Stalingrad – historisches Symbol und Mahnung für die Gegenwart
Prof. Dr. Anton Latzo, Langerwisch
Zur Lage
Vor 75 Jahren, im Herbst 1942 tobte der Krieg, den das faschistische Deutschland gegen die Sowjetunion entfesselt hat, schon fast anderthalb Jahre auf sowjetischem Gebiet. Erst besetzten die faschistischen Truppen die Estnische, Lettische, Litauische, Belorussische, Ukrainische und Moldauische Sowjetrepublik, die westlichen und südlichen Gebiete der Russischen Föderativen Republik sowie den besetzten Teil der Karelo-finnischen Republik und drangen dann weit hinaus nach Osten in Richtung auf die untere Wolga und auf den Kaukasus vor. Die faschistischen Truppen hatten Leningrad blockiert und standen 150 bis 300 km vor Moskau.
Die Einnahme Stalingrads und die Unterbrechung der Wolga als Verkehrsweg waren, neben der Eroberung des Kaukasus, die Grundidee des strategischen Plans des faschistischen Oberkommandos für den Sommer 1942. Mit der Weisung Nummer 41 vom 23. Juli stellte das deutsche Oberkommando den deutschen Truppen die Aufgabe, die Verteidigungskräfte, die der Sowjetunion noch zur Verfügung standen, endgültig zu vernichten und die wichtigsten Zentren der Kriegswirtschaft zu erobern. Stalingrad selbst sollte besetzt und die Landbrücke zwischen Don und Wolga gesperrt werden. »Im Anschluss hieran sind schnelle Verbände entlang der Wolga anzusetzen mit dem Auftrag, bis nach Astrachan vorzustoßen und dort gleichfalls den Hauptarm der Wolga zu sperren.« [1]
Zu Beginn des Sommers 1942 verfügte das faschistische Deutschland noch über bedeutende Kräfte, mit denen es frei manövrieren konnte, weil unter anderem die zweite Front in Europa fehlte. Während die Sowjetunion massierte faschistische Offensiven abwehren musste, zögerten die herrschenden Kreise der USA und Großbritanniens die Schaffung der zweiten Front in Europa unter den verschiedensten Vorwänden immer wieder hinaus.
Das faschistische Oberkommando konnte Truppen von Westeuropa an die Ostfront verlegen. Am Südflügel der sowjetisch-deutschen Front erzielten die Aggressoren eine Überlegenheit an Kräften und durchbrachen die sowjetische Verteidigung. Im Herbst 1942 kämpften an der sowjetisch-deutschen Front fast drei Viertel aller deutschen Divisionen. Die Rote Armee kämpfte gegen die Hauptkräfte des gesamten faschistischen Blocks. An der Seite der faschistischen deutschen Truppen kämpften z.B. auch die 3. und 4. rumänische Armee, die 2. ungarische Armee, die 8. italienische Armee.
Hinzu kommt, dass das faschistische Deutschland das kriegswirtschaftliche Potenzial fast ganz Europas gegen die Sowjetunion einsetzen konnte. In den von den Faschisten beherrschten Staaten arbeiteten viele Millionen Menschen für Deutschland. Tausende von Betrieben produzierten unmittelbar für die Wehrmacht. Im Dienste des faschistischen Deutschland standen die Werke Schneider-Creusot, Citroen u.a. in Frankreich, die Skoda-Werke in der Tschechoslowakei, die großen Maschinenbau-Betriebe in Österreich, die Hüttenwerke in Belgien sowie die Aluminium- und Nickelgruben in Norwegen usw. Dadurch war die deutsche Industrie 1942 in der Lage, die Produktion von Waffen, Panzern und Flugzeugen zu erhöhen und neue Divisionen auszurüsten.
An der sowjetisch-deutschen Front hatte sich das Kräfteverhältnis noch nicht zugunsten der Sowjetarmee verändert. Die militärischen Misserfolge und Rückschläge der ersten Kriegsmonate, die zu beträchtlichen territorialen Verlusten und zur Verringerung des militärisch-wirtschaftlichen Potenzials der UdSSR geführt hatten, dauerten weiterhin an.
Deutschlands Ziele
Hitler wollte die Situation nutzen und erklärte die Beweggründe des faschistischen Deutschland wie folgt: »Ich wollte zur Wolga kommen, und zwar an einer bestimmten Stelle, an einer bestimmten Stadt …, weil dort ein ganz wichtiger Punkt ist. Dort schneidet man nämlich dreißig Millionen Tonnen Verkehr ab. Darunter fast neun Millionen Tonnen Ölverkehr. Dort floss der ganze Weizen aus diesen gewaltigen Gebieten der Ukraine, des Kubangebietes zusammen, um nach Norden transportiert zu werden. Dort ist das Manganerz gefördert worden; dort war ein gigantischer Umschlagplatz. Den wollte ich nehmen …« [2]
Er verwirklichte damit die Interessen und Anliegen des deutschen Monopolkapitals. Die Industriemagnaten, deren Haltung zur Hitler-Partei in vielerlei Hinsicht mit der der Reichswehrführung übereinstimmte, haben ihn von Anfang an unterstützt. Der Rüstungsmagnat Krupp beteuerte frühzeitig in einem persönlichen Brief an Hitler: »Die politische Entwicklung begegnet sich mit Wünschen, die ich selbst … seit langem gehegt habe.« [3] Ganz in diesem Sinne führte Reichswehrminister Blomberg, der die Vereidigung der Reichswehr auf Hitler veranlasste, am 1. Juni 1933 in einer Besprechung der Befehlshaber aus: »Es wird ein Glück sein, wenn diese Bewegung bald zu der von ihr erstrebten Totalität kommt«. [4] Der Chef der Heeresleitung dekretierte 1930 in der Soldatenbibel »Pflichten des deutschen Soldaten«: »Die Reichswehr dient dem Staat, nicht den Parteien«. In der Fassung von 1934 wurde dies geändert. Jetzt hieß es: »Die Wehrmacht ist der Waffenträger des deutschen Volkes. Sie schützt das Deutsche Reich und Vaterland, das im Nationalsozialismus geeinte Volk und seinen Lebensraum«. [5] Das hieß nach Generaloberst Hammerstein-Equord, des Chefs der Heeresleitung, »Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel«, »straffster autoritärer Staatsführung, Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie« und »Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung«. [6]
Die Wende
Zur Durchsetzung dieser Ziele entbrannte an der Wolga eine der blutigsten Schlachten der Kriegsgeschichte. Die sowjetischen Truppen fügten dem Gegner in den erbitterten Verteidigungsschlachten bei Stalingrad und im Kaukasus schwere Verluste zu und zwangen ihn Ende Oktober/Anfang November 1942, seine Offensive abzubrechen. Er musste zur Verteidigung übergehen.
Die Leitidee des Plans der von den sowjetischen Truppen bei Stalingrad eingeleiteten Gegenoffensive bestand darin, die gesamte bei Stalingrad eingesetzte feindliche Gruppierung durch konzentrische Schläge der Südwest-, der Don- und der Stalingrader Front einzuschließen und zu vernichten. Die Truppen der Südwestfront und der Donfront gingen am 19. November 1942 um 8:50 Uhr zum Angriff über.
Die Schlacht von Stalingrad ist ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Sowjetunion und der Roten Armee. Die Sowjetarmee bereitete dort der faschistischen Wehrmacht eine Niederlage in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß. Während der Gegenoffensive vom 19. November 1942 bis 2. Februar 1943 zerschlugen die sowjetischen Truppen 5 feindliche Armeen. Der Gegner verlor 32 Divisionen und 3 Brigaden. 16 Divisionen erlitten schwere Verluste. Der Feind büßte große Mengen technischer Kampfmittel ein. Das faschistische Deutschland verlor bei Stalingrad nicht nur seine besten Truppen, sondern auch den Glauben an die Unbesiegbarkeit seiner Wehrmacht und an die Unfehlbarkeit seiner Heeresführung.
Bei Stalingrad erzwang die Sowjetarmee ihre strategische Initiative, die sie bis zur völligen Vernichtung des Gegners nicht mehr abgab. Sie ging an der riesigen Front zwischen Leningrad und dem Kaukasus zur Offensive über und begann mit der Massenvertreibung des Feindes aus der Sowjetunion.
Dieser historische Sieg an den Ufern der Wolga stärkte den Glauben der freiheitliebenden Völker an den Sieg über den Faschismus und belebte den Befreiungskampf in den vom Faschismus unterjochten europäischen Ländern. Er förderte auch im Verhalten der USA und Großbritanniens den Prozess der Anerkennung der Realitäten. In einem an die Verteidiger von Stalingrad gerichteten Schreiben Roosevelts hieß es: »Ihr ruhmreicher Sieg hat die Welle des Angriffs zum Stehen gebracht und ist zum Wendepunkt im Krieg der verbündeten Nationen gegen die Aggression geworden«. [7]
Um diesen Sieg zu erringen, dafür brachte die Bevölkerung der Sowjetunion beinahe übermenschliche Opfer. Der Sieg war keineswegs die Folge zeitweiliger oder zufälliger Faktoren und Umstände. Er zeugte vom Potenzial der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung. Die Kommunistische Partei hat es verstanden, das Volk zusammenzuschließen und seine mächtige schöpferische Energie in eine unüberwindliche militärische Kraft umzuwandeln.
3. Oktober 2017
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hans Doerr, Der Feldzug nach Stalingrad, Darmstadt 1955, S.120 ff.
[2] Hans-Adolf Jacobsen, 1939-1945. Der zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten, Darmstadt 1961, S. 355.
[3] Zitiert nach: Der preußisch-deutsche Generalstab 1640-1965, Berlin 1966, S. 224.
[4] Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933-1945, Bielefeld 1961.
[5] Zitiert nach: Der preußisch-deutsche Generalstab 1640-1965, Berlin 1966, S. 225.
[6] Ebenda.
[7] Zitiert nach: Geschichte des zweiten Weltkrieges, Berlin 1961, Bd. 1, S. 370.
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