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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Streik im Handel – Arbeiterklasse in der Defensive

Stephan Jegielka, Berlin

 

In Deutschland gibt es im Einzelhandel drei Millionen Beschäftigte, zuzüglich des Groß- und Außenhandels circa fünf Millionen Beschäftigte. Beide Branchen vertritt ver.di als größte Gewerkschaft mit dem Fachbereich Handel. Sie kann auf 238.000 Mitglieder zählen, was einem Organisierungsgrad von 5,7 Prozent entspricht. [1] Dominiert wird der Handel durch die vier Monopolisten des Lebensmitteleinzelhandels: Edeka, Rewe, Schwarz-Gruppe (Kaufland, Lidl) und Aldi. Auf sie entfallen 85 Prozent des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel, der 2023 bei 200 Milliarden Euro lag. Ihre Profitrate über­steigt mittlerweile die der Lebensmittelindustrie. [2] Mittlerweile sind sie sogar finanziell in der Lage, eine eigene Lebensmittelproduktion und Logistik aufzubauen. So kaufte EDEKA die italienische Nudelfabrik Rey Pastificio. [3] Die Schwarz-Gruppe besitzt nicht nur die Reederei Talwind Shipping Lines, die Waren aus der VR China und aus den Plan­tagen des Südens heranschafft, sondern gründete ein eigenes Transportunternehmen Talwind Intermondal, die deren Weitertransport ins europäische Hinterland übernimmt. [4] Somit sind die Lebensmittelkonzerne in der Lage, ihre eigenen Lieferketten zu sichern – eine Konzentration und Zentralisation, die an die Planwirtschaften des sozialistischen Lagers erinnert. [5]

Organisierungsgrad bis zu 60 Prozent

In den Konzernen ist der Organisierungsgrad der Gewerkschaft ver.di mit bis zu über 60 Prozent und somit die Streikbereitschaft wesentlich höher als in den mittleren und klei­neren Betrieben, in denen eine Organisierung naturgemäß für die Arbeiter schwieriger ist. [6] Die Arbeiter der Konzerne dominierten dann auch den gerade zu Ende gegangenen Streik im Handel, der im Maß der Beteiligung und seiner langen Dauer als historisch zu bezeichnen ist. Nach über einem Jahr Arbeitskampf kam es mit dem Abschluss im Einzelhandel in Berlin und Brandenburg zu einer finalen Einigung in der Tarifrunde. Der »Pilotabschluss« im Handel erfolgte bereits im Mai in Hamburg. Es sollte jedoch noch drei Monate und einen Streiktag dauern, bis alle Bezirke nachgezogen hatten – auch das eine neue Erfahrung für die streikenden Kollegen. [7]

Abschluss mit Reallohnverlust

Insgesamt bekommen die Berliner und Brandenburger Einzelhändler in Vollzeit durch den Tarifvertrag rund 400 Euro im Monat mehr. Dazu gehört eine Erhöhung der tarifli­chen Altersvorsorge auf 420 Euro im Jahr. Nimmt man beide Erhöhungen über die gesamte Laufzeit zusammen, kommt man auf eine Steigerung von rund 14 Prozent. In diesem Rahmen bewegen sich die Abschlüsse der gesamten Branche. [8] Die ursprüngli­che Forderung von ver.di, keinen Abschluss eines Tarifvertrages mit Reallohnverlust zu akzeptieren, wurde somit allerdings nicht direkt erfüllt.

Streik auf der ökonomischen Ebene

Insgesamt verlief der Streik auf der ökonomischen Ebene. Das heißt, der Kampf der Arbeiter ging um die Erhöhung des Tariflohnes ohne Reallohnverlust, und auf den Streikkundgebungen wurde die Forderung nach einer Einführung der Allgemeinverbind­lichkeit von Tarifverträgen durch die Politik gefordert. Und das wäre bitter nötig, ist doch in beiden Fragen die Arbeiterklasse des Handels nach wie vor in der Defensive. Waren im Jahr 2000 noch circa 50 Prozent der Betriebe im Handel mit Tarifbindung, waren es 2010 noch circa 30 Prozent, wobei man noch zwischen Branchen- und Haus­tarifen unterscheiden muss. Der Anteil von Arbeitern im Handel in Betrieben mit Tarif­bindung betrug 2000 72 Prozent und 2010 49 Prozent (im Einzelhandel 51 Prozent). 2023 waren nur noch 23 Prozent der Arbeiter im Einzelhandel in Betrieben mit Tarifbin­dung tätig. Der weitaus größte Teil der Arbeiterschaft im Handel ist mittlerweile ohne Schutz eines Tarifvertrages und verkauft seine Arbeitskraft wenn überhaupt für den Mindestlohn. Das ist eine dramatische Abwärtsspirale in der Lohnentwicklung in den letzten Jahrzehnten. [9]

Eine andere Qualität

Trotzdem hatte der Streik eine andere Qualität als die vorausgegangenen Tarifauseinan­dersetzungen. Und das hatte seine Gründe. Vergleicht man die Lohnabschlüsse von 2019 bis 2023 mit der Inflationsrate, kommt man auf einen Reallohnverlust von 3,3 Prozent. [10] Die durch Sanktionen gegenüber Russland und durch Spekulation angetrie­bene Inflation und die Tarifflucht der Kapitalisten trieb die Kollegen also auf die Straße. Bei 56 Prozent Teilzeit im Einzelhandel geht es bei vielen daher nur noch um den Erhalt ihrer Arbeitskraft.

Drastische Maßnahmen und schrille Töne

Trotz der rein reformistischen Forderungen der Gewerkschaften läuteten auf der Kapi­talseite die Alarmglocken und sie griff zu drastischen Maßnahmen und schrillen Tönen. Im Verlauf des Streiks wurden durch die »Arbeitgeberverbände« die vom Grundgesetz garantierte Tarifautonomie zeitweilig außer Kraft gesetzt, indem man die Verhandlungen mit den Tarifkommissionen aussetzte und von ver.di die Einsetzung eines Verhandlungs­führers durch die Zentrale forderte. Im Zuge der in Deutschland in allen Branchen zunehmenden Arbeitskämpfe wurde von den Herrschenden das Streikrecht an sich in Frage gestellt. Die FDP legte kürzlich ein Positionspapier vor, in dem sie die Einschrän­kung des Streikrechts in sogenannter kritischer Infrastruktur fordert. Das wäre ein massiver Angriff auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf Streik als Mittel im Arbeitskampf. [11] So sind nach Art. 9 Abs. 3 Angriffe, die dieses Recht einschränken, nichtig und hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig. [12]

Expropriation der Expropriateure

Die bürgerliche Presse sprach angesichts des Streiks im Handel von dem Auffahren »ganz großer Geschütze« durch die Gewerkschaften. [13] Das »ganz große Geschütz« wäre allerdings die berechtigte Forderung nach der Vergesellschaftung der fünf größten Lebensmittelkonzerne. Angesichts dieses gigantischen Monopolisierungsprozesses im Handel fühlt man sich an die Zeilen im Kapital Band 1 erinnert, nach dem die Zentrali­sation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit einen Punkt erreicht hat, »wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.« [14]

Politische Kämpfe führen

Um aus der Defensive zu kommen muß die Arbeiterklasse jedoch Kämpfe auf politi­scher Ebene führen. Der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie ist es in den letzten Jahren gelungen, die deutschen Gewerkschaften in die Burgfriedenspolitik der BRD ein­zureihen. So steht der DGB und auch ver.di auf der Seite der Herrschenden in der Sache der Militarisierung und in der geschlossenen Sanktions- und Kriegsfront gegen­über Russland. [15] Die mit den Sanktionen gegenüber Russland verbundene Inflation, die Ausweitung des Militärhaushaltes zu Lasten des Sozialhaushaltes, die massiven Einspa­rungen in die Infrastruktur und Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Schichten, die unter dieser Politik leiden, wie zum Beispiel die Bauern, spielten bei den Streiks offiziell keine Rolle, wurden bewusst nicht thematisiert und gezielt verhindert, obwohl das in den Diskussionen in den Tarifkommissionen und unter den Kollegen, also an der Basis, gefordert wurde. Trotz der gegenwärtigen Beschränkung der Arbeiterschaft auf den ökonomischen Kampf wissen die Herrschenden, dass die künftige forcierte Militarisie­rung in der BRD nur zu massiven Lasten der Lohnarbeiterschaft und mittleren Schich­ten gehen kann, eine Politisierung der Streiks möglich ist und dass einem zu erwarten­den Widerstand nur mit Repression begegnet werden kann. Darauf verweisen die For­derungen nach der Einschränkung des Streikrechts und andere Einschränkungen der Grundrechte in den letzten Jahren auch im Zusammenhang mit der Corona-Politik. Die Linke muss daher diesen Zusammenhang in die politische Agitation bringen und diese politischen Enthüllungen in der Arbeiterschaft organisieren. [16]

Stephan Jegielka war Mitglied der Tarifkommission Einzelhandel Berlin-Brandenburg.

 

Anmerkungen:

[1] Ver.di Fachgruppe Einzelhandel, URL: handel.verdi.de/einzelhandel, Stand 20.7.2024. Ver.di Fachgruppe Groß- u. Außenhandel, URL: handel.verdi.de/gross-und-aussenhandel, Stand 20.7.2024. Bender, Hanno: Verdi verliert im Handel Mitglieder, in: Lebensmittel Zeitung, 3.8.2024, URL: www.lebensmittelzeitung.net/handel/nachrichten/gewerkschaft-verdi-verliert-im-handel-mitglieder-172709, Stand 20.7.2024. Ver.di »Tarifrunde Handel: Hart erkämpfte Erfolge«, URL: www.verdi.de/subsite/zentral/themen/geld-tarif/++co++416caad6-d9f8-11ed-9920-001a4a16012a, Stand 20.7.2024.

[2] Lehmann, Norbert: Teure Lebensmittel: Diese vier Handelsriesen zocken die Verbraucher ab, in: agrarheute URL:https://www.agrarheute.com/management/agribusiness/teure-lebensmittel-diese-vier-handelsriesen-zocken-verbraucher-ab-604852, Stand 20.7.2024.

[3]Stockburger, Manfred: Edeka kauft Pastafabrik, in: Lebensmittel Zeitung, 14.7.2023, URL: www.lebensmittelzeitung.net/handel/nachrichten/vertikale-integration-edeka-kauft-pastafabrik-172323, Stand 20.7.2024.

[4] Bökamp, Lena: Lidl-Reederei wickelt Hinterlandverkehr selbst ab, in: Lebensmittel Zeitung, 5.3.2024, URL: www.lebensmittelzeitung.net/tech-logistik/nachrichten/containerreederei-erweitert-angebot-lidls-tailwind-wickelt-hinterlandverkehre-selbst-ab-176475, Stand 20.7.2024.

[5] Bökamp, Lena: Tailwind sichert Lidls Lieferkette, in Lebensmittel Zeitung, 31.5.2024, URL: www.lebensmittelzeitung.net/tech-logistik/nachrichten/kapazitaetsausbau-tailwind-sichert-lidls-lieferkette-177993, Stand 20.7.2024.

[6] Unterlagen Tarifkommission ver.di Fachbereich Handel Berlin Brandenburg.

[7] Ver.di »Tarifrunde Handel: Hart erkämpfte Erfolge«, URL: www.verdi.de/subsite/zentral/themen/geld-tarif/++co++416caad6-d9f8-11ed-9920-001a4a16012a, Stand 20.7.2024.

[8] Siehe Fn. 7.

[9] HDE, Entwicklung der Tarifbindung, URL: einzelhandel.de/tarifbindung, Stand 20.7.2024. Felbermayer, Gabriel: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte, in: ifo Schnelldienst, 2015, 68, Nr. 11, S.34, URL: www.ifo.de/publikationen/2015/aufsatz-zeitschrift/tarifbindung-im-einzelhandel-trends-und-lohneffekte, Stand 20.7.2024.

[10] Inflationsraten in Deutschland, finanz-tools.de, URL: www.finanz-tools.de/inflation/inflationsraten-deutschland, Stand 20.7.2024. Ver.di Handel Berlin-Brandenburg, URL: handel-bb.verdi.de/tarifvertrag/tarifvertragsabschluesse/einzelhandel, Stand 20.7.2024. Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales: Einzelhandel – Tarifentgelte ab 1. Juli 2022, 11/22.

[11] Koch, Tanja: BR 24 Berichte: FDP-Fraktion will Streikrecht einschränken , 3.7.2024, URL: www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/berichte-fdp-fraktion-will-streikrecht-einschraenken,UGzEZ4J, Stand 20.7.2024.

[12] Deutscher Bundestag: 75 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2023, S. 9.

[13] Blankennagel, Jens: Edeka streikt in Berlin: Die neue Lust am großen Radau, in: Berliner Zeitung, 16.2.2024, URL: www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/edeka-streikt-die-neue-lust-am-grossen-radau-kolumne-li.2187543, Stand 20.7.2024.

[14] Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie Erster Band, Berlin 1953, S. 803.

[15] Knütter, Susanne: Verdi auf Linie, in: junge Welt 23.9.2023, URL: www.jungewelt.de/artikel/459640.gewerkschaft-verdi-auf-linie.html, Stand 20.7.2024. Peters, Martin: DGB auf Ampel-Kurs, in junge Welt 27.4.2024, URL: www.jungewelt.de/beilage/art/473395, Stand 20.7.2024.

[16] W.I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: W.I. Lenin: Ausgewählte Werke BD 1, Berlin 1970, S. 210-211.

 

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