Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

September 1890. Sozialistengesetz wird außer Kraft gesetzt

Dr. Marga Beyer, Berlin

 

Muss man eigentlich ein Ereignis begehen, das inzwischen 125 Jahre zurückliegt? Muss man natürlich nicht – noch dazu,wenn man über diese heroische Zeitder Sozialdemokraten einfach hinwegsehen möchte. Was ist und war an diesem historischen Ereignis eigentlich so bemerkenswert? Wir Linken, Kommunisten gehören zu denjenigen, die aus der Geschichte die Flamme und nicht die Asche, wie es der Franzose Jaurès formulierte, herausholen wollen. Es gibt, auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen, vieles zu bemerken,was in unserer schnelllebigen Zeit nicht beachtet und einfach »vergessen« wird.

»Diesem System keinen Mann und keinen Groschen«

In Zeiten des sich formierenden Proletariats befand sich eine junge, vielfach geschmähte und unterdrückte Arbeiterpartei an der Spitze der Bewegung gegen Kapitalmacht und feudale Überreste.

Seit 1875 war dies die Sozialistische Arbeiterpartei, hervorgegangen aus der Vereinigung von Anhängern der »Eisenacher« sozialdemokratischen Partei und dem vorwiegend lassalleschen ADAV.

Noch war die Mitgliederstärke nicht beträchtlich und eigentlich ungefährlich. Und doch wandte der Bismarck-Staat am Ende der 70er Jahre alle drakonischen Mittel gegen sie auf. Der Bestand der kapitalistisch-feudalen Gesellschaftsordnung durfte nicht gefährdet werden.

Am 1. Oktober 1878 trat das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie in Kraft. Für eine aufstrebende Partei war dies zunächst ein Fiasko – und doch rappelten sich ihre Anhänger bald wieder auf und boten der gewaltigen Gegenmacht die Stirn. Mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Paul Singer, Ignatz Auer und vielen anderen Mitstreitern organisierten sie die Auseinandersetzung.

Lassen wir die machtpolitischen Querelen zwischen Wilhelm II. und v. Bismarck beiseite, so ergab sich im Februar 1890: das zwölfjährige Sozialistengesetz war gründlich gescheitert. Gescheitert war die Unterdrückung der deutschen Sozialdemokratie. Sie hatte in diesen Jahren den Grundstein für eine antikapitalistische Politik gelegt und war, trotz Drohungen, nicht gewillt sie aufzugeben. Ihrer eindeutigen Losung »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen« blieb sie noch jahrzehntelang treu und prägte die Partei im antikapitalistischen, antimilitaristischen Sinne.

Die verbotene Sozialdemokratie nutzte alle Möglichkeiten, um zu wachsen und zu gedeihen. Wie Franz Mehring bewundernd schrieb, hatte die Partei nicht nur gekämpft und sich geschlagen, »sondern auch gearbeitet und gelernt; sie hatte nicht nur den Beweis der Kraft, sondern auch den Beweis des Geistes geliefert.« [1]

Unter widrigsten Bedingungen entwickelte sich die Partei. Ihre großartigen Erfolge ließen sich natürlich in Zahlen allein nicht erfassen. Aber das quantitative Wachstum war imponierend: 1878 besaß die Partei 437.158 Wählerstimmen und 42 politische Blätter, 1890 waren es 1.427.298 Wählerstimmen und 60 politische Blätter mit 254.100 Abonnenten; auch die gewerkschaftlichen Organisationen entwickelten sich zusehends. Diese Zahlen sind insoweit aufschlussreich, weil die Partei aus verständlichen Gründen über keine Mitgliederzahlen verfügte und somit die Stärke der Sozialdemokratie nur indirekt ausgedrückt werden konnte.

Die Partei sammelte viele Proletarier und andere in diesen Kämpfen um sich, gewann neue Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Klassengegner. »Hätte die Partei es nicht verstanden, durch einheitliches Vorgehen, durch stetes Zusammenfassen ihrer Kräfte, durch Ausübung guter Disziplin das Vertrauen der Massen zu gewinnen, sie wäre ... bei weitem nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Sie wäre wohl auch gewachsen, aber sie wäre nicht, was unser Stolz ist: die anerkannte Partei des deutschen Proletariats.« [2]

Die Partei stand 1890 mit ihrem marxistischen Wissen und ihrer politischen Erfahrung, mit ihrer revolutionären Strategie und Taktik sowie mit ihrer straffen Organisation an der Spitze der internationalen Arbeiterbewegung.

In immer stärkerem Maße eigneten sich die Sozialdemokraten die marxistische Weltanschauung an. Die Nachfrage nach den Werken von Marx und Engels war außerordentlich groß. Das »Manifest der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels erschien in diesen Jahren in einer Auflage von 15.000 Exemplaren. Marxistische Literatur von August Bebel und Wilhelm Liebknecht und anderen Sozialdemokraten fand großen Anklang und wurde von Arbeitern gelesen. So konnte Bebel 1890 feststellen: »Zu keiner Periode der vorsozialistengesetzlichen Zeit sind auch nur annähernd solche Auflagen von Parteischriften hergestellt worden als in der Periode der Herrschaft des Gesetzes.« [3]

Keine Sonderrechte der Fraktion

Was war also in diesen 12 Jahren geschehen?

1. Die Partei war gestärkt und organisiert aus der kapitalistischen Umarmung hervorgegangen; sie hatte keinen Grund, ihre prinzipielle Politik und Taktik zu verändern. Doch aus dieser Zeit stammt der Vorwurf vom Parlamentarismus der Sozialdemokratie. In den Jahren des Sozialistengesetzes war die Partei verboten. Sie musste sich umorientieren und nutzte die herrschende Gesetzgebung geschickt aus. Nur einzelne Sozialdemokraten konnten im Wahlkampf antreten, so dass aus den einstigen 9 Abgeordneten schließlich im Februar 1890 35 Abgeordnete werden konnten. Die Leitung der Partei ging in diesen Jahren weitgehend an die sozialdemokratische Reichstagsfraktion über. Andere legale Leitungen waren der Partei nicht erlaubt. Diesem Nachteil begegnete die Parteiführung gleich nach der Aufhebung des Gesetzes.

Bereits auf dem 1. legalen Parteitag in Halle im Oktober 1890 beschloss der Parteitag ein neues Statut. Die Leitung der Partei ging an die gewählte Parteiführung über. Der Parteitag übernahm die Entscheidung über die parlamentarische Tätigkeit der Fraktion. Letztere erhielt keinerlei Sonderrechte innerhalb der Partei; die Abgeordneten waren rechenschaftspflichtig gegenüber der Partei. Damit waren Platz und Stellung der Fraktion im neuen Statut festgelegt. Das Verhältnis von zentraler Parteileitung und parlamentarischer Fraktion war im neuen Statut geklärt worden.

2. Die Partei lernte in diesen Jahren, sich, ihre Mitglieder und Anhänger vor den Schergen von Polizei und Staatsapparat zu schützen. Sie gründete eine interne Organisation, die »Eiserne Maske«. Deren Anweisungen, mündlich und im Parteiorgan verbreitet, folgten die Sozialdemokraten diszipliniert und halfen mit, ihre Organisation vor Polizeispitzeln zu sichern.

3. »Der Sozialdemokrat. Internationales Organ deutscher Zunge« wurde illegal 11 Jahre lang herausgegeben. Viele schwielige Hände passierten ihn, bis er von Zürich, später von London aus, verbreitet werden konnte. Das Blatt erfüllte seine Aufgabe als Organisator und Propagandist und half als Bindeglied zwischen zentraler Leitung und örtlichen Parteiorganisationen zu fungieren.

4. Ihr marxistisches Wissen, ihre revolutionäre Strategie und Taktik katapultierten die Sozialdemokratie an die Spitze der internationalen Arbeiterbewegung jener Zeit. Ohne die vielfältige internationale Hilfe und Unterstützung wäre dies nicht gelungen.

Die deutsche Sozialdemokratie wurde zu einem Vorbild anderer sozialdemokratischer Parteien in Europa, Asien und Amerika.

Voller Stolz blicken wir auf diese heroische Zeit der deutschen Sozialdemokratie zurück. Sie macht deutlich, dass es eine Unterscheidung zwischen der Sozialdemokratie jener Jahre und der späteren SPD gibt – was vor allem ihren antikapitalistischen Kampf und ihre marxistischen Grundauffassungen betrifft.

Deshalb: Vergessen wir Jungen die »Alten« nicht!

Marga Beyer ist Historikerin und lebt in Berlin. In den »Mitteilungen«: Der ADAV und sein Platz in der Geschichte der Arbeiterbewegung (Heft 5/2013, S. 27 ff.).

 

Anmerkungen:

[1] In: Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 674.

[2] 1 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a. S. vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin 1890, S. 36.

[3] 2 Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III, Berlin 1974, S. 339.

 

Mehr von Marga Beyer in den »Mitteilungen«: 

2013-05: Der ADAV und sein Platz in der Geschichte der Arbeiterbewegung