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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Sag mir, woran du erinnerst, und ich sage dir, wer du bist

Dr. Gesine Lötzsch, MdB

 

80 Jahre nach Anne Franks Tod stellen sich alte und neue Fragen. Woran wollen wir erinnert werden? Woran wollen wir nicht erinnert werden? Wie wird Geschichte durch die Herrschenden und die Medien tagespolitisch interpretiert? Haben die Linken die Geschichte den Herrschenden überlassen?

Am 12. März 1945, nur wenige Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, starb Anne Frank im Alter von 15 Jahren an den Folgen von Hunger und Typhus. Anne Frank wurde am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main geboren. Mit ihrer Familie floh sie 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die Niederlande. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande tauchten sie und ihre Familie 1942 in einem Amsterdamer Hinterhaus unter. In dieser Zeit schrieb Anne ihr berühmtes Tagebuch, das bis heute Millionen Menschen berührt.

Im August 1944 wurde das Versteck der Franks verraten. Anne und ihre Familie wurden verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Später wurde sie nach Bergen-Belsen gebracht, wo sie und ihre Schwester Margot unter unmenschlichen Bedingungen starben. Ihr Vater Otto Frank, der als einziger überlebte, kümmerte sich nach dem Krieg um die Veröffentlichung ihres Tagebuchs.

Anne Franks Tagebuch, erstmals 1947 veröffentlicht, wurde in mehr als 70 Sprachen übersetzt. Zum 80. Todestag werden weltweit Gedenkveranstaltungen abgehalten. In Amsterdam widmet das Anne-Frank-Haus eine Sonderausstellung ihrem Erbe. In Deutschland sind zahlreiche Schulen nach Anne Frank benannt. Laut einer Quelle aus dem Jahr 2022 gibt es insgesamt 96 Anne-Frank-Schulen in Deutschland.

Anne Frank wird von den Nazis gehasst. Sie wollen die Geschichte umschreiben. Sie bezeichnen das Tagebuch als eine Fälschung. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hatte am 19. Oktober 2006 Anklage wegen Verbrennung des Tagebuchs der Anne Frank, Volksverhetzung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener erhoben. Die Anklage richtete sich gegen sieben 23- bis 28-jährige Personen aus Pretzien und Plötzky. Die Angeschuldigten wurden beschuldigt, am Abend des 24.06.2006 im Rahmen einer von ihnen in der Ortschaft Pretzien organisierten sogenannten »Sonnenwendfeier« die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verherrlicht und die Verfolgung europäischer Juden im Dritten Reich verharmlost bzw. verleugnet zu haben. Sie verbrannten ein Exemplar des Tagebuchs der Anne Frank und verhöhnten Anne Frank und mit ihr sämtliche Opfer ehemaliger Konzentrationslager. Das Amtsgericht Schönebeck verurteilte fünf der sieben Angeklagten wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen.

Das war kein Dummejungenstreich. Das war nicht nur eine Episode. Die AfD will die Geschichte vollständig umschreiben. Für die AfD-Kanzlerkandidatin Weidel war Hitler ein Kommunist. »Der größte Erfolg nach dieser schrecklichen Ära unserer Geschichte war es, Adolf Hitler als rechts und konservativ zu bezeichnen. Er war das genaue Gegenteil. Er war nicht konservativ. Er war dieser sozialistisch-kommunistische Typ.«[1] Das ist Volksverhetzung! Das ist ein weiterer Grund, diese Partei zu verbieten.

Der Partei- und Fraktionschef der AfD, Alexander Gauland erklärte 2018: »Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«[2] (Twitter, 02.06.2018). Damals war die Empörung über die Äußerung Gaulands noch größer als heute die Empörung über Weidel. Wir können einen erschreckenden Gewöhnungseffekt beobachten.

Ich will aber auch daran erinnern, dass diese unglaubliche Geschichtsfälschung kein Markenzeichen der AfD ist. Helmut Kohl erklärte im Wahlkampf 2001: »Dabei waren wir uns in Deutschland lange einig, dass wir weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind sein dürfen.« Wer heute mit den Post-Kommunisten paktiert, mache sich der »Geschichtsvergessenheit« schuldig. In diesem Zusammenhang erinnert Kohl an den früheren SPD-Chef Kurt Schumacher, dessen Haltung zur Nachkriegs-KPD eindeutig war: »Kommunisten sind rot lackierte Faschisten«[3].

Friedrich Merz war ein Schüler von Helmut Kohl. In der Bewertung der Geschichte lagen sie nicht weit auseinander. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Merz nach der Bundestagswahl sein Versprechen bricht, und gemeinsame Sache mit der AfD macht. Österreich macht es gerade vor. Die ÖVP hatte auch im Wahlkampf hoch und heilig versprochen, nicht mit der rechtsextremen FPÖ zu koalieren. Jetzt wird es sogar eine Regierung unter der Führung der FPÖ geben. Das ist ein kreuzgefährliches Signal nicht nur für Österreich und Europa, sondern auch für Deutschland.

Die AfD versucht seit Jahren, unser Geschichtsbild grundsätzlich und systematisch zu zerstören. Sie sehen Anne Frank als Bedrohung an und wollen die Erinnerung an sie auslöschen. In einer Kleinen Anfrage: »Förderung der Bildungsstätte Anne Frank durch den Bund.«[4] beklagt sich die AfD-Fraktion über die Diskriminierung Andersdenkender: »Insgesamt wird bei einer Inaugenscheinnahme der Internetrepräsentanz der Bildungsstätte, von deren begrüßenswertem und unstrittigem Einsatz gegen Antisemitismus einmal abgesehen, deren nach Auffassung der Fragesteller politisch einseitige und polemische, Andersdenkende stigmatisierende Ausrichtung überdeutlich.«

Was hatte die AfD-Fraktion zu beanstanden? Sie zitieren in ihrer Anfrage folgenden Text: »Um wirkungsvoll auf Rassismus, Antisemitismus und andere Gefahren für unsere offene Gesellschaft hinzuweisen, arbeitet die Bildungsstätte Anne Frank in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch gezielt mit Kampagnen.«[5] Unter der Überschrift »Der Stiftungstrick der AfD« heißt es dort weiter: »Die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) gibt sich nach außen bieder, vertritt aber menschenfeindliche und geschichtsrevisionistische Positionen. Sollte die AfD bei der Bundestagswahl 2021 erneut in den Bundestag einziehen, stünden der DES über die Stiftungsfinanzierung Millionen Euro an Steuergeldern zu. Deshalb warnen wir: #VorsichtVölkischeBildung! In unserer Kampagne stellen wir die Köpfe und Inhalte der Stiftung vor. Teilen Sie unser Kampagnenvideo mit prominenten Stimmen wie Beate Klarsfeld, Margot Käßmann, Carola Rackete oder Ruprecht Polenz.«

Die Antwort der Bundesregierung auf die Vorwürfe war erfreulich: »Zuwendungsempfänger sind in der Ausübung ihrer Grundrechte – insbesondere die Meinungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 GG) –während der Laufzeit von Förderprojekten nicht eingeschränkt. Die in der Frage zitierte Äußerung ist eine Position im Diskurs und fällt in den Bereich der freien Meinungsäußerung. Die Bundesregierung nimmt hierzu keine Stellung.«

Stellen wir uns nur einen Augenblick vor, dass in der nächsten Bundesregierung das Programm »Demokratie leben!« von einem Familienminister der AfD verwaltet wird. Schon die Ampel wollte die Mittel für das Programm reduzieren. Es würde mich nicht wundern, wenn unter einer Merz-Regierung das Programm ganz eingestellt werden würde.

Bevor ich den vorliegenden Artikel schrieb, besuchte ich das Anne Frank Zentrum e.V. in Berlin. Folgenden Satz des Vaters von Anne Frank möchte ich hier zitieren: »Leider Gottes lernt ja die Welt im Allgemeinen von der Vergangenheit nicht, aber wer kann, muss daran mitwirken, dass die Vergangenheit begriffen wird und die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden… Ich betrachte Annes Tagebuch als eine Art Testament. Ein Positivum gegen Rassismus, Antisemitismus und für Verständigung der Menschen.«[6]

Die Linke ist eine antifaschistische Partei. Rassismus und Antisemitismus haben in unseren Reihen kein Platz. Unsere Aufgabe ist es, gegen das Vergessen zu arbeiten. Ich habe mit 100 Schülerinnen und Schülern den großartigen Film von Andreas Dresen »In Liebe, eure Hilde« im Kino angesehen und im Anschluss über den Film mit ihnen diskutiert. Mir sagt der Film emotional und berührend: Du musst keine Heldin sein, um dich gegen Faschismus und Hetze zu wehren.

Am 10. Mai werden wir wieder an die Bücherverbrennung der Nazis 1933 auf dem Bebelplatz erinnern. Trotz aller globalen Krisen und tagesaktuellen Problemen, dürfen wir als Linke den Kampf um unsere Geschichte nicht vernachlässigen. Denn klar ist, dass die Geschichtsfälscher ihren Kampf gegen Anne Frank und die vielen Opfer des Faschismus nicht aufgeben werden.

 

Lesen gegen das Vergessen

Samstag, 10. Mai 2025, 15:00 Uhr, Bebelplatz, Unter den Linden 9, 10117 Berlin

Wir wollen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller erinnern, deren Bücher vor 90 Jahren in 22 deutschen Universitätsstädten – beginnend auf dem heutigen Bebelplatz in Berlin – öffentlich verbrannt wurden.

Das wollen wir nicht vergessen! Das darf sich nicht wiederholen!

 

Anmerkungen: 

[1] Gespräch zwischen Elon Musk und Alice Weidel auf der Plattform X, 09.01.2025

[2] Twitter, 02.06.2018

[3] Tagesspiegel, 17.06.2001

[4] Drs.19/31609

[6] Anne Frank Zentrum e.V., Otto Frank in einem Fernsehinterview, 1979

 

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