Tag des Gedenkens
Erinnerung im Bundestag
Der Bundestag erinnerte am Freitag, 27. Januar 2017, dem Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, in seiner Gedenkstunde an die Opfer der »Euthanasie« im NS-Staat.
Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert hielt die Eröffnungsrede. Besonders gedenke man in diesem Jahr der Kranken, Hilflosen und aus NS-Sicht »Lebensunwerten«, die im sogenannten »Euthanasie«-Programm ermordet wurden: 300.000 Menschen, die meisten zuvor zwangssterilisiert und auf andere Weise gequält.
Dr. Hartmut Traub, der Neffe eines der Getöteten, berichtete: Im Vernichtungskeller von Hadamar wurden von Januar bis August 1941 10.113 Männer, Frauen und Kinder mit Gas umgebracht und in den beiden Öfen des Krematoriums verbrannt.
Der Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski, der ein Buch über sein Leben mit dem Down-Syndrom verfasst hat, trug in der Gedenkstunde den »Opferbrief« von Ernst Putzki vor. Der damals 41-jährige Putzki hatte ihn am 3. September 1943 aus der Anstalt Weilmünster an seine Mutter geschrieben. Putzki wurde am 9. Januar 1945 in Hadamar ermordet.
»Liebe Mutter!
Wir haben heute schon 4 Jahre Krieg und den 3.9.1943. Wir geben Nachrichten! Euer Brief kam am Sonntag d. 22.8. hier an. Die Stachelbeeren bekam ich nicht. Das angekündigte Paket erhielt ich erst gestern und wurde wahrscheinlich zu Fuß hierhin gebracht. Der Inhalt, 2 Pfund Äpfel u. eine faule matschige Masse von stinkenden [sic] Birnenmus[,] wurde mit heißhunger überfallen. Um eine Hand voll zu faulem Zeug rissen sich andere Todeskandidaten drum. Meine Schilderungen aus Wunstorf wurden nicht geglaubt aber diese hier muß man glauben weil sich jeder von der Wahrheit überzeugen kann. Also: Nachdem ich an Paul 2, an Paula 1 Brief von Warstein schrieb, schickte ich Dir 6 Tage vor dem Transport die Nachricht von unserer Übersiedlung nach hier und bat noch um Deinen Besuch. Der Transport war am 26. Juli und ich bin Montag genau 6 Wochen hier.
Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen. Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg. Die Bilder aus Indien oder Rus[s]land von verhungerten Menschen, habe ich in Wirklichkeit um mich.
Die Kost besteht aus täglich 2 Scheiben Brot mit Marmelade, selten Margarine oder auch trocken. Mittags u. abends je ¾ Liter Wasser mit Kartoffelschnitzel u. holzigen Kohlabfällen. Die Menschen werden zu Tieren und essen alles was man eben von anderen kriegen kann so auch rohe Kartoffel und Runkel, ja wir wären noch anderer Dinge fähig zu essen wie die Gefangenen aus Rus[s]land[.]
Der Hungertot sitzt uns allen im Nacken, keiner weiß wer der Nächste ist. Früher ließ man in dieser Gegend die Leute schneller töten und in der Morgendämmerung zur Verbrennung fahren. Als man bei der Bevölkerung auf Widerstand traf, da ließ man uns einfach verhungern. Wir leben in verkommenen Räumen ohne Radio, Zeitung und Bücher, ja, ohne irgend eine Beschäftigung. Wie sehne ich mich nach meiner Bastelei. Wir essen aus kaputtem Essgeschirr und sind in dünnen Lumpen gekleidet in denen ich schon mehr gefrohren [sic] habe wie einen ganzen Winter in Hagen. Vor 5 Wochen haben wir zuletzt gebadet und ob wir in diesem Jahre noch baden, wissen wir nicht. Alle 14 Tage gibt es ein reines Hemd u. Strümpfe. Das ist Sozialismus der Tat.
Euer Ernst«
Protokoll, Deutscher Bundestag (www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw04-de-gedenkstunde/490478)