Saigon – aktuell!
Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf
Am 30. April 1975 fiel Saigon unter dem Ansturm der Nationalen Befreiungsfront und nordvietnamesischen Truppen. Es endet der sogenannte Zweite Indochina-Krieg mit einer krachenden Niederlage der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Jahr später war Vietnam wieder vereint, frei, souverän und wurde endgültig zur Sozialistischen Volksrepublik. »Rot ist der Mai, alle auf die Straße, Saigon ist frei!«, sollte später der Oktoberklub singen. Es war dieser Jubel über den Erfolg der weltweiten Solidarität mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes gegen den fortgesetzten kolonialistischen und imperialistischen Eroberungskrieg und einer so nie wieder dagewesenen internationalen Friedensbewegung. Für Millionen meiner Generation, auch für die Jugend der damaligen DDR, war dieser Sieg prägend für das ganze Leben und bleibt es maßgeblich bis heute. Er erzeugte einen unbändigen Optimismus in die Möglichkeit der Verbannung von Kriegen aus dem Leben der Menschheit. Um die Bedeutung dieses Ereignisses in seiner ganzen Tiefe zu verstehen, sollten wir uns einem weiteren historischen Vorgang zuwenden, der eine ganze neue Ära der Weltgeschichte prägen sollte. Und Vietnam wurde Teil davon.
Jalta und Potsdam
Vor 80 Jahren wurden die Völker vom deutschen Hitlerfaschismus befreit. Was waren die wichtigsten Ergebnisse dieses zweiten Jahrhundertereignisses nach der Großen Russischen Oktoberrevolution:
a) Die Zerstörung des menschenverachtenden faschistischen deutschen Staates mitsamt seiner neokolonialen, imperialistischen Kriegsmaschine erfolgte maßgeblich durch die Sowjetunion. Die rote Fahne auf dem Berliner Reichstag wurde zum immerwährenden Symbol. Die Rote Armee war nach Berlin und bis an die Elbe marschiert, nicht um Deutschland zu erobern, sondern eben um den faschistischen Machtapparat unwiderruflich zu zerstören. Erst musste sie ihn aus großen Teilen des eigenen Landes abschütteln, dann gelang es ihr, bis ins Zentrum Deutschlands vorzudringen.
b) Ein »Kollateralschaden« dieses unsäglichen faschistischen Raubkrieges bestand darin, dass sowohl die USA als auch die Sowjetunion aus bisherigen Großmächten zu zwei Weltmächten wurden und auch noch zu einem historisch erstmaligen machtpolitischen Ausgleich fähig waren. Das war es, was in Jalta auf der Krim vorbereitet und in Potsdam im Juli/August vertraglich fixiert wurde, nicht eine Aufteilung des Rests der Welt. Schon damals saßen die verflossene Weltmacht Großbritannien und dann auch Frankreich am Katzentisch der Verhandlungen und später der internationalen Beziehungen. Denn West- und Osteuropa wurden zu den jeweiligen »Vorfeldern« der beiden Großen, wobei dies maßgeblich durch die forcierte Eindämmungsstrategie der USA bedingt war, die keine Neutralität Deutschlands zuließ, sondern nur dessen Spaltung.
c) Dieses Containment hatte als neue außenpolitische Doktrin die auf die beiden Amerikas beschränkte Monroe-Doktrin abgelöst und sollte nun dauerhaft in Europa zum Tragen kommen. Dies war bereits durch die späte Landung der US-Truppen in der Normandie (im Frühjahr 1944) deutlich geworden, als Verhandlungen mit Deutschland nicht mehr möglich erschienen und die Sowjetunion in ihrem Sieg unaufhaltbar schien. Der in Abweichung zur im Potsdamer Abkommen festgelegten Entnazifizierung und Entmilitarisierung rasch folgende Wiederaufbau des alten Staates mit ehemaligen Führungspersonen wie Gehlen, Globke oder Kiesinger in den westlichen Besatzungszonen unterstreicht dies zusätzlich. Die USA machten, wie es der Ultrarechte Steve Bannon kürzlich der Münchner Sicherheitskonferenz in Vorbereitung des Auftritts des Vize-Präsidenten, J. D. Vance, ganz unverblümt zurief, aus Westeuropa ihr Protektorat.
Antikoloniale Befreiungskämpfe
Diesen machtpolitischen Kernergebnissen des II. Weltkriegs folgten weltweite Entwicklungen, die auch für Vietnam von größter Bedeutung waren und bis unsere Tage hineinreichen:
a) Der Sieg der Sowjetunion und ihrer Verbündeten bewirkte einen gewaltigen Schub der antikolonialen Befreiungsbewegungen. Wenn auch auf unterschiedlichsten Wegen, doch konnten sich viele Völker aus eigener Kraft ganz oder teilweise vom Kolonialismus befreien, wie China von der japanischen Invasion und der jahrhundertelangen westlichen Besetzung der Küstenregionen, Korea – ebenfalls von der japanischen Besetzung, Indien unter Führung von Mahatma Gandhi in Gänze von den britischen Kolonialherren. Ja, und eben Vietnam, wenn dort auch der durch Ho Chi Minh angeführte Befreiungskampf gegen die französische Kolonialherrschaft mit dem historischen Sieg von Dien Bien Phu 1956 zu einer zeitweiligen Spaltung des Landes führte.
b) Die amerikanische Politik des Containment fand jedoch nicht nur in Europa statt. Der Ausgleich von Potsdam bezog sich folgerichtig auch auf den pazifischen Raum (vv: kein Eigenname?). Und die Eindämmung begann auch dort bereits vor der formalen Beendigung des Krieges. Das wohl unsäglichste Zeichen aller Zeiten waren die US-Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sowie die nachfolgende dauerhafte militärische Besetzung des japanischen Guam und umliegender Inseln. Als J. W. Stalin Harry S. Truman später dann mitteilte, dass die Sowjetunion ebenfalls über die »Bombe« verfügte, war das Kräftegleichgewicht zwar bestätigt, doch das abscheuliche Verbrechen in Japan geschehen. Diese Politik setzte sich durch die Teilung Koreas fort, die quasi-»Übernahme« des chinesischen Formosa/Taiwans und die fortgesetzte Einmischung in Indochina, insbesondere in Vietnam. Nach der französischen Niederlage in Dien Bien Phu steuerten die USA zielstrebig auf den Kampf gegen die vietnamesischen Befreiungsbewegung zu. Schon unter Präsident J. F. Kennedy brachten sie eigene Truppen nach Südvietnam und führte die CIA nach dem Tod von Kennedy und der Übernahme durch Lyndon B. Johnson zunehmend »verdeckte Operationen« in Nord-Vietnam durch. Der berüchtigte Tonkin-Inzident 1964 sollte als Anlass dienen, nun auch den Norden anzugreifen. Für das vietnamesische Volk war es die Fortführung des antikolonialen Befreiungskampfes, für die USA verwandelte sich dieser Krieg in einen neokolonialen Raubkrieg. Die Sowjetunion und China unterstützten Vietnam. Dadurch kam für die USA auch noch das Containment vor allem der Sowjetunion als Kriegsziel dazu. Und so mancher Beobachter sprach wieder einmal von einem Stellvertreterkrieg.
c) Dieser Krieg wurde US-seitig mit äußerster Brutalität geführt. Aber besonders die unverschleierte Menschenfeindlichkeit der Täter ließ einen unwillkürlich an die Täter von 1939 bis 1945 denken. Die Herabsetzung anderer Menschen aus biologischen oder weltanschaulichen Gründen gegenüber der eigenen »Rasse« oder »Kultur« ist nichts anderes als die ideologische Grundlage des Faschismus. Es gab sie in der Geschichte der Menschheit, solange Kriege geführt werden und begründet werden müssen. Dabei kam der Begriff des Faschismus erst in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf, als die Ideologie, ebenso wie vormals, mit der politischen (Staats-)Macht verbunden wurde, doch die »technischen Möglichkeiten« des Völkermords in der Industriegesellschaft unvorstellbare Dimensionen erreicht hatten. Als ich circa drei Jahre vor dem Sieg das erste Mal in Vietnam war, sah ich die Resultate des Entlaubungsmittels Agent Orange, an dem auch spätere Generationen von Vietnamesen noch leiden, und Napalm, das einen schleichenden, qualvollen Tod herbeiführte. Als ich ein Stück erkalteten Napalms in den Händen hielt, schien mir, Himmler hätte aus den Gaskammern in Buchenwald und Auschwitz flächendeckende Großkammern in Vietnam gemacht. Und das herbeigeführt von der »größten Demokratie aller Zeiten«. Das Napalm ist mir heute noch in grausamer Erinnerung – als immer wiederkehrender Anstoß zum Nachdenken über den Kern des Faschismus.
d) Die Kriege, die dem vietnamesischen Volk aufgezwungen worden waren und mit einem grandiosen Sieg vor 50 Jahren endeten, waren neokoloniale, imperialistische Raubkriege. Der Kampf gegen Kommunismus oder Sozialismus war machtpolitisch keinesfalls deren Kern, wie auch das 1990 nach der Implosion der Sowjetunion das fortgesetzte »Containment« Russlands zeigt, der Antikommunismus schon – als ideologische Form der Ausgrenzung von Menschen anderer Weltanschauung. Und noch etwas bleibt, die Erkenntnis von deren faschistoidem ideologischem Charakter, egal mit welcher Staatsform sich der Faschismus verbündet.
Für unsere Tage bleibt eine wahrheitsgetreue Einschätzung der »kriegführenden« Parteien und der jeweils »inspirierenden« Kraft entscheidend für einen zielführenden Friedenskampf. Alles andere lässt uns immer wieder aufs Neue auf Gleiwitz, Tonkin oder vergiftete »Narrative« hereinfallen. Niemand kann sich heute darauf zurückziehen, etwas nicht oder nicht hinreichend gewusst zu haben.
In diesem Sinne sollten wir nicht vergessen: »Rot ist der Mai, alle auf die Straße, Saigon ist frei!«
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