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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Täterland ohne Schuldbewusstsein [1]

Dr. Sigurd Schulze, Berlin

 

Der von den Alliierten 1943/44 gegründete Suchdienst, seit 1948 unter dem Namen International Tracing Service (ITS, Internationaler Suchdienst) in Bad Arolsen (Hessen), betreibt Forschungen zu den Schicksalen der KZ-Häftlinge, der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die sich nach ihrer Befreiung beim ITS meldeten, um versorgt und unterstützt zu werden, oder nach denen ihre Angehörigen suchten. In Europa betraf das rund zehn Millionen der als Displaced Persons (DPs) bezeichneten Menschen. Unlängst legte der ITS einen Forschungsbericht vor: »Fundstücke. Entwurzelt im eigenen Land: Deutsche Sinti und Roma nach 1945«. Darin untersucht der Dienst nicht nur die Schicksale dieser Opfergruppe, sondern auch die Rolle des eigenen Instituts bei der Hilfe oder Nichthilfe für diese Menschen.

Es ist bekannt, dass die Nazis in den Vernichtungslagern und durch Sklavenarbeit eine halbe Million Sinti und Roma ermordeten. Hinzu kommen nicht gezählte Opfer in Jugoslawien und anderen Ländern. In Deutschland entzogen die Nazis den »Zigeunern« die deutsche Staatsbürgerschaft, enteigneten sie und deportierten sie ab 1938 in die Konzentrationslager. Das wurde von der »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« organisiert, einem Ableger des Reichssicherheitshauptamtes. Heinrich Himmler forcierte mit einem Befehl vom 16. Dezember 1942 die massenhafte Vergasung von Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau.

In einer zivilisierten Gesellschaft wäre es selbstverständlich gewesen, nach der Nazizeit die Rechte der Überlebenden wiederherzustellen, sie zu entschädigen und zu unterstützen. Sie waren Deutsche, fühlten sich als Deutsche und konnten sich eine andere Heimat als Deutschland nicht vorstellen. Doch die bundesdeutsche Tätergesellschaft verweigerte ihnen ihre Anerkennung. Die Heimgekehrten fanden ihre Wohnungen besetzt, ihr Hab und Gut geraubt oder zerstört. Von den Kommunen wurden sie in den Randlagen der Städte und Dörfer untergebracht, das heißt »erneut ghettoisiert«, wie der Bericht feststellt. Die größten Schwierigkeiten wurden ihnen bei der Anerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft gemacht. Sie fielen wieder in die Hände der Polizisten, die in den »Landfahrerzentralen« ihr Handwerk aus der Nazizeit fortsetzten, und die als ihre früheren Verfolger nun die Prüfinstanz für ihre Rehabilitierung und Entschädigung darstellten. Die unrühmlichste Rolle spielte der Bundesgerichtshof, der 1956 eine »rassische« Verfolgung erst nach dem Himmlerbefehl 1942 anerkannte und damit zehntausende Überlebende von einer Entschädigung ausschloss. »Die Justiz wurde damit selbst Teil jenes Schweige- und Entlastungskartells, das die frühe Bundesrepublik kennzeichnete«, stellt der Bericht fest. »Viele staatliche Akteure der jungen Bundesrepublik verband ein tief eingewurzelter Antiziganismus, der im Gegensatz zum Antisemitismus ... keine gesellschaftliche Ächtung erfuhr ...« (S. 22 f.). Die Deutungsmacht lag erneut bei den Tätern und ihren Netzwerken.

Anfänglich waren die Opfer wie gelähmt. Sie reproduzierten eine tief eingewurzelte Überlebensstrategie, versuchten nicht aufzufallen und ihre Identität zu verbergen. Sie lebten umgeben von einer Bevölkerung, für die Wegschauen, Verschweigen, Lügen und dreistes Unrechtsbewusstsein typisch waren. In den 70er Jahren entwickelte sich eine Bürgerrechtsbewegung für die Rechte der Sinti und Roma. Romani Rose und Gleichgesinnte provozierten eine politische Debatte, die von jüdischen Persönlichkeiten wie Simon Rosenthal und Heinz Galinski unterstützt wurde und die 1982 in die Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mündete. Schließlich wurde 2012 (67 Jahre nach der Befreiung!) die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin erzwungen. Von dem von den Autoren Silvio Peritore und Frank Reuter beschworenen Bewusstseinswandel jedoch und von einer neuen demokratischen Kultur ist kaum etwas zu spüren. Der Hass auf »Fremde« macht nicht einmal vor Kriegsflüchtlingen halt, von Antisemitismus und Antiziganismus ganz zu schweigen.

Es ehrt den ITS, seine eigene Rolle bei den für deutsche Behörden charakteristischen Strategien des Abwiegelns, Leugnens, der Entrechtung und der Schikane kritisch zu untersuchen. Der ITS wurde von den Westalliierten ab 1946 zunehmend als Instrument im Kalten Krieg genutzt, was auch zum Rückzug der Sowjetunion aus seinen Strukturen führte. Konrad Adenauer setzte 1955 die Führung des ITS durch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes durch. In deren Folge wurde die Dokumentation der Naziverbrechen anhand der Akten des ITS, die auf Zeugnissen der Naziopfer beruhen, gedrosselt. Im ITS beschäftigte DPs wurden »ersetzt«. Wo Opfer und ihre Angehörigen um Nachweise der erlittenen Verfolgung baten, erhielten sie standardisierte, falsche und von Vorurteilen bestimmte Antworten. Im Buch werden Fälle nachgewiesen, in denen falsche Angaben der Nazibehörden den Aussagen der Opfer vorgezogen und damit Entschädigungen verhindert wurden. »Antiziganismus war … institutionalisiert, und auch der ITS tat nichts, um dem entgegenzuwirken oder diese Vorgehensweise in Frage zu stellen« (S. 18). Die Skandale um die Zwangsarbeiterentschädigung stellten auch die Praktiken des ITS in Frage und erzwangen eine Neuausrichtung auf die Vertretung der Interessen der Naziopfer. Dennoch werden die Verantwortlichen für die Missstände nicht genannt. Die Autoren benennen klar die Schuld der bundesdeutschen Behörden an der stigmatisierenden und menschenverachtenden Behandlung der Sinti und Roma. Sie gehen jedoch nicht so weit, die wahren Ursachen auszusprechen: die Durchsetzung der Justiz, der Polizei, der Geheimdienste, der öffentlichen Verwaltung und der Presse mit Nazis, mit Blutrichtern, Mördern, Folterern und ihren Propagandisten, mit Tätern und Profiteuren. Ein von den Autoren ausgemachter »Generationenwech-sel« hat diesen Ungeist nicht ausgemerzt.

Die Vergangenheit ist nicht vorbei

Soweit die Geschichte und dieses Buch – ein alter Hut? Die aktuelle Entwicklung offenbart die unheimliche Kontinuität, in der diese Minderheit in Deutschland erneut einer schändlichen Diskriminierung ausgesetzt wurde und wird, und das nicht nur von rassistisch gesinnten Bürgern, sondern von den Behörden des »Rechtsstaates«. Die Diskriminierung hat eine neue Dimension erreicht, denn mit der wachsenden Verarmung des Volkes in den ehemaligen sozialistischen Ländern eskaliert die Diskriminierung nationaler Minderheiten, besonders der Roma in Bulgarien, Rumänien, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Tschechien, in der Slowakei und im Kosovo. Einen Ausweg suchen die Roma – und nicht nur sie – durch Flucht in Länder mit ausgeprägten Sozialsystemen und, wie sie hoffen, mit Arbeit. Allein im zweiten Quartal 2015 beantragten nach Angaben der Bundesregierung auf Anfrage der LINKEN im Bundestag 13.908 Roma aus den ehemaligen jugoslawischen Republiken und Albanien in der Bundesrepublik Asyl. Nun wäre es die Pflicht deutscher Regierungen, die Verbrechen des Faschismus durch feinfühlige Unterstützung der Sinti und Roma wiedergutzumachen und ihnen Schutz vor Verfolgung und Schikane zu bieten. Das Gegenteil geschieht. Asylanträge von Roma werden, wie die Bundesregierung erklären musste, fast zu hundert Prozent abgelehnt. Jährlich werden 7.000 bis 8.000 Roma zur Ausreise verpflichtet, zum Beispiel in das Kosovo (nach der letztverfügbaren Zahl) im Jahre 2011 allein 4.644 Personen. Der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist da ganz konsequent, wie er am 22. Oktober im »Balkan-Zentrum« in Bamberg verkündete: »Diejenigen, die keinen Schutzbedarf haben [sic!], auch wenn sie noch so verständliche Gründe haben, hier ein besseres Leben zu führen, die müssen unser Land wieder verlassen, und das auch fair und zügig und schnell, und das geschieht jetzt!«

Der »Asylkompromiss« – eine Katastrophe für Roma

Schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhob Romani Rose, Vorstand des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im November 2015 auf einer Tagung zur Situation der Roma im Kosovo. »Der Asylkompromiss ist für die Roma im Kosovo eine Katastrophe.« Durch die erneute Verschärfung des Asylrechts würden die Roma erneut ins Zentrum von Rassismus und Diskriminierung gerückt, »und zwar sowohl in Deutschland als auch in den Herkunftsländern. Die pauschale Stigmatisierung von Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten als ›Armutsflüchtlinge‹ ignoriert nicht nur die konkrete Situation in den Heimatländern, sie missbraucht überdies Menschen, die auf der Flucht vor Diskriminierung und Rassismus sind, zur Verschärfung des Asylrechts.« Auch die Bundeswehr, die im Kosovo Polizeiaufgaben ausübe, habe erklärt, dass es für Roma keine Rückkehrmöglichkeit mehr gäbe. Selbstverständlich sei die Situation der Flüchtlinge aus Syrien, die unmittelbar aus einem Kriegsgebiet kommen, mit der Lage auf dem Westbalkan nicht zu vergleichen. »Das darf aber nicht bedeuten, dass die Lage von Roma ignoriert oder gar zum Instrument für die Verschärfung des Asylrechts gemacht wird.« Von der Bundesregierung forderte Rose sicherzustellen, dass Roma aus dem Kosovo bei der Vergabe von Arbeitsplätzen angemessen beteiligt werden. Die Not der Roma bleibt eine Schande für das Täterland und seine Regierungen. Würden sie es wagen, Juden genauso zu behandeln?

Eine Chance für die Thematisierung der Diskriminierung der Sinti und Roma sieht der Zentralrat darin, dass die Bundesrepublik am 1. Januar 2016 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernommen hat. Er schlägt eine hochrangige Konferenz zur Frage der Sinti und Roma vor. Es bleibt abzuwarten, ob die deutsche Bundesregierung bereit sein wird, statt schöner Worte handfeste Hilfe zu leisten, die bei gutem Willen möglich wäre. Das beweisen die großzügigen Kontingente für die Aufnahme von Juden aus der UdSSR oder ihren Nachfolgestaaten in den neunziger Jahren. Eine ähnliche Regelung etwa für Roma aus dem vormaligen Jugoslawien gab es bisher nicht. Von der Bundesregierung behauptete positive Aspekte des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes für einen legalen Zuzug nach Deutschland und für den Zugang zum Arbeitsmarkt kann der Zentralrat der Sinti und Roma nicht feststellen.

Am 15. Dezember wurden anlässlich des 73. Jahrestages von Himmlers »Auschwitzerlass« im Konzentrationslager Sachsenhausen am Denkmal der ermordeten Sinti und Roma Kränze niedergelegt. Kommentar des RBB: 500.000 Sinti und Roma wurden während des Zweiten Weltkrieges ermordet. Nein. Das ist irreführend. Die Sinti und Roma und die Juden waren keine Soldaten einer feindlichen Armee, die »das deutsche Volk« »natürlich« besiegen wollte. Sie führten keinen Krieg gegen das Nazireich. Sie waren Opfer der faschistischen Rassenideologie. Ihre Verfolgung begann lange vor dem Krieg und wurde während des Krieges nur vollendet – als »Endlösung«. Hier Kränze der Minister, da Abschiebung.

»Fundstücke 2, Entwurzelt im eigenen Land: Deutsche Sinti und Roma nach 1945«, herausgegeben von Susanne Urban, Silvio Peritore, Frank Reuter, Sascha Feuchert und Markus Roth im Auftrag des International Tracing Service, Wallstein Verlag, 38 Seiten und Dokumentenanhang, 9,90 €.

 

Anmerkung:

[1] Dieser Beitrag erschien in Ossietzky 2/2016. Wir danken für die Genehmigung zum Nachdruck.

 

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