"Sozialismus im 21. Jahrhundert und reale gesellschaftliche Prozesse zu linken Alternativen in der Gegenwart"
Ältestenrat der Partei DIE LINKE
Eine Broschüre "Erklärungen und Stellungnahmen des Ältestenrates" versammelt Positionen aus den Jahren 2008 bis 2010 als Beiträge zur Programmdebatte. Wir greifen hier eine Analyse über internationale Aspekte des Sozialismus in der Gegenwart heraus. Unter dem in der Überschrift genannten Titel wird darin analysiert: I. Problemskizze, II. Fragestellungen an ein Sozialismusverständnis in unserer Zeit, III. Erfahrungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Bewegungen zum Sozialismus, 1. Ansätze einer Orientierung auf den Sozialismus in Lateinamerika, 2. Die Entwicklung in Kuba, 3. Chinas Weg sozialistischer Prägung, IV. Welche Haltung sollte die LINKE zu neuen internationalen Linkstendenzen einnehmen? – Nachfolgend dokumentieren wir einen Auszug aus diesem Positionspapier des Ältestenrates vom 18. Januar 2010:
Neue theoretische Ansätze im Sozialismusverständnis in Lateinamerika
In Lateinamerika ist bei allen noch vorhandenen Defiziten die Herausbildung neuer theoretischer Ansätze zu beobachten, die zum Teil auch als ein Wiederaufgreifen von Erkenntnissen, Grundpositionen und Wertesystemen in humanistischer und progressiver Tradition, die mit der Durchsetzung rationalistischer Denkweisen seit der Aufklärung, mit den Theorien der "Moderne", mit fortschreitender Entwicklung des Kapitalismus verloren gegangen sind, betrachtet werden kann. Es ist ein Prozeß in Gang gekommen, der die Verbindung der "neuen" mit Teilen der "klassischen" Linken, mit sozialen Bewegungen und politischen Kräfte, die sich neue Orientierungen erarbeitet hatten, und mit kritischen Intellektuellen, die mit den Bewegungen in Dialog traten, beinhaltet.
Neue Erkenntnisse entwickelten sich vor allem aus der Praxis der sozialen Bewegungen und Parteien, nicht vorrangig aus den Gesellschaftswissenschaften. Sie werden nicht in die Massen "hineingetragen", sie werden an der Basis gewonnen und im Erfahrungsaustausch verallgemeinert. Hier entwickelte sich ein kollektiver Intellekt mit reichen Ausdrucksformen, der mit einer Sprache auftritt, wie sie den zum Handeln gelangten Massen gemäß ist und die mit ihnen bekannten Symbolen und Bezügen geladen ist.
Die Entwicklung in Kuba
Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Kuba wurde in einer anderen Epoche und unter anderen Voraussetzungen in Angriff genommen, als sie heute bestehen. Daß trotz aller bekannten Belastungen diese Gesellschaftsoption bis heute aufrechterhalten werden konnte, zeugt, auch wenn dabei die äußere Konfrontation eine agglutinierende Rolle spielt, von einer tiefen Verankerung im Leben und im Bewußtsein breitester Teile der Bevölkerung. Als leitendes Prinzip der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik trat an die Stelle des Profitstrebens die Sorge um das soziale Wohlergehen der Massen der Bevölkerung, das Streben nach sozialer Gleichheit; an die Stelle des USA-Diktats trat die entschiedene Verteidigung der nationalen Souveränität. Kuba ist heute das einzige Land, das nach Einschätzung der UNDP die "Milleniumsziele" der sozialen Entwicklung erreichen wird. Es hat auch nach UNO-Angaben beispielhafte Erfahrungen des ökologischen Wirtschaftens und einen anhaltend niedrigen Ressourcenverbrauch aufzuweisen. Kuba begann schon in den 80er Jahren mit Korrekturen am übernommenen realsozialistischen Gesellschaftsmodell, die aber unvollendet blieben. Neue Ansätze in Richtung einer Öffnung des staatlichen und ökonomischen Systems, der Lockerung der rigiden Kontrolle durch die Partei, der Öffnung der Kultur- und Informationspolitik wurden mehrfach gestartet, aber angesichts ihrer Konsequenzen, vor allem ihrer sozial differenzierenden Wirkungen, die dem Gleichheitsideal entgegenstehen, und angesichts der sich abzeichnenden Liberalisierungstendenzen, aber auch wegen der Ausbreitung von Übeln wie Korruption und Disziplinlosigkeit nicht weitergeführt, aus Sorge, die Revolution zu schwächen.
In den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu den sozialistischen Ländern und unter den Bedingungen der verschärften brutalen Blockade, kämpfte Kuba um seine weitere Existenz. Nach einer wirtschaftlichen Erholung in den letzten Jahren, der Erschließung neuer Wirtschaftszweige durch moderne Technologien und gewissen Erfolgen in der Verbesserung von Lebensbedingungen ist das Land durch die globale Krise erneut mit einer ernsten Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage konfrontiert, wie Verlust von Arbeitsplätzen, Absinken der Arbeitsproduktivität, Anwachsen von Armut, Anwachsen von sozialen Spannungen in einem Maße, daß sich daraus Konsequenzen für die gesellschaftliche Stabilität ergeben könnten. Die sozialen Errungenschaften, mit denen sich Kuba aus dem Kreis der Entwicklungsländer hervorhob, sind schwer zu bewahren. Heute erkennen kubanische Gesellschaftswissenschaftler an: "Zum ersten Mal seit 50 Jahren wird ein Druck von unten nach oben und möglicherweise ein Generationszwiespalt bemerkbar." (Jorge Gómez Barata, La sociedad cubana hoy, Artikelserie im November 2009, argenpress.info). Zitiert wird einer der bekanntesten Exponenten und Nationalpreisträger der kubanischen Sozialwissenschaften, Fernando Martínez Heredia: "Wir sind in einer stummen Schlacht der Ideen innerhalb der Revolution begriffen …", und der Bischoff Monsignore Carlos Manuel de Céspedes, der als Stimme der kubanischen Zivilgesellschaft hohe Achtung genießt: "Die Mehrheit der Kubaner glaubt, daß es einen demokratischeren und partizipativeren Sozialismus geben muß … und fordert, daß die Veränderungen, die Präsident Raúl Castro vorschlägt, mehr seien als mehr oder weniger angebrachte Gedankenspiele und Redeübungen." (ebenda)
Objektive und subjektive Ursachen für die Probleme hat Fidel Castro bereits in seiner Rede an der Universität Havanna vom 17. November 2005 benannt, als er vom "Selbstzerstörungspotential der Revolution" sprach. Es handelt sich aber keineswegs nur um Probleme, die auf der ideologischen und Verhaltensebene liegen, sondern um einen übermächtigen Anpassungsdruck der Wirtschafts- und Sozialentwicklung innerhalb des Sozialismus in Richtung auf offenere, mehr Spielräume und Entscheidungsmöglichkeiten schaffende Verhältnisse, bei Wahrung des Anspruchs der sozialen Gerechtigkeit und ohne Gefährdung der berechtigten Sicherheitsinteressen. Damit steht Kuba vor äußerst schwierigen Problemen, die als Kernprobleme eines Landes in (isolierter) sozialistischer Entwicklung unter dem Druck globaler kapitalistischer Bedingungen angesehen werden können. Manches davon korrespondiert mit den ungelösten Fragen in den Ländern des untergegangenen Sozialismus und zeigt den (weltweiten) Rückstand in der theoretischen Aufarbeitung dieser Erfahrungen und der Erarbeitung neuer Ideen und Lösungen.
Vor dem Hintergrund der erneuten Zuspitzung der Existenzbedingungen Kubas unter dem Druck der globalen Krise geht es heute mit großer Dringlichkeit um ökonomische Effektivität und Entwicklungsfähigkeit durch Freiräume für individuelle Initiativen (vor allem in der Landwirtschaft, um die Ernährungssouveränität Kubas zu gewährleisten), um Anpassungen der Leitungsstrukturen an die ökonomischen Reformen und deren Weiterführung, Überwindung von inhaltsleerer Rhetorik, Formalismus und Betrug, die Beachtung neuer Erscheinungen in der Massenkultur, Veränderungen in der Lebensweise, Charakter, Formen und Ausmaß der Demokratie, Werteorientierungen und viele Fragen, in denen Kuba heute von den sozialen Bewegungen des übrigen Lateinamerikas Anregungen empfangen kann.
Die heutige schwierige Lage Kubas zeigt, daß sich die Herausforderungen, die die sozialistische Entwicklung aufwirft, ständig neu stellen und daß die internationale Zusammenarbeit, die für Kuba stark eingeschränkt ist, eine unverzichtbare Komponente zu ihrer Bewältigung ist; darüber hinaus aber, daß die Rigorosität der Leitungsprinzipien und Eigentumsordnungen, der starre Zentralismus und das Kontrollstreben gegenüber der Gesellschaft, die mangelnde Transparenz, die trotz aller Reformen ihre Herkunft aus der Praxis des "Realsozialismus" nicht verleugnen können, der Entwicklungsfähigkeit Grenzen setzen.
Die kubanische Führung hat diese Probleme als strukturelle Fragen und als Lebensfragen der heutigen Entwicklungsetappe erkannt und die Bevölkerung zu einer breiten Diskussion und Lösungssuche aufgerufen; allerdings bleibt die Reaktion noch eher spärlich, wie kubanische Gesellschaftswissenschaftler feststellen. Für den angestrebten Erneuerungsprozeß eröffnen sich damit jedoch Chancen. Die kubanische Gesellschaft besitzt trotz zentrifugaler Tendenzen in der jüngsten Zeit weiterhin große Potentiale in der Zustimmung ihrer Bevölkerung zur sozialistischen Entwicklung, einer Vielzahl gut ausgebildeter Fachleute und einem Stamm erfahrener politischer Führer. Ihre Wiedereingliederung in die lateinamerikanischen Realitäten in einem Moment des progressiven Aufbruchs kann Synergieeffekte freisetzen, die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Entwicklungskonzeptionen erhält Anregungen durch Zusammenarbeit.