habe der Präsident im Interesse der USA absolute Handlungsfreiheit; auch könne er durch signing statements die ihm vom Kongreß zugeleiteten, ihm aber nicht zusagenden Gesetze mit einer verbindlichen Interpretation versehen, um sie in seinem Sinn und nicht dem des Kongresses anzuwenden (was Bush in den sechs Jahren seiner Präsidialmacht in über achthundert Fällen auch getan hat). [Vgl. John Yoo, The Powers of War and Peace. The Constitution and Foreign Affairs After 9/11, Chicago 2005; Marie Th. Fögen, Das Lied vom Gesetz, München 2007, S. 44.]

Und Vergleichbares geschah hierzulande: Im Artikel 26 des Grundgesetzes für Deutschland heißt es: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen". Der zuletzt genannten Aufforderung an den Gesetzgeber hat der Bundestag, wenn auch spät, entsprochen, und seit 1968 wird durch § 80 StGB die Vorbereitung eines Angriffskrieges mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren geahndet. Als nun im Januar 2006 das Netzwerk Friedenskooperative den früheren Bundeskanzler Schröder und andere wegen des Verdachts der Vorbereitung eines Angriffskrieges anzeigte, hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof die Strafanzeige innerhalb weniger Tage mit der Begründung zurückgewiesen, daß nach dem eindeutigen Wortlaut von Artikel 26 des Grundgesetzes nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar sei. [Vgl. Wolfgang Kaleck, "Zur Legalität von Angriffskriegen nach deutschem Recht", in: Jahrbuch 2007, herausgegeben vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Münster 2007, S. 44-53; das Antwortschreiben des Generalbundesanwaltes auf S. 186.] So sind wir nun in einem sowohl unerklärten als auch unvorbereiteten Krieg mit von der Partie ...

Wenn es sich um größere Sicherheit für die Bevölkerung handelt: Was wir wirklich brauchen, ist ein sich an sozialen, friedens- und umweltpolitischen Standards orientierender Sicherheitsbegriff, mit dem auch an den eigentlichen Ursachen und begünstigenden Bedingungen von Terror und Gegenterror, von Gewalt und Kriminalität nicht vorbeigedacht werden kann; schließlich basiert der Reichtum des Westens weitgehend auf Gewalttaten, auf Kriegen und Kolonisierungen und auf kirchlich abgesegneten Zwangsmissionierungen. Gewaltfreie Krisenprävention durch Bekämpfung von Armut, Hunger, Elend, Ausbeutung und Unterdrückung ist zwar erforderlich, doch wenig in Sicht. Statt dessen werden die Menschen- und Bürgerrechte von unserer Obrigkeit mehr als Sicherheitsrisiko und -hindernis wahrgenommen oder gar zur Begründung für "humanitäre Interventionen" mißbraucht, dem staatlichen Gegenterror auf möglichen Terror.

Wann endlich, so fragt man sich, wird sich die Erkenntnis durchsetzen, daß wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart die wirklichen Menschen- und Bürgerrechte mehr von der Obrigkeit, den politischen Gewalthabern, den sie tragenden ökonomischen Machthabern und dem medial geschürten "gesunden Volksempfinden" (Angst sei das Schmieröl der Staatstyrannei, sagt man) bedroht sind als von Außenseitern, Minderheiten oder Terroristen? Der Eindruck ist beklemmend, daß sich in Deutschland eine Bevölkerungsmehrheit mit der von Grünen und Gelben zusätzlich abgestützten und von den Linken allzu zaghaft attackierten Groß-Koalitions-Regierung samt einer sich neoliberal organisierenden Gesellschaft, Sozialabbau und Militäraufbau inklusive, abgefunden zu haben scheint.

Wie also weiter? Welches sind die Aussichten? Dürfen wir hoffen, und worauf? Bei Bertolt Brecht findet sich der Satz: "Die Widersprüche sind die Hoffnungen". [Brecht, Werke, Bd. 21, Berlin/Weimar/Frankfurt 1992, S. 448.] Mißverstehen wir diesen Weitblick des, wie mir deucht, bedeutendsten Marxisten deutscher Zunge des vorigen Jahrhunderts nicht als Rechtfertigung eines Wartens auf den Selbstlauf der Geschichte. Denn die uns zu wirklicher Hoffnung ermutigenden Widersprüche sind mehrfacher Art. Grundlegend ist gewiß der sich aus den Eigentumsverhältnissen ergebende Reichtum/Armut-Antagonismus innerhalb des heutigen Realkapitalismus. Aber dieser objektive Widerspruch bedarf des Subjektiven, nämlich des Erkanntwerdens (worin der eigentliche Beruf der Sozial- und Geisteswissenschaftler besteht) und, darauf fußend, der Widerrede gegen die Apologien der Machthaber. Damit der Macht/Ohnmacht-Struktur in der gegenwärtigen Weltgesellschaft ihr wohlverdientes Ende bereitet werden kann, bedürfen die zu Hoffnungen berechtigenden Widersprüche – sogar die Widersprüche zwischen den Bürgerrechts- und den Wirtschaftsliberalen! – jedoch, drittens, auch des Handelns derjenigen, die bereit sind, den Gedanken Taten folgen zu lassen. Sogar diejenigen gilt es aufzuschrecken, die sich in eingeigelter Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Elend dieser Welt einfach angepaßt und mit den Verhältnissen, wie sie nun einmal sind, ihren Frieden geschlossen haben. Oder die sich damit begnügen, das Allerschlimmste im Interesse des bloß Schlimmen zu verhindern. Wenn ich recht sehe, kann gerade zum Letztgenannten die KPF mehr als nur ein Liedlein singen.

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Betrachtet bitte mein Gastreferat auch als meine Art, denjenigen Respekt zu erweisen, die, bloß um "anzukommen", ihre Weltsicht zu ändern weder befähigt noch bereit sind.

10. November 2007
Vom selben Autor siehe: "Mitteilungen", Heft 7/2007, S. 8.

Literatur:

  • Gerhard Beestermöller (ed.), Rückkehr der Folter, München 2006.
  • Daniel Benjamin, The New Attack. The Failure of the War on Terror, New York 2005.
  • Paul Bermann, Terror und Liberalismus, Hamburg 2004.
  • Walter M. Brasch, America’s Unpatriotic Acts, New York 2005.
  • Noam Chomsky, Hegemony or Survival: America’s Quest for Global Dominance, London 2003.
  • Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007.
  • Kurt Graulich (ed.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, Berlin 2007.
  • Stefan Grey, Das Schattenreich der CIA. Amerikas schmutziger Krieg gegen den Terror, München 2007.
  • Joachim Hösler (ed.), Der gerechte Krieg?, Bremen 2000.
  • Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt 2007.
  • Hermann Klenner, "Über die Aktualität der Marxschen Unterscheidung zwischen den Menschen- und den Bürgerrechten" (Vortrag vor der GBM), in: Zeitschrift marxistische Erneuerung, Jg. 17, Nr. 68, 2006, S. 115–130.
  • Hermann Klenner, "Juristenaufklärung über Gerechtigkeit", in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 88, Jg. 2007, S. 35–96.
  • Nicolas Kredel, "Operation Enduring Freedom” and the Fragmentation of International Legal Culture, Berlin 2006.
  • Dieter S. Lutz (ed.), Zukunft des Terrorismus und des Friedens, Hamburg 2002.
  • Reinhard Marx, "Globaler Krieg gegen Terrorismus und territorial gebrochene Menschenrechte", in: Kritische Justiz, Jg. 39, 2006, Heft 2, S. 151–178.
  • Till Müller-Heidelberg (ed.), Grundrechte-Report 2007, Frankfurt 2007.
  • Norman Paech / Gerhard Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001.
  • Jan Philipp Reemtsma, Folter im Rechtsstaat?, Hamburg 2005.
  • Wolfgang Scheler / Ernst Woit (ed.), Kriege zur Neuordnung der Welt, Berlin 2004.
  • Rainer Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung, Paderborn 2006.
  • Christopher Tyerman, God’s War: A New History of the Crusades, Cambridge 2006.
  • Georg Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, Berlin 2006.
  • Rudolf Walther, "Terror, Terrorismus", in: Otto Brunner (ed.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 323 – 444.
  • Marion Wieser, Land of the Free?: Der "Kampf gegen den Terrorismus” als Herausforderung für die Bürgerrechte in den USA, Frankfurt 2007.

 

Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:

2007-07: Querelen eines Juristen