Sein Werk wird alle Kritiker überleben: Erwin Strittmatter zum Hundertsten
Erwin Berner, Berlin
Am 14. August 2012 wäre Erwin Strittmatter 100 Jahre alt geworden. In einer Zeit, in der das Mittelmaß öffentlich nach Belieben denunzieren darf, haben wir den ältesten Sohn von Eva und Erwin Strittmatter gebeten, uns Texte zur Verfügung zu stellen. Dies hat der Autor und Schauspieler Erwin Berner gerne getan. Es handelt sich um Glückwünsche ungewöhnlicher Art für einen der großartigsten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Ein Jahrhundert, das Menschen – gerade in Mitteleuropa – in schwierigste Situationen brachte. Wie immer wer auch immer das Leben Erwin Strittmatters beurteilt: Sein Werk wird alle seine Kritiker überleben.
Beide Texte sind Erwin Berners unveröffentlichtem Kurzprosaband "Ein Mann mit Vergangenheit" entnommen.
Glückwünsche
Zu Vaters Hinterlassenschaften in meinem Leben gehört der Anspruch an mich selbst, ich muss mich für Geburtstagsglückwünsche umgehend bedanken. In meinem Hirn ist gespeichert: Es schickt sich so! Zumindest hat es Vater so gehalten... Augenblicklich sehe ich Vater in Schulzenhof in Mutters Zimmer im Sessel sitzen, den Telefonhörer am Ohr. Erst saß Vater im alten Schulzenhofer Haus in Mutters Zimmer, den Hörer am Ohr, und bedankte sich. Da war er jünger. Später saß Vater im neuen Schulzenhofer Haus in Mutters Zimmer, den Hörer am Ohr, und bedankte sich. Da war er älter. Dann war er alt.
Früher, im alten Haus, musste Vater oft lange aufs Fernamtfreizeichen oder auf die vom Fernamt vermittelte Verbindung warten, ehe er seinen Dank für erhaltene Glückwünsche erstatten konnte.
Gegen Ende des Mittagessens sagte Vater zu Mutter: Vorm Abendbrot will ich Irma Harder anrufen und mich für ihre Glückwünsche bedanken!
Abends saß Vater tatsächlich am Telefon, wartete er geduldig auf ein Freizeichen, trug er "Bringeschuld" ab. Dank.
Vater führte ein Register von Personen, die ihm wichtig und wert waren, dass er ihnen zum Geburtstag oder zum neuen Jahr gratulierte – auch Glückwünsche zum neuen Jahr hielt Vater getreulich ein. Und Vater bestimmte anhand seiner Liste, wer neben einem telefonischen oder schriftlichen Geburtstagsgruß zusätzlich ein Geschenk bekommen sollte. Speziell zu den "runden" Geburtstagen. Aber auch so. Selten besorgte Vater das Geschenk. Zumeist wies er darauf hin, ermahnte er, fragte er nach, ob das Geschenk für den Tierarzt Gigas aus Rheinsberg gekauft worden sei. Die das Geschenk kaufen musste, war Mutter. Neben allen anderen Wegen und Einkäufen, die sie während der Berlin-Aufenthalte der Eltern zu erledigen hatte, musste Mutter auch die Geschenke besorgen. Weil Vater großzügig Geschenke an Kollegen, Freunde, Pferdezüchter oder an Lausitzer Verwandte verteilte, war Mutter so gut wie ständig beauftragt, Geschenke zu kaufen.
Obgleich sie vieles andere in Berlin zu erledigen hatte, kaufte Mutter Geschenke mit Bedacht. Mutter wusste, was zu wem passt. Sie wusste es sogar, wenn ihr der zu Beschenkende nicht nahestand. Ja, Mutter schien es selbst zu wissen, wenn sie den zu Beschenkenden einzig aus Vaters Erzählungen kannte – was sowohl für Vaters Talent, anschaulich zu erzählen, als auch für Mutters Einfühlungsvermögen sprach. Mutter brachte Graphiken, Gemäldebände, Böhmisches Glas, Porzellantassen, Pullover, Mäntel, Tischdecken und Präsentkörbe nach Schulzenhof. Die Geschenke lagerten bis zu dem Tag, an dem die Eltern den zu Beschenkenden in Schulzenhof oder in seinem Heimatort sehen würden, in Mutters Kammer im alten Haus.
Auch wenn Mutter die Geschenke längst gekauft und es Vater gesagt hatte, kam es vor, dass Vater, nachdem er bei Tisch eine Weile in sich versunken geschwiegen hatte, fragte: Hast du das Geschenk für Bruno Skodowski besorgt? Denk dran, Bruno hat Geburtstag!
– Ja, hab ich besorgt, sagte Mutter dann. Zuweilen schwang in Vaters Frage ein gereizter Ton mit. Das geschah an Tagen, an denen er mit seiner Schreibarbeit unzufrieden war und einen Grund suchte, um seinem Ärger Luft machen zu können. Mutter, die große Organisatorin, bot ihm dafür keinen Anlass. Mutter hatte wiedermal an alles gedacht. Oft hatte sie sogar mehr Geschenke gekauft als geplant, denn auch Mutter war und ist großzügig.
Uns Kinder, ihre Hausangestellte und die Leute aus der Nachbarschaft zu beschenken und vor allem rechtzeitig an die jeweiligen Geburtstage zu denken, oblag allein Mutter. Und obwohl Vater nicht darauf hinwies, er nicht mahnte, nachfragte, weil diese Personen in seinem Register nicht vorkamen, vergaß Mutter nie, Geschenke zu kaufen. Alles ging seinen Gang. So und auch so.
Das, worüber ich hier schreibe, liegt Jahre zurück. Vater starb 1994. Manches hat sich seitdem gewandelt. Ich aber denke jetzt, da ich einen "runden" Geburtstag hatte, daran, dass ich mich umgehend für alle Glückwünsche bedanken muss. Ich denke es und sehe Vater am Telefon sitzen. Erst im alten Schulzenhofer Haus, dann im neuen Schulzenhofer Haus. Den Hörer am Ohr.
Vollkornbrot und Würstchen
Um die Vergänglichkeit vieler Dinge tut es mir nicht leid, geht auch mit ihnen mein eigenes Leben dahin. Ich sage: vorbei ist vorbei! Bei einigen Dingen falle ich jedoch, sobald ich an sie denke, der Sentimentalität anheim. Schlimmer noch ist es, wenn mich Gerüche an Dinge erinnern, die ich durchaus nicht hergeben wollte. So wird mich der Geruch von Vollkornbrot und Würstchen stets an die Mahlzeiten in der Berliner Wohnung der Eltern erinnern.
Waren die Eltern oder war Mutter für einige Tage oder auch nur für einen Tag in Berlin und hatte ich rechtzeitig davon erfahren, so besuchte ich die Eltern oder Mutter gegen Mittag oder zur Abendbrotzeit. Ich kam in die nach süßlicher Frische duftende Wohnung in der Frankfurter Allee, folgte Mutter über Flur und Diele in den der Küche vorgelagerten kleinen Essraum und – schon umfing mich der Geruch von Vollkornbrot und Würstchen; denn auf der Küchenanrichte lag eine für die Mahlzeit geöffnete Packung Vollkornbrot. Und auf dem Gasherd garten Halberstädter Würstchen. Das war unsere "heile Welt". Dazu gehörten noch Butter und Senf sowie der Schwarztee, den wir aus bunten Keramikbechern tranken.
Wir saßen zu dritt oder zu zweit am dunklen Esstisch, redeten über die Schreibarbeit, übers Schulzenhofer Leben, über Literatur und Verlags-Angelegenheiten oder über russische Freunde; und aller Rede war der Geruch von Vollkornbrot und Würstchen beigemengt.
Im tiefsten Gespräch sagte Mutter: Es sind noch Würstchen im Topf! ...
Lag Mutter in der Berliner Wohnung krank zu Bett – auch das kam vor –, und hatten wir beide in ihrem Zimmer ein Weilchen über die Unbill des Lebens geredet, so sagte sie: Na, wie auch immer: noch haben wir Würstchen und Vollkornbrot! ... Vielleicht bist du so freundlich und gehst in die Küche und machst sie für uns warm?
Mutter wandte sich im Bett ihrer aktuellen Lektüre zu. Ihr Kopf verschwand hinter dem Bücherstapel auf dem Beistelltisch.
Ich ging in die Küche, öffnete die Würstchenbüchse, nahm aus dem Schrank unterm Küchenfenster den dunkelblauen Kochtopf, gab die Würstchen in den Topf, an dessen Deckel ich mir, wenn er heiß war, oft die Finger verbrannte, zündete eine Gasflamme an und stellte den Topf auf den Herd. Ich ließ Leitungswasser in den Teekessel einlaufen – jahrelang schmeckte das Wasser, das in der Frankfurter Allee aus der Leitung kam, gechlort –, entzündete eine zweite Gasflamme und setzte auch den Teekessel auf den Herd. Dann hängte ich Teebeutel in die Thermoskanne. Derweil auf dem Herd Würstchen- und Teewasser ihrem Siedepunkt entgegen schwitzten, deckte ich den Tisch. Ich holte Senf und gefrorene Butter aus dem Kühlschrank und brachte Becher, Teller und Bestecke zum Tisch. Wenn Vater in Berlin war, bekam er sein Brett, sein Messer, seine Tasse. Vaters letzte spezielle Tasse hatte ich von Moskau her mitgebracht. Auf ihrer Außenseite galoppierten rote Pferde. Die dazugehörige Untertasse war längst zerbrochen. Ich stellte den Teller mit dem Vollkornbrot auf den Tisch, nahm auf einem der sechs Hocker, die den Tisch umstanden, Platz und beobachtete vom Essraum aus den Teekessel und den Würstchentopf auf dem Herd. Sobald Wrasen aus dem Würstchentopf drang, drehte ich geschwind das Gas ab. Dennoch: im Gegensatz zu Mutter vermochte ich nur selten zu verhindern, dass die Würstchen im Topf platzten.
Ich saß im Essraum, sog den Geruch von Würstchen und Vollkornbrot ein, wusste Mutter in ihrem Zimmer und wusste Vater, sofern er in Berlin war, in seinem Zimmer. Gleich würden wir uns hier am Tisch treffen. Mutter käme aus ihrer Welt, Vater, sofern er in Berlin und in seinem Zimmer war, käme aus seiner Welt; und ich war in meiner Welt. Wenn wir Glück hatten, dann passten die Welten an diesem Mittag oder Abend zusammen. Oder man konnte zumindest berichten, was man in seiner Welt dachte und sah.
Heute verhält es sich so: Ich habe mich daran gewöhnt, dass Vater gestorben ist. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Mutter vor Jahren die Berliner Wohnung aufgegeben hat. Nicht hingegen habe ich mich daran gewöhnt, dass es die Gespräche bei Würstchen- und Vollkornbrot nicht mehr gibt. Die Idee, dass ich das wiederhaben möchte, diese Nichtigkeit, gemessen am ganzen Leben, scheint mich auf immer zu verfolgen. Doch immer ist nicht lang. Ist endlich.