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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

SED/SPD-Papier 1987 – Chance oder Kapitulationsvorbereitung?

Prof. Dr. Erich Hahn, Berlin

 

Zwischen 1984 und 1989 fanden sieben Treffen von Delegationen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und der Grundwertekommission der SPD statt. Eines der Ergebnisse war die Veröffentlichung des Dokuments "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" vor zwanzig Jahren, am 27. August 1987 auf Pressekonferenzen in Berlin und Bonn. Eine breite internationale Resonanz und Kontroversen, die bis in die Gegenwart anhalten, wurden ausgelöst. Die Redaktion der "Mitteilungen" bat Erich Hahn, Teilnehmer der Gespräche und Autor der Monographie "SED und SPD. Ein Dialog" sowie zahlreicher weiterer Publikationen, zu diesen Begebenheiten um einen Beitrag zu der oben gestellten Frage.
 

Die Treffen von Delegationen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und der Grundwertekommission der SPD vom Februar 1984 bis April 1989 waren alles andere als eine "Kapitulationsvorbereitung" oder eine revisionistische Verirrung. Die Gespräche waren intensive geistige Auseinandersetzungen zwischen marxistisch-leninistischen und sozialdemokratischen Auffassungen zu Problemen der Friedenssicherung und Entwicklungspolitik, der Wirtschaft und Bildung, der Demokratie und Menschenrechte sowie der Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie, in der keine Seite der anderen etwas geschenkt hat. Und das im August 1987 der Öffentlichkeit präsentierte Dokument "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" war ein sinnvoller Kompromiß, der aktuellen wie perspektivischen Erfordernissen der Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus und der Sicherung des Weltfriedens Ausdruck verlieh.

Zu einer angemessenen Beurteilung der damaligen Ereignisse muß man sich in die weltgeschichtliche und politische Situation der beginnenden achtziger Jahre zurückversetzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war es klar, daß ein revolutionärer Aufbruch in den entwickelten kapitalistischen Ländern und ein rascher Zusammenbruch der imperialistischen Herrschaft nicht auf der Tagesordnung stand. Die einzig realistische Perspektive war die längerfristige Koexistenz beider Systeme, in der sich zu erweisen hatte, welche Seite es besser vermag, die objektiven Erfordernisse des Friedens und des Fortschritts in der gegenwärtigen Etappe der Menschheitsentwicklung zu realisieren. Es ging darum, Formen zu finden, die dem epochalen Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus eine Bewegung verleihen, die nicht in einem Kernwaffenkrieg mündet. Die verhängnisvollen Konsequenzen einer weiteren Fortsetzung des Kalten Krieges und des Wettrüstens waren unübersehbar.

Hinzu kommt folgendes. Die politische Konstellation in der BRD war unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß die SPD 1982/83 von den konservativen Kräften aus der Regierung gedrängt worden war. Die Auseinandersetzungen um die "Nachrüstung", den "Nord-Süd-Konflikt" und die ökologische Problematik wurden durch die Frage nach der strategischen Reaktion auf innenpolitische Herausforderungen (Konjunktureinbruch, Arbeitslosigkeit, Inflation) ergänzt. Publikationen von Repräsentanten der Grundwertekommission und anderer SPD-Kreise trugen Kennzeichen einer Suche nach Ansätzen zur Realisierung von mehr Gerechtigkeit auf dem Wege einer anderen Wirtschaftspolitik.

Auf der anderen Seite hatten die sozialistischen Staaten 1983/84 im Ergebnis einer Reihe außenpolitischer Aktivitäten sowie durch Ansätze einer Überwindung innerer Stagnationserscheinungen nicht nur bei progressiven Kreisen der westlichen Öffentlichkeit und Politik an Ansehen bzw. Respekt gewonnen.

Welche unmittelbaren oder strategischen Absichten und Ziele die Kreise um Erhard Eppler 1983/84 auch immer verfolgten, sie waren sich bewußt, daß sie sich mit Kommunisten einließen, deren politische Macht durchaus nicht jene Momente der Instabilität und Krisenhaftigkeit aufwies wie einige Jahre später!

Der Vergleich ihrer diesbezüglichen Äußerungen 84/86 und dann 88/89 – von denen nach 89 ganz abgesehen – belegen dies sinnfällig.

Friedliche Koexistenz und ideologischer Klassenkampf

Nun schließt auch friedliche Koexistenz, das Austragen des Widerspruchs zwischen Sozialismus und Kapitalismus ohne Krieg, die ideologische Auseinandersetzung nicht nur nicht aus, sondern geht unvermeidlich mit deren Intensivierung und Verstärkung einher. Auch darüber gab es noch zu Beginn der achtziger Jahre bei den marxistisch-leninistischen Parteien der sozialistischen Länder kaum Meinungsverschiedenheiten. Die objektive Notwendigkeit des ideologischen Klassenkampfes ergab sich nicht nur aus der allgemeinen Unvereinbarkeit der grundlegenden Interessen, Prinzipien und Ziele beider Systeme, sondern nicht minder aus sehr konkreten alltäglichen Gegebenheiten. An die zunehmenden technischen Möglichkeiten des gegenseitigen ideologischen Aufeinandereinwirkens war dabei ebenso zu denken wie an die objektiv wachsende Interdependenz der verschiedensten Erdteile, Regionen und Staaten. Die immer häufigere Begegnung von Menschen beider Systeme war eine Konsequenz intensivierter politischer, ökonomischer und kultureller Beziehungen, Verflechtungen und Abhängigkeiten, die ihrerseits auf das irreversibel wachsende Potential länder- und systemübergreifender Probleme und Herausforderungen verwies. Auf gegenseitige Abkapselung und Isolation zu setzen, wäre eine haltlose und keinesfalls emanzipatorische Illusion gewesen. Das "Zusammenwachsen" der Menschheit konnte freilich den prägenden antagonistischen Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie ebenso wenig eliminieren oder abschwächen wie die zahllosen anderen historischen oder nationalen, politischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Gegensätze und Konflikte. Die deutliche Artikulation der je eigenen Identität der Systeme erwies sich als zwingende Voraussetzung eines souveränen und gleichberechtigten Miteinanders.

Diese überaus komplexen und widerspruchsvollen Tendenzen und Zusammenhänge erhielten im Titel des hier zu erörternden Dokuments programmatischen Ausdruck. Insofern hätte die Botschaft dieser Aktivitäten von den Führungen der marxistisch-leninistischen Parteien der sozialistischen Länder als überfälliges Signal für die Notwendigkeit einer offensiven Reaktion auf eine veränderte Weltlage angenommen werden müssen. Mit der Konsequenz, entschieden Sorge zu tragen für die Festigung und Stabilität des eigenen "Hinterlandes" – einschließlich seines unverwechselbaren historisch-geistigen Profils und der dazu erforderlichen ideologischen Offensive beziehungsweise der Mobilisierung der Parteien selbst. Letzteres wurde Ende 1988 seitens der SED durch eine Tagung des ZK noch einmal versucht – allerdings zu spät und kurze Zeit darauf wieder zurückgenommen.

Maßgebend dafür waren gewiß Meinungsverschiedenheiten im Politbüro. Die – wohl vor allem auf das persönliche Engagement Erich Honeckers zurückzuführende – fast einstimmige Zustimmung zum Dokument im Sommer 1987 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Folgenden recht unterschiedliche Konsequenzen gezogen wurden. Selten lebhafte Aussprachen in Parteigremien, Künstlerorganisationen, mit Kirchenvertretern und in der NVA auf der einen Seite standen defensive Zurückhaltung und Restriktionen in anderen Bereichen gegenüber. Dies war nicht zuletzt auf die destruktive Einmischung der KPdSU-Führung zurückzuführen.

Hinzu kommt, daß es im marxistischen Denken gravierende Divergenzen zu prägenden geschichtlichen Tendenzen dieser Zeit gab. Sie kreisten um die Beziehung zwischen Menschheitsentwicklung und Klassenkampf. Von zahlreichen Übergängen und Vermittlungen abgesehen, standen sich – grob skizziert – zwei grundlegende Positionen gegenüber. Den einen Pol markierte die Position, daß die Menschheit als Ganzes sich infolge der Wirkung vor allem zweier Faktoren zum übergreifenden und bestimmenden Subjekt der Geschichte entwickelt habe: wegen der deutlichen Intensivierung von Internationalisierungsprozessen und der Verdichtung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Gliedern der Erdbevölkerung sowie angesichts des zunehmenden Gewichts drängender Probleme und Herausforderungen (vor allem Frieden, Unterentwicklung, Ökologie), die nur noch durch das Zusammengehen und gemeinsame Handeln aller Staaten, Nationen, Parteien und Organisationen zu bewältigen seien. Der Klassenkampf habe seine Rolle als Haupttriebkraft der Geschichte eingebüßt – Erfordernissen der Gattungsentwicklung und Menschheitsinteressen komme das Primat zu.

Dem stand am anderen Pol die Auffassung entgegen, daß die reale Bedeutsamkeit der genannten Prozesse und Bedingungen keinesfalls in Abrede zu stellen sei, daß jedoch die geschichtsbestimmende Funktion von Klassengegensätzen und Klasseninteressen damit nicht im mindesten geschmälert oder aufgehoben werde. Vielmehr gehe es darum, die objektiv spezifische Beziehung der verschiedenen Klassen zu diesen Problemen und Prozessen zu bestimmen und daraus Orientierungspunkte für den Kampf der Arbeiterklasse abzuleiten.

"Menschheitsinteressen" und imperialistische Barbarei

Niemand sage, daß es sich hier um weltfremde oder politikferne Seminardispute handele. Der Streit füllte die Seiten der politischen Presse und Zeitschriften. Der Autor selbst hat an einer Konferenz von Vertretern der marxistisch-leninistischen Parteien aller europäischen Länder im Januar 1989 am Institut für Marxismus-Leninismus der KPdSU teilgenommen, auf der die Gegensätze nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der Parteien deutlich zutage traten und kein Konsens gefunden werden konnte. (Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Die Dialektik von allgemeinmenschlichen und Klasseninteressen. Materialien eines internationalen Symposiums. 11.–12. Januar 1989 in Moskau. In russischer Sprache)

Und auf einer den Wirkungen des "Dokuments" gewidmeten internationalen Tagung an der Gustav-Heinemann-Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Freudenberg waren es nicht nur Vertreter der KPdSU, die aus ihrer Sicht Folgerungen für eine verhängnisvolle Fehldeutung des internationalen Geschehens ableiteten – auf der Tagesordnung stehe nicht ideologischer Kampf, sondern ideologische Annäherung, die letztere dürfe nicht durch Herausstellung von Identitäten beziehungsweise Unterschieden gefährdet werden; das "neue Denken" impliziere "ideologischen Pluralismus" und nicht mehr ideologischen Kampf und so weiter. Nicht zu übersehen ist auch, daß nicht zuletzt derartige Anschauungen bei der liberalisierenden Metamorphose ehemals marxistisch-leninistischer Parteien nach 1989–1991 konzeptionell eine tragende Rolle spielten. Wie andererseits gerade die Weltentwicklung nach der Niederlage der sozialistischen Staaten in Europa die ausschlaggebende Rolle von Klasseninteressen und Klassenkampf, von Macht und Herrschaft im Inneren kapitalistischer Staaten und in den internationalen Beziehungen ebenso unter Beweis stellen wie die immer unmittelbarer die Menschheitsentwicklung in Richtung Barbarei drängende Fortexistenz des Imperialismus.

Wie auch immer – die hier erörterten Aktivitäten und Erfahrungen der achtziger Jahre hätten der Ausgangspunkt für zeitgemäße Vorstellungen zur offensiven Bewältigung objektiv herangereifter Probleme der geschichtlichen Praxis im Interesse der Arbeiterklasse und des Sozialismus sein können – zum Nutzen von Frieden und Fortschritt. Daß diese Chance nicht ergriffen wurde, lag nicht zuletzt daran, daß wohl auf eine langfristige Fortwirkung der spontanen Zustimmung in breiten Kreisen der Bevölkerung und der positiven Resonanz in der internationalen friedensorientierten Öffentlichkeit sowie die damit verbundene Steigerung des Ansehens der SED und der DDR gesetzt wurde. Die naturgemäß diesen Aktivitäten und Prozessen innewohnenden Widersprüche wurden nicht zur Diskussion gestellt und ausgetragen, sondern pragmatisch unter den Teppich gekehrt.

Übrigens – daß die Entscheidung der SED für diese Gespräche und ihre Zustimmung zum Dokument 1987 durchaus von den Interessen der Arbeiterklasse bestimmt war, erwiesen indirekt Resonanz und Reaktion in der Bundesrepublik. Die Grundwertekommission der SPD und Erhard Eppler persönlich erfuhren unmittelbar nach der Veröffentlichung des Dokuments nicht nur vom politischen Gegner geharnischte Proteste dafür, daß sie sich mit Kommunisten eingelassen hatten. Es war zum Beispiel Gesine Schwan, die im September 1987 in einem Grundsatzartikel in der FAZ vehement dagegen polemisierte, der "kommunistischen Einparteidiktatur die ‚Existenzberechtigung’" zuzusprechen. Kritik am Kommunismus werde im Dokument nicht geübt, vielmehr werde der "entscheidende Schritt" zur Legitimität der "inneren Ordnung" des kommunistischen Systems vollzogen. Egon Bahr entgegnete: "Mit Kommunisten erst reden, wenn sie keine mehr sind, war eine Haltung aus den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik, die sich nicht durchhalten ließ und auch nicht die leiseste Hoffnung entwickelt hat, sie könnte erfolgreich sein." Ob die SPD gut beraten war, kurze Zeit später diese Erfahrung in den Wind zu schlagen, steht dahin!