»Sunt lacrimae rerum …«
Prof. Dr. phil. Gerhard Oberkofler, Wien
Randbemerkungen zu einigen Träumen in der Autobiographie »Hoffe« (2025) von Papst Franziskus (Teil I)
Vorwort
Im Meer der Bücher sind Autobiographien eine eigene Gruppe, auch wenn die allermeisten eine sehr kleine Wirkdauer haben und nur wenige eine kultische Ausstrahlung erlangen. Schon in der antiken Literatur finden sich öfters autobiographische Komponenten, die Erinnerungen apologetisch darstellen oder zur Kontemplation anregen wollen. [1] Der aus alter Athener Sklavenhalteraristokratie stammende Platon (427–347 v. u. Z.), Schüler von Sokrates (469–399 v. u. Z.), hat autobiographisch über das Werden seiner Dialektik von der vollkommenen Ideenwelt und der materiellen Wirklichkeit gesprochen. Wladimir I. Lenin (1870–1924) ist Platon als Schüler eines russischen Gymnasiums erstmals begegnet und hat sich in späteren Jahren immer wieder mit dessen staatsrechtlichen Lehren beschäftigt. [2] Antonio Gramsci (1891–1937), der in Turin, wo er lebte, mit der Gruppe »Ordine Nuovo« die Keimzelle der Kommunistischen Partei gegründet hat und viele Jahre im faschistischen Gefängnis inhaftiert war, hat in seinen Gefängnisbriefen über Platons »Utopie« geschrieben, dass dieser den mittelalterlichen Feudalismus vorgedacht habe, »mit der Funktion, die dort der Kirche und den Klerikern, der Intellektuellenkategorie dieser sozialgeschichtlichen Entwicklungsphase, zukommt«. [3]
Die erste aus der Spätantike überlieferte Autobiographie, die als solche wahrgenommen wurde, sind die »Confessiones« des römisch-katholischen Kirchenlehrers Aurelius Augustinus (354-430), in welchen dieser als Subjekt und Objekt über seine jugendliche Verirrungen ebenso wie über seine Bekehrung zum Christentum Aufschluss gibt. [4] Die in der »abendländischen« Welt unbekannt gebliebenen chinesischen Autobiographien setzen mit dem 3. Jhd. v. u. Z. ein. [5] Autobiographische Texte von Mao Tse-tung (1893–1976) sind in Europa bei einst stürmischen, inzwischen längst zu alten Dienern der kapitalistischen Gesellschaft transformierten Studenten bekannt geworden.
Zu Beginn dieses Jahres hat Papst Franziskus seine weltweit übersetzte, insbesondere die historischen Komponenten seines Lebens darstellende Autobiographie »Hoffe« veröffentlicht. [6] Der Titel entspricht der Verkündigungsbulle für das »Heilige Jahr«, die er am 9. Mai 2024 unter dem Leitwort »Spes non confundit« (»Die Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen«) aus dem für die katholische Kirche besonders wichtigen Römerbrief des 63 v. u. Z. hingerichteten Heidenapostels Paulus hinausgegeben hat. [7] Diese Autobiographie setzt die Reihe seiner in den letzten Jahren zur Veröffentlichung freigegebenen autobiographischen Texte fort. [8] Manche der päpstlichen Autobiographien sind »Bio-Interviews«, welche Darstellungsform erstmals Sergej Tretjakow (1892–1937) für die Niederschrift der Autobiographie des jungen chinesischen Revolutionärs Den Chi-Chua 1929, die seit 1932 in deutscher Sprache zugänglich sind, verwendet hat. Tretjakow erläutert im Vorwort, dass Den Schi-Chua den Rohstoff der Tatsachen geliefert und er selbst diese »ohne Entstellung« gestaltet hat, denn »sein eigenes Leben genau zu untersuchen, ist eine schwierige Kunst«, die Den Schi-Chua noch nicht beherrscht habe. [9] Vom ungarischen Marxisten Georg Lukács (1885–1971) ist seine kurz vor seinem Tod entstandene Autobiographie »Gelebtes Denken« im Dialog entstanden. [10] Der vietnamesische Buddhist Thich Nhat Hahn (1926–2022) und der US-amerikanische Jesuitenpater Daniel Berrigan SJ (1921–2016) haben in ihren gemeinsamen Gesprächen über buddhistisch-christliches Bewusstsein eine nachhaltige autobiographische Reflexion gefunden. [11] Thich Nhat Hanh, der monographische autobiographische Geschichten veröffentlicht hat, [12] und Berrigan SJ haben sich im Kampf gegen den Völkermord der USA in Vietnam, gegen die israelische Barbarei in Palästina und überhaupt gegen die Unterdrückung der Armen durch die Reichen im Einklang gefunden, was zeigt, dass Buddha und Christus nicht ausgetauscht werden müssen, wenn es um Menschlichkeit geht. Die Autobiographie von Papst Franziskus wird in Wiener Buchhandlungen gleichrangig nebst zahlreichen anderen autobiographischen Bestsellern wie jener der US-amerikanischen Jüdin Barbra Streisand (*1941), der deutschen Angela Merkel (*1954), der US-Amerikaner Barack Obama (*1961) und Bill Gates (*1955) oder des Russen Alexej Nawalny (1976–2024) angeboten.
Der Autor dieses Artikels hat über die oft genug innerkirchlich umstrittenen und abgelehnten Positionen von Papst Franziskus zur praktischen Friedenspolitik und zur Einhaltung der Menschenrechte publiziert. [13] In seiner Autobiographie wird bei allen Vorbehalten, die hier angemerkt werden, deutlich, wie sich der Blick von Papst Franziskus auf die vom Raubkapitalismus der Monopole zum Raubkapitalismus der Oligopole transformierte Realität entwickelt hat. Sein Appell »Für eine Wirtschaft, die nicht tötet« [14] will jedem einzelnen Menschen zum Glück auf dieser Erde verhelfen. Durch seine Autobiographie hat Papst Franziskus seinen vier Enzykliken einen historisch biographischen Hintergrund gegeben. [15] Die meisten kirchlichen Rundschreiben stammen von Papst Leo XIII. (1810–1903).
Als Kind italienischer Immigranten in der Wirklichkeit Argentiniens
Die Vielfalt der Bedingungen und historischen Situationen der im Südosten Lateinamerikas liegenden Republik Argentinien, das eine Fläche von etwa 2,8 Millionen km2 umfasst, wirken sich auf die dort lebenden Menschen wie auf die Katholische Kirche als Institution unmittelbar aus. Als Industrie- und Agrarstaat ist Argentinien im Heute geprägt von der barbarischen Wirklichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die mit dem seit 10. Dezember 2023 amtierenden Präsident Javier Milei (*1970) ihren von den US-Imperialisten bejubelten Botschafter hat.
Der am 17. Dezember 1936 in Buenos Aires als ältestes von fünf Kindern einer italienischen Immigranten-Familie geborene Jorge Mario Bergoglio hat sich nach seiner am 13. März 2013 erfolgten Wahl zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche den Amtsnamen Franziskus gegeben. Die Rückbesinnung auf die Botschaft von Franz von Assisi (1182–1226) hat bei vielen Befreiungstheologen die Hoffnung auf einen neuen Frühling der Kirche mit der Option für die Armen erweckt. [16] Franz von Assisi, dessen ursprünglicher italienischer Name Giovanni Bernardone ist, hat die Ideale des Urchristentums selbst gelebt und eingefordert, sein Orden hat sich rasch ausgebreitet, aber Reichtum erworben und die von seinem Gründer gesetzten Ziele nicht erreicht. Papst Franziskus will einen Neuanfang seiner Kirche: »Wenn man von mir sagt, ich sei der ›Papst der Armen‹, dann bete ich nur, dass ich mich dieser Bezeichnung würdig erweisen möge.« (S. 90)
Wie viele alte Menschen hat Papst Franziskus im Alter die ideale Vorstellung, als lebendige Brücke zwischen den Generationen zu wirken. Im antiken Griechenland und in der Geschichte Chinas hat es so etwas wie einen Rat der Alten gegeben, beratend, aber nicht mit exekutiver Gewalt ausgerüstet. Der herausragende Gelehrte Jürgen Kuczynski (1904–1997), dessen Familie seit Ende des 18. Jahrhunderts zur linken Intelligenz gehörte, wollte das auch. Er hat in seiner ersten von mehreren autobiographischen Monographien Erinnerungen über seine Erziehung zum »Kommunisten und Wissenschaftler« geschrieben, die nur prima vista zu den Erinnerungen von Papst Franziskus über seine Erziehung und Berufung zum Jesuiten im Gegensatz stehen, weil Erleben eben auch Erkenntnis prägt. [17] Der »Dialog mit meinem Urenkel«, den Jürgen Kuczynski mit fünfzig Fragen »an einen unverbesserlichen Urgroßvater« fortsetzte, und seine »Letzten Gedanken?« sind bei aller parteilichen und intellektuellen Kritik aus der Zuversicht eines Menschen auf eine künftige brüderliche Gesellschaft geschrieben. [18] Niemand ist als Kommunist oder als Christ geboren, es gilt vielmehr das, was Thich Nhat Hanh seiner Autobiographie vorangestellt hat: »Gelehrt wird nicht nur in Worten. Gelehrt wird durch die Art, wie man sein Leben lebt. Mein Leben ist meine Lehre. Mein Leben ist meine Botschaft.« [19]
Papst Franziskus ist am 11. März 1958 der »Gesellschaft Jesu« beigetreten und wurde als deren Ordensmitglied am 13. Dezember 1969 zum Priester geweiht. Die »Compañía de Jesús« ist eine 1540 erfolgte Gründung des aus einer kinderreichen baskischen landadeligen Familie stammenden Ignatius von Loyola (d.i. Inigo Lopez de Recalde, 1491–1556), der Lebenserinnerungen geschrieben hat und eine führende Gestalt im Kampf gegen die als Feinde der Kirche verfolgten Reformatoren war. Durch die Jahrhunderte hindurch war der dem Vatikan im unbedingten Gehorsam unterworfene Jesuitenorden im Widerstreit von Beurteilungen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche, was zwischen 1773 und 1814 zu seiner vorübergehenden Aufhebung geführt hat. Hugo Rahner SJ (1900–1968) hat sich intensiv mit Ignatius von Loyola beschäftigt und 1956 dessen Briefwechsels mit Frauen ediert, darunter an eine der in Zellen »eingemauerten« Frauen. [20] Das zweite Vatikanische Konzil (11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965), dem Karl Rahner SJ (1904-1984) viele Impulse gegeben hat, ist für Papst Franziskus ein inspirierender Wegweiser hin zur Versammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates in Medellín (26. August bis 6. September 1968) mit der Verpflichtung, in der Umkehr zu den Zeugnissen des gekreuzigten Jesus Christus (um 4 v. u. Z.–30 n. u. Z.) eine dienende und arme Kirche zu werden. [21] Seine Familie und argentinische Heimat hat Papst Franziskus nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden nicht hinter sich lassen müssen, das wurde vom Orden nicht verlangt, verlangt wurde in der Ausbildung das Kennenlernen anderer Ordensmitglieder, Selbstüberprüfung der Entscheidung und das langsame Hineinwachsen in die christliche Frömmigkeit und die apostolischen Aufgaben des Ordens. Papst Franziskus gibt davon ein schönes Bild. Er erlebte als Heranwachsender die Jahre von Juan Domingo Perón (1895–1974), der Anfang der 1940er Jahre Gesetze zur Verbesserung der Lebensbedingungen für die ihm dafür über Jahrzehnte verbunden gebliebene Arbeiterklasse erlassen hat. Im Perónismus sieht Papst Franziskus einige Parallelen zur katholischen Soziallehre. Fidel Castro (1926–2016), den Papst Franziskus auf seiner Kubareise 2015 noch besuchen konnte, hat die Größe von Perón anerkannt. [22]
Ende September 1970 besuchte der US-Präsident Richard Nixon (1913–1994) Rom und wurde bei dieser Gelegenheit von Papst Paul VI. (1897–1978) empfangen. Der aus einer deutschjüdischen Familie stammende Henry Kissinger (1923–2023), der 1973 wegen des Jom-Kippur-Krieges den ersten Atomalarm seit der Kubakrise ausgelöst hat, war dabei, als sich Nixon beim Papst über die »Linkstendenzen der Priester in Lateinamerika« beschwert hat. Der Papst habe ihm sanft geantwortet: »Herr Präsident, glauben Sie, das ist für uns ein noch größeres Problem als für Sie.« [23] Die US-Amerikanische Kirche war mit ihren staatsklerikalen Amtsträgern wie dem mit Papst Pius XII. (1876–1958) befreundeten Francis Joseph Kardinal Spellman (1889–1967) strikt antikommunistisch und begrüßte den militaristischen US-Bombenterror gegen die vietnamesische Befreiungsbewegung. Das revolutionäre Wunder von Kuba (1959) und der Hinwendung des kubanischen Volkes zum menschlichen Zusammenleben ohne Ausbeutung und Unterdrückung war für den US-Imperialismus ein Schreckgespenst. In Santiago de Chile war Papst Franziskus 1960/61 für ein Jahr als Junior des Jesuitenordens. Dort war Kardinal Raúl Silva Henríquez (1907–1999) an der Entwicklung der Kirche hin zu einer befreienden Kirche interessiert, hat den Theologen Gustavo Gutiérrez (1928–2024), dessen Werk »Theologie der Befreiung« (1971) grundlegend ist, eingeladen und soziale Änderungen unterstützt. 1966 wurde der katholische Priester Camilo Torres (1929–1966) in den Reihen der für die Befreiung der Armen kämpfenden kolumbianischen Guerilla getötet. [24] Von ihm stammt der Satz: »Warum sollen wir streiten, ob die Seele sterblich oder untersterblich ist, wenn wir beide wissen, dass Hunger tödlich ist?« Sicher wurde über den Weg des Diözesanpriesters Camilo Torres im Jesuitenorden diskutiert. Der österreichische Botschafter in Chile hat Kardinal Henríquez als »sehr links« bezeichnet. [25] Zu dem am 11. September 1973 vom US-Imperialismus mit der CIA organisierten und finanzierten Militärputsch mit Augusto Pinochet (1915–2006) als befehlsgebenden Henker hat der in seine Heimat zurückgekehrte Papst Franziskus, der dort am 31. Juli 1973 zum Provinzoberen ernannt wurde, nicht Stellung bezogen. In seiner Enzyklika »Fratelli tutti« (2020) zitiert er Kardinal Henriquez mit dessen als intellektueller Widerstand interpretierbaren, aber den Konflikt doch aus dem Weg gehenden Predigt vom 18. September 1974 zum Jahrestag des Pinochet-Putsches: »[…] die Völker, die ihre eigene Tradition veräußern und aus einem Nachahmungswahn, einer aufgezwungenen Gewalt, einer unverzeihlichen Nachlässigkeit oder einer Apathie dulden, dass ihnen die Seele entrissen wird, werden neben ihrer geistlichen Physiognomie auch ihre moralische Festigkeit und schließlich ihre weltanschauliche, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit verlieren«. [26] In Santiago de Chile hat Papst Franziskus Anfang des Jahres 2018 die Worte von Kardinal Henríquez aus dem Jahr 1977 über Gerechtigkeit zitiert, »dass jeder Mensch als Mensch behandelt wird«. Bei der Gelegenheit dieses Besuchs hat Papst Franziskus auch das Frauengefängnis besucht. [27]
Papst Franziskus hat in Argentinien der grausamen faschistischen Militärdiktatur der Jahre 1976 bis 1983 von Jorge Rafael Videla (1925–2013) nach seinen von ihm wahrgenommenen sehr beschränkten Möglichkeiten Widerstand geleistet. Sowie in Chile zeigt sich das Janusgesicht der katholischen Kirche, die von sich und ihren Mitgliedern Gehorsam gegenüber dem Staat verlangt, soweit das irgend möglich ist. Papst Franziskus erzählt die Geschichte von der gefolterten und ermordeten kommunistischen Aktivistin Esther Ballestrino de Careaga (1918–1977) und deren Familie. (S. 157–162) Betroffen ist Papst Franziskus, dass sich die argentinische Diktatur wie jede Diktatur auf eine Vielzahl von Denunzianten stützen konnte. Für Papst Franziskus ist die kommunistische Haltung von Esther Ballestrino vorbildhaft. Von den sich im Kampf für die Menschenrechte in Lateinamerika einsetzenden Frauen ist viel zu wenig bekannt, sie bleiben zumeist im Dunklen. Am revolutionären Kampf in Lateinamerika teilzunehmen, empfand die mit Papst Franziskus fast gleichaltrige und in Buenos Aires geborene Haydée Tamara Bunke Bíder (1937–1967) als ihre Pflicht. [28] Die US-Amerikanerin Penny Lernoux (1940–1989) hat sich, vom marxistischen Geist beseelt, für die Befreiungstheologie im Kampf für die Menschenrechte in Lateinamerika eingesetzt. [29]
Was die Frauen in der globalen Gesellschaft anlangt, sieht Papst Franziskus vor allem deren »spezifische Form der Armut« (S. 234). Den formalen Zugang zum Priesteramt von Frauen will Papst Franziskus nicht öffnen, ihm ist das Wirken von Frauen im Geiste Jesus Christi in der Kirche wichtiger. »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, meint die Ikone der europäischen Frauenbewegung Simone de Beauvoir (1908–1986) nicht nur in ihrer Autobiographie. [30] Anders die alevitische kurdische Frau Derya (*1982) in einem Interview: »Ich habe immer geglaubt, dass die Befreiung des kurdischen Volkes nur durch die Tapferkeit der kurdischen Frauen stattfinden kann. Die kurdischen Frauen sind mutiger, sie kennen den Schmerz, sie sind humanistischer und fürsorglicher als die Männer.« [31] Dem Zugang von Papst Franziskus zu »Leidensgeschichten von Frauen« widmet Martin Maier SJ (*1960) von der lateinamerikanischen Hilfsaktion Adveniat ein eigenes Kapitel in seinem Impulse–Büchlein »Mit Papst Franziskus Kirche und Welt erneuern«. [32]
Der polnische antikommunistische Papst Johannes Paul II. (1920–2005) hat alles dafür getan, dass die den Armen der Völker konkret zugewandte Kirche in Lateinamerika auf den »Segen« des Vatikans verzichten musste. Unvergessen möge seine Erniedrigung von Ernesto Cardenal (1925–2020) sein, von dem eine dreibändige, die lateinamerikanische Kirche erhellende Autobiographie überliefert ist. [33] Die Ermordung von Oscár Romero (1917–1980), Erzbischof in El Salvador, [34] oder der sechs, als praktizierende Nachfolger von Jesus Christus wegen ihrer marxistischen, also befreiende Parteinahme für die Opfer und Armen von US-Terroristen ermordeten, Jesuiten in El Salvador [35] scheint im argentinischen Jesuitenorden nicht öffentlich debattiert worden zu sein und Papst Franziskus nimmt in seiner Autobiographie dazu nicht ausdrücklich Stellung.
Nähe zur »Volkstheologie«
Im Gegensatz zu dem »Santo subito«–Papst Johannes Paul II. unterstützt Papst Franziskus den Befreiungstheologen Jon Sobrino SJ (*1938), weiter für die Christologie aus der Sicht der Opfer zu wirken. [36] Papst Franziskus nennt in seiner Autobiographie seinen Ordensbruder Juan Carlos Scannone SJ (1931–2019), der sein Lehrer für Griechisch und Literatur war und für ihn »der wichtigste Vertreter der ›Volkstheologie‹, einer Form der Befreiungstheologie«. (S. 175 f.) Scannone SJ nimmt die über die Jahrhunderte andauernde Evangelisierung Lateinamerikas als eine »Geschichte von Schuld und Gnade« wahr. Er erinnert 1992 daran, dass der am 16. November 1989 mit fünf weiteren Jesuiten und zwei Haushälterinnen ermordete Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989) drei Wochen zuvor in Bonn die dortigen Regierungsbehörden aufgefordert hat, die erheblichen deutschen Entwicklungsgelder für El Salvador nicht der salvadorianischen Militärdiktatur, sondern nicht-regierungsgebundenen Organisationen und der Kirche zur Verfügung zu stellen. Ellacuría SJ war theologisch von Karl Rahner beeinflusst. [37] Scannone SJ, der mit Ellacuría SJ und mit dem ebenfalls ermordeten Segundo Montes SJ (1933–1989) in Innsbruck studiert hat, ist mit seiner »Volkstheologie« bei allem humanen Denken bei der Ethik des theologischen Gehorsams gegenüber der bestehenden Gesellschaftsordnung stehengeblieben. Dabei ist ihm die Autorität in der Kirche unersetzlich. [38] Mit Scannone SJ hat Papst Franziskus die Texte der klassischen Antike insbesondere Vergilius (70 v. u. Z.–19 v. u. Z.) entdeckt. Der katholische Schriftsteller Theodor Haecker (1879–1945) hat 1931 Vergil, der vom mittelalterlichen Christentum als wesensverwandt angesehen wurde, als »Vater des Abendlandes« gewürdigt. Haecker sah in dem an die Macht kommenden deutschen Faschismus ein Spiegelbild des vom Untergang bedrohten Abendlandes. [39] Vers 462 aus dem 1. Buch des Aeneis von Vergil hat Papst Franziskus auf einem Kärtchen neben dem Eingang zu seinem Zimmer aufgehängt: »Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt«. (S. 198) »Die Geschichte besteht aus Tränen, und das menschliche Leid verwirrt den Geist …«, so die in der Autobiographie beigegebene Übersetzung. Papst Franziskus merkt für sich an: »Mein Geist hingegen verwirrte sich nicht. Er ging weit auf angesichts dieses wundervollen Humanismus«. (S. 198) Die Dinge haben ihre Tränen behalten.
Und der Brief von Papst Franziskus an die US-Bischöfe vom 10. Februar d. J., der die brutale Abschiebung von Migranten als Verhöhnung der Menschenwürde anprangert, ist ein würdiges und richtungsweisendes Dokument, siehe:
www.vatican.va/content/francesco/en/letters/2025/documents/20250210-lettera-vescovi-usa.html (engl.: Letter of the Holy Father Francis to the Bishops of the United States of America, From the Vatican, 10 February 2025).
(Fortsetzung folgt)
Anmerkungen:
[1] Lexikon der Antike. Hg. von Johannes Irmscher in Zusammenarbeit mit Renate Johne. Gondrom Verlag Bindlach 8. A. 1987, S. S 76; eine Einführung über die Morphologie der Autobiographie gibt Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Verlag J. B. Metzler Stuttgart / Weimar 2009.
[2] Arnold Reisberg: Lenins Jugend. Verlag Neues Leben. Berlin 1973, S. S. 72 und 159; W. I. Lenin: Werke. Band 38 (Philosophische Hefte), Dietz Verlag Berlin 1981, öfters.
[3] Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 5 herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug unter Mitwirkung von Peter Jehle. Hefte 8-9. Argument Verlag Hamburg 1993, S. 958.8
[4] Augustin. Bekenntnisse. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Philipp Reclam Jun. Stuttgart. 1979.
[5] Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute. Carl Hanser Verlag Wien München 1990.
[6] Papst Franziskus mit Carlo Musso. Hoffe. Die Autobiographie. Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl Kösel-Verlag, München 2025. 384 S.
[7] Spes non confundit – Verkündigungsbulle des ordentlichen Jubiläums des Jahres 2025 (9. Mai 2024) | Franziskus.
[8] Papst Franziskus: Mein Leben. Mein Weg. El Jesuita. Die Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Vorwort von Rabbi Abraham Skorka. Herder Verlag Freiburg / Basel / Wien 2013; Antonio Spadaro SJ: Das Interview mit Papst Franziskus – Herausgegeben von Andreas R. Batlogg SJ. Herder Verlag Freiburg / Basel / Wien 2013; Papst Franziskus: Wage zu Träumen. Mit Zuversicht aus der Krise. Kösel Verlag München 2020; Papst Franziskus: Leben. Meine Geschichte in der Geschichte. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Stefanie Römer. HarperCollins Hamburg 2024.
[9] Sergej Michajlovič Tretjakow: Den Ši-chua ein junger Chinese erzählt sein Leben. Nachdruck Berlin 1932; Den Schi-Chua. Die Geschichte eines chinesischen Revolutionärs. Bio-Interview. Verlag Luchterhand Neuwied 1974. Zitat aus dem Vorwort zur russischen Ausgabe.
[10] Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Red.: István Eörsi. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Frankfurt a. M. 1981.
[11] Thich Nhat Hanh / Daniel Berrigan: Das Boot ist nicht das Ufer. Gespräche über buddhistisch-christliches Bewusstsein. Goldmann Verlag München 2001.
[12] Thich Nhat Hanh: Mein Leben ist meine Lehre. Autobiographische Geschichte und Weisheiten eines Mönchs. Aus dem Englichsen von Ursula Richard. O. W. Barth Verlag München 2017.
[13] Z. B. Gerhard Oberkofler: Geben befreiungstheologische Positionen von Papst Franziskus zur Hoffnung Anlass? trafo Verlagsgruppe Wolfgang Weist Berlin 2018; derselbe: Papst Franziskus als Internationalist des menschlichen Miteinander über die Dialektik von Reich und Arm. In: Marxismus und Theologie. Materialien der Jahrestagung 2018 der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften 55. Berlin 2019, S. 117-131; derselbe: Papst Franziskus. In: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Heft 2/2023, S. 17-26.
[14] Texte von Papst Franziskus. Ein Camino Buch Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2015.
[15] Lumen fidei vom 29. Juni 2013; Laudato si‘ vom 18. Juni 2015; Fratelli tutti vom 3. Oktober 2020; Dilexit nos vom 24. Oktober 2024.
[16] Option für die Armen. Theologie der Befreiung und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika. Reclam Verlag Leipzig 1990; Leonardo Boff: Franziskus aus Rom und Franz von Assisi. Ein neuer Frühling für die Kirche. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Bruno Kern. Butzon & Bercker. Verlag Kevelaer 2014.
[17] Jürgen Kuczynski: Die Erziehung des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler. Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 3. A. 1981; vgl. dazu Hermann Klenner: Über Marxens Religions- und Rechtskritik. In: UTOPIE Heft 84 Oktober 1997, S. 5-10.
[18] Dialog mit meinem Urenkel. 19 Briefe und ein Tagebuch. Aufbau Verlag Berlin 1985; mehrere Auflagen; Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag 1997; mehrere Auflagen; Letzte Gedanken? Zu Philosophie und Soziologie, Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, schöne Literatur und zum Problem der deutschen Intelligenz. PapyRossa Verlag Köln 1995.
[19] Thich Nhat Hanh, Mein Leben, S. 5.
[20] Hugo Rahner S. J.: Ignatius von Loyola. Briefwechsel mit Frauen. Verlag Herder Freiburg 1956.
[21] Vgl. Norbert Arntz: Der Katakombenpakt. Für eine dienende und arme Kirche. topos taschenbücher Kevelaaer 2015.
[22] Fidel Castro: Mein Leben. Fidel Castro mit Ignacio Ramonet. Aus dem Spanischen von Barbara Köhler. Rotbuch Verlag Berlin 2008, S. 581.
[23] Henry A. Kissinger: Memoiren 1968-1973. C. Bertelsmann Verlag München 1979, S. 981.
[24] Renate Wind: Bis zur letzten Konsequenz. Die Lebensgeschichte des Camilo Torres. Beltz Verlag Weinheim und Basel 1994.
[25] Gerhard Oberkofler: Österreichs Spitzendiplomatie vor Ort. Das Beispiel Chile 1973. Gewidmet dem 50. Jahrestag des Sturzes der Regierung Allende. trafo Verlag Berlin 2023, S. 44.
[26] Papst Franziskus: Fratelli tutti. Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Patmos Verlag Ostfildern 2020, Pkt. 14.
[27] Apostolische Reise des Heiligen Vaters nach Chile und Peru (15.-22. Januar 2018) | Franziskus.
[28] Marta Rojas / Mirta Rodriguez Calderon: Tania la Guerrillera. Aus dem Spanischen von Nadja Bunke. Militärverlag der DDR Berlin 1982.
[29] The Latin American Church on JSTOR.
[30] Simone de Beauvoir: Alles in allem. Deutsch von Eva Rechel Mertes. Rowohlt Verlag Hamburg 1974.
[31] Songül Kurt: Kurdische Frauen im Übergang. Über traditionelle Erziehung und gesellschaftliche Voraussetzungen für Veränderungen im Handeln und Denken. Bachelorarbeit Innsbruck 2012, S. 50; Internationale Konferenz der Frauen aus Kurdistan zum internationalen Frauentag. Freie Frauenbewegung Kurdistans (TAJK). o. O., o. J.
[32] Martin Maier: Mit Papst Franziskus Kirche und Welt erneuern. Ignatianische Impulse. Echter Verlag GmbH Würzburg 2024.
[33] Band 1 (1998), Band 2 (2002) und Band 3 (2004) Peter Hammer Verlag Wuppertal.
[34] Martin Maier: Oscar Romero. Prophet einer Kirche der Armen. Herder Verlag Freiburg/Basel/Wien 2015.
[35] Jon Sobrino: Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador. Fakten und Überlegungen. Mit einem Hintergrundbericht von Roger Peltzer. Exodus Verlag Fribourg/Brig 1990.
[36] Vgl. z. B. Jon Sobrino: Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Knut Wenzel. Übersetzt von Ludger Weckel. Matthias Grünewald Verlag 2008.
[37] Vgl. Martin Maier: Karl Rahners Einfluss auf das theologische Denken Ignacio Ellacurías. In: Zeitschrift für Katholische Theologie. 122 (2000), S. 83-109.
[38] Juan Carlos Scannone: Das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Theologie der Befreiung. In: Karl Rahner / Christian Modehn / Hans Zwiefelhofer (Hrsg.): Befreiende Theologie. Der Beitrag Lateinamerikas zur Theologie der Gegenwart. Mit Beiträgen von Leonardo Boff et al. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1977, S. 77-96; Juan Carlos Scannone: Weisheit und Befreiung. Volkstheologie in Lateinamerika. Patmos Verlag Düsseldorf 1992 (hier S. 21 f.).
[39] Thomas Haecker: Vergil. Vater des Abendlandes. Verlag Hegner Leipzig 1. A. 1931.
Mehr von Gerhard Oberkofler in den »Mitteilungen«:
2025-02: »Zwölf Merksätze über den Atomkrieg« von Engelbert Broda
2024-08: Über den Beginn des Befreiungskampfes der Frauen in Zentralasien
2023-10: Clemens von Metternich als Vorbild für die von Henry Kissinger repräsentierte Kultur des Terrors