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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Späte Bekundung einer frühen Liebe

Armin Stolper, Berlin

Manfred Paulis Bericht: Unterwegs zu Brecht

Im Frühling des Jahres 1991 stand der Leipziger Theaterwissenschaftler Manfred Pauli, früher Dozent und Parteisekretär an der Leipziger Theaterhochschule "Hans Otto", vor einem Gremium von Leuten, das sich in Dublin zu einem internationalen Symposium versammelt hatte, und sprach darüber, welche Wirkungen von Brechts Volksstück-Konzept auf die Stückeschreiber und Theater in der DDR ausgegangen waren. Dass er im Verlauf seiner Ausführungen auf Sean O'Casey als zweiter wichtiger Leitfigur zu sprechen kam, war nicht verwunderlich, denn Pauli, ein exzellenter Kenner des Dichters, über den er schon in den siebziger Jahren ein bei Henschel erschienenes Buch geschrieben hatte, konnte mitteilen, dass von Mitte der sechziger Jahre an bis in die Mitte der siebziger mehr als 80 Inszenierungen von Stücken des irischen Dramatikers auf den Bühnen des Landes zu sehen gewesen, und dass von diesem Dichter nachweisbar wichtige Impulse für das Schaffen vieler DDR-Autoren ausgegangen waren. Das versetzte die Teilnehmer des Symposiums, die sich zum Thema "Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück" versammelt hatten, nicht wenig in Erstaunen, allzumal der Redner die Zuhörer für die Dauer seines Vortrages glauben machen konnte, er berichte von einem seit Jahren hervorragend florierenden und noch immer bestehenden Theater, das durch seine Spitzenleistungen weltweite Anerkennung gefunden hatte. Neidlos anerkannten die Zuhörer aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, natürlich auch aus Irland und anderen Ländern, den hohen Stellenwert des Theaters der DDR am Beispiel seiner um das Volksstück bemühten Autoren und der entsprechenden Aufführungen in Ostberlin, Halle, Leipzig, Schwerin, Senftenberg, Bautzen, Meiningen, Stralsund, Neustrelitz und wo immer sie stattgefunden hatten. Mein Buch "Wir haben in der DDR ein ganz schönes Theater gemacht" erschien erst 7 Jahre später, aber den Vorgriff auf diese Behauptung, deren Beweis ich, wie ich hoffe, nicht schuldig blieb, erlebten die Versammelten schon damals während der Tagung, die an der Universität des Landes stattfand, während Dublin zur Kulturhauptstadt Europas gekürt worden war. Ich selbst verdankte diesem Dubliner Symposium eine Einladung an die Tübinger Universität, die mir durch Prof. Jürgen Schröder ausgesprochen wurde, der übrigens ebenfalls ein hervorragendes Referat über die Volksstückschreiber der Bundesrepublik - denken wir nur an Kroetz, Sperr und Faßbinder, an die Gestalterin vieler Rollen auf diesem Gebiet, an Therese Giehse - gehalten hatte; hier gab es keinen unguten Streit, hier herrschte Gleichberechtigung beim Darstellen des in beiden Deutschländern Erreichten, und auch Unterschiedlichen, resultierend aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld.

Es war ein mehrfaches Erlebnis: Einmal, weil hier von unserer Seite aus ein profunder Kenner der Materie referierte, zum anderen, weil er in den beiden Großen Brecht und O'Casey die Leitsterne für unsere Bemühungen um Volksstück und Volkstheater in der DDR ausfindig gemacht hatte, und für mich nicht zuletzt deshalb, weil ich Zeuge dieser denkwürdigen Stunde sein konnte. Denn Pauli hatte den Einfall, mich als Vertreter der Banditos auf diesem Gebiet den Einladern zu empfehlen, und da die Goethe-Gesellschaft als Geldgeberin für Reise, Unterkunft und Verpflegung keine Einwände hatte, waren wir beide hier erschienen und berichteten von einem Theater aus einem Lande, welches ein die Theater liebendes, förderndes und sich mit ihm auch herumstreitendes gewesen war, und das es seit dem 3. Oktober 1990 nicht mehr geben sollte.

Im allgemeinen zollt man Theaterwissenschaftlern für ihr Tun nicht eben hohes Lob, aber hier konnte man erleben, wie einer dieser Zunft das Kunststück fertig brachte, ein Theater zum Leben erweckt zu haben, das inzwischen aus Thalias Händen in die von Clio übergegangen war, die, wie wir wissen, mit dieser Gabe nicht immer anständig oder gerecht oder gar liebevoll umging und weiter umgeht.

Ich erinnere mich, dass ich damals von dem profunden Wissen Paulis um Brecht sehr beeindruckt war, und ich fragte mich, wie es gekommen sei, dass einer aus Leipzig, wo jener Kaiser Karl ein Theaterimperium errichtet und geleitet hatte, wo Abend für Abend 5.000 Plätze in 5 Häusern gefüllt werden sollten, und wo es aus früheren Zeiten herrührend manche Aversionen gegen das hauptstädtische Theater und insbesondere gegen das von Brecht gegeben hat, so gut Bescheid wusste und persönlich engagiert darüber berichten konnte. Mag sein, dass in einem der Dubliner Pubs, wo unsere Tagungen fortgesetzt und auf irische Weise beendet wurden, ich den Pauli danach befragte und ich dabei erfuhr, dass er in seiner Jugend Maienblüte als Leipziger Germanistik-Student von seinem ihn betreuenden Professor Hans Mayer in seinem Wunsch, das Theater am Schiffbauerdamm kennenzulernen, lebhaft unterstützt worden war. Mag sein, dass Pauli darüber die eine oder andere Ge-schichte bei Guinness und Whiskey zum besten gab, ich aber dachte wohl damals schon, dass er sie alle aufschreiben und der Nachwelt überliefern müsste. Was er dann 15 Jahre später auch tat, und als er mir das Manuskript zum Lesen gab, sagte ich: Das muss gedruckt werden.

Pauli meinte: wer wird sich für die Auslassungen eines alten Mannes, noch dazu eines Theaterwissenschaftlers, heute interessieren, und wer, bitteschön, sollte das drucken? Gedruckt hat inzwischen das Manuskript Herbert Stascheit, und wer will, kann daraus erfahren, wie damals der Student Manfred Pauli auf der Bühne des Berliner Ensembles und im Garten des Azdak sowie bei Gesprächen mit dem genialen Brecht und dem Stab seiner ihm treu ergebenen oder auch mutig widersprechenden Mitarbeiter, männlichen wie weiblichen, die Welt des Theaters erlebte, in dessen brechtscher Ausprägung er sich besonders verliebt hatte: Erlebnis- und anekdotenreich, wissenschaftlich fundiert im Beschreiben der Eindrücke, welche ihm die Aufführungen "Mutter Courage und ihre Kinder", "Der Kaukasische Kreidekreis" und "Die Mutter" (nach Gorki) sowie die Inszenierungen der jungen Regisseure Besson und Wekwerth vermittelt hatten. Pauli erwies sich als gehorsamer Brecht-Schüler, indem er den Ermunterungen des Meisters folgte, sich auch in Westberlin Theateraufführungen anzusehen; was er, den Richtlinien der FDJ und seiner Uni zufolge, gar nicht gedurft hätte, es aber dennoch tat, und wie er damals schon wusste und es heute noch einmal bestätigt: mit Gewinn. Desgleichen besuchte er, was nicht verboten war, Aufführungen im Deutschen Theater und in der Komischen Oper; alles in allem - es muss, liest man die jetzt vorliegende "Rekonstruktion einer Annäherung" ein reiner Jungbrunnen von Theatererlebnissen gewesen sein, in den der junge Adept eingetaucht war.

Und Pauli bereitet sich das Vergnügen, uns heute im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert daran teilnehmen zu lassen; er betätigt sich geradezu als Inszenator seiner Erinnerungen, vervollständigt sie mit Fotos (von nicht gerade hervorragender Druckqualität) aber auch künstlerischen Kurzbiographien der Schauspieler des Brecht-Ensembles und der der anderen Bühnen in West- und Ostberlin. Seinen Urteilen kann man folgen, und wer das handliche Buch von 160 Seiten liest, wird Vergnügen an den theatralischen Gegenständen sowie an die Zeit, der sie verhaftet waren, empfinden und sich freuen, dass dieses späte Zeugnis einer früh erwachten und ein Leben lang anhaltenden Liebe zu ihm gelangte. Und wer mein Lob auf die Rede, die Pauli damals in Dublin gehalten hat, nachprüfen will, kann das auch tun; sie ist als Exkurs im Schlussteil des Buches enthalten, das für 11 Euro unter ISBN 978-3-935530-94-1 im Schkeuditzer Buchverlag zu erwerben ist.