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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Rußlands Größe

Autorenkollektiv

"Der Oktober für uns, unser Land und die ganze Welt. Dem Volk muß sein revolutionärer Feiertag zurückgegeben werden."

17 namhafte russische Wissenschaftler und Autoren veröffentlichten Anfang Juni 2007 in der Wochenzeitung Moskowskije Nowosti einen Aufruf zur Wiedereinführung des Feiertags zu Ehren der Oktoberrevolution. Obwohl die Initiatoren politisch unterschiedlicher Auffassung sind, bewerten sie die damaligen Ereignisse und die darauf folgende Phase des Sozialismus als das wichtigste nationale Erbe für das heutige Rußland. jW dokumentierte den Aufruf am 23. August 2007 auf den Seiten 10/11 in voller Länge.

Nicht zufällig ist der herannahende 90. Jahrestag der Oktoberrevolution in Rußland Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Der Oktober des Jahres 1917 erschütterte nämlich tatsächlich die Welt, indem er ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen veränderte.

Zahlreiche Massenmedien stellen dieses weltgeschichtliche Ereignis als simplen Putsch hin, vollzogen durch ein Häuflein von Verschwörern und Abenteurern mit Hilfe westlicher Geheimdienste. Alles mögliche kommt dabei ins Spiel: offenkundige Lügen, Fälschungen, dummschwätzerische Schmähungen gegen die Teilnehmer und Führer der großen Revolution. Gebetsmühlenartig wiederholt man immer wieder ein und dieselbe, von führenden Wissenschaftlern verschiedener Länder längst widerlegte Behauptung, der "Oktoberputsch" sei vom "deutschen Agenten" Lenin und vom "anglo-amerikanischen Spion" Trotzki provoziert worden. Das russische Volk erscheint dabei als willenloses Spielzeug in den Händen "revolutionärer Extremisten". In Wirklichkeit aber wäre ohne dessen entscheidendes Wirken weder der Beginn noch der Sieg der Revolution möglich gewesen.

Keine Verschwörung, sondern eine soziale Revolution

Die Oktoberrevolution brach nicht deshalb aus, weil Verschwörer oder Agenten ausländischer Mächte sie inszeniert hatten. Sie war ein soziales Erdbeben, ein Orkan, ein Tsunami; niemand konnte sie durch bloße Aufrufe auslösen. Die Revolution entstand kraft der den Ereignissen innewohnenden eigenen Entwicklungslogik, in einer Situation, in der zahlreiche Quellen der Unzufriedenheit des Volkes einen einzigen, alles mit sich reißenden Strom speisten. Dies als Produkt einer Verschwörung zu definieren, erscheint zumindest fragwürdig. Wenn das so gewesen wäre, warum konnte dann in so kurzer Zeit in diesem gigantischen Land an Stelle der alten Ordnung die neue Macht errichtet werden, und warum unterstützte das Volk Rußlands diese Macht nicht nur schlechthin, sondern verteidigte sie im Bürgerkrieg [Zwischen 1918 und Herbst 1920 kämpften die Armeen der Weißgardisten, unterstützt von 14 imperialistischen Staaten, erfolglos gegen die sozialistischen Kräfte.] sogar mit der Waffe in der Hand?

Die Kritiker des "Oktoberputsches" "vergessen" aus irgendeinem Grund jene tiefe Krise, in die Rußland von der zaristischen Monarchie und der sie ablösenden Provisorischen Regierung [Im Februar 1917 wurde nach heftigen Kämpfen der Zar gestürzt und eine Provisorische Regierung mit Vertretern der russischen Großbourgeoisie gebildet. Georgi J. Lwow führte sie vom 23. März bis 21. Juli. Nach erneuten schweren Zusammenstößen zwischen Regierungskräften und dem demonstrierenden Volk im Juli wurde Lwow abgesetzt, und Alexander F. Kerenski regierte das Land bis in den Oktober hinein.] gestürzt wurde. Paralysiert durch die Losung vom "Krieg bis zum siegreichen Ende!" wollten die Herrschenden die realen Nöte des Volkes nicht zur Kenntnis nehmen. Ebenso vergessen besagte Kritiker die Selbstzerstörung der Monarchie, von der die nicht enden wollenden Intrigen und Konflikte am Zarenhofe zeugen, sie vergessen die militärischen Niederlagen an der Front [Gemeint ist der Erste Weltkrieg.] und schließlich die Abdankung des Herrschers und Oberkommandierenden der russischen Armee, Nikolai II. Als unfähig erwies sich auch die bürgerliche Regierung, welche die Monarchie ersetzte. Sie sah sich nicht imstande, die Hauptaufgaben jener Zeit zu lösen: die Beendigung des Krieges und die Übergabe des Bodens an die Bauern.

Der Oktober war der Kulminationspunkt der großen russischen sozialen Revolution. Ihre Führung übernahmen revolutionäre Sozialdemokraten, denen früher als anderen die Nöte und Sehnsüchte der einfachen Leute bewußt geworden waren, jene zugespitzten Probleme, deren Lösung die russische Gesellschaft um die Jahrhundertwende harrte. Und selbstverständlich spielten Wladimir Uljanow (Lenin) und seine engsten Mitstreiter die Hauptrolle unter ihnen. Keiner der Führer des Oktober war ohne Sünde. Es ist ebenso wenig korrekt, sie zu vergöttlichen wie sie zu dämonisieren. Die heute gegen sie erhobenen gehässigen Verleumdungen haben keinerlei reale Basis. Diese Menschen dienten niemandem, sie dienten revolutionären Idealen. Keinerlei irdische Versuchungen, sei es in Form von Geld oder sonstigen Attributen spießigen Wohlstands, hatten für sie Bedeutung. An ihr ganzes Leben legten sie den allerhöchsten Maßstab an: den des selbstlosen Dienstes für die Freiheit und das Glück aller Unterdrückten und ins Elend Gestoßenen.

Die Revolution reduziert sich nicht auf Gewalt

Die Oktoberrevolution wird nicht selten als "gewaltsamer Umsturz" bezeichnet. Der "Umsturz" in Petrograd gelang jedoch nahezu ohne menschliche Opfer. Auch wenn wir keine Anhänger der Gewalt sind, anerkennen wir doch ihre Unausweichlichkeit in solchen Stadien der historischen Entwicklung, die durch Klassen- und nationale Antagonismen gekennzeichnet sind. In der Tat gehen Revolutionen vielfach mit Gewalt einher, wie es sich z.B. auf anschauliche Weise in den bürgerlichen Umwälzungen der Niederlande, Englands und Frankreichs zeigte. Bekanntlich führte die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika zum blutigsten Bürgerkrieg des 19.Jahrhunderts. Auch in Rußland verband sich der Niedergang des Feudalismus mit Kriegen und Revolutionen.

Dabei waren derartige Erscheinungen nicht die Folge von Ränkespielen politischer Intriganten, sondern die der Krise des vorhergehenden Systems und der Unmöglichkeit, die angestauten Probleme auf evolutionärem Weg zu bewältigen. Die Bedingungen für eine gewaltsame Revolution entstehen immer dann, wenn die herrschende Klasse, verblendet durch die Gier nach eigener Bereicherung und Erhaltung ihrer Privilegien, das Wohlergehen des Volkes vernachlässigt. In einem solchen Fall bleibt den besitzlosen Klassen kein anderer Ausweg, als ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist eine der Hauptlehren der großen russischen Revolution.

Zudem ist es nicht die soziale Umwälzung, die zu Gewalt führt, und schon gar nicht zu solcher in Form des bewaffneten Kampfes. Ihr letztendliches Ziel ist die Erschaffung einer neuen Welt, die Herstellung bestmöglicher Bedingungen für alle Menschen und nicht nur für die oberen Schichten der Gesellschaft. In diesem Sinne erweisen sich solche Revolutionen tatsächlich als Lokomotiven der Geschichte, die den historischen Fortschritt beschleunigen.

Was die Oktoberrevolution leistete

In der Geschichte verschiedener Länder gab es eine Vielzahl von Aufständen der Werktätigen gegen den Kapitalismus. Aber nur bei uns erlangten sie einen derart weitreichenden Charakter. Das machte das Rußland des 20. Jahrhunderts zum Epizentrum der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem sich alle grundlegenden Probleme der damaligen Welt verschränkten und sich der Ausgang der Grunderkrankung des Kapitalismus – des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit – entschied. Nur die russischen Arbeiter besaßen ausreichend Willen und Entschlossenheit, um einen Weg zur Überwindung dieses Gegensatzes zu finden, einen Weg, der darin bestand, nicht nur den Kapitalismus zurückzudrängen, sondern zugleich den Übergang zu einem progressiveren sozialen System, zum Sozialismus, einzuleiten.

Der Pariser Kommune [Die erste Erhebung mit sozialistischen Zielen gab es in Paris zwischen dem 18. März und 28. Mai 1871.] folgend, hob die Oktoberrevolution die unteren Schichten der Gesellschaft auf die Höhen der Macht: Arbeiter, Bauern und die deren Interessen vertretenden Teile der Intelligenz. Dieser gesellschaftliche Umbruch festigte die Sowjets als die demokratischste Form politischer Machtausübung, was dem durch den Krieg ausgezehrten Volk den langerwarteten Frieden, Boden und nationale Selbstbestimmung sicherte. Millionen Werktätige zu sozialem Schöpfertum stimulierend, zeigte die Revolution auf anschauliche Weise, daß nicht nur die Elite dazu befähigt ist, Subjekt und Demiurg der Geschichte zu sein.

Im Ergebnis der Oktoberrevolution bildeten sich in der Welt zwei sozial gegensätzliche Systeme heraus, die in vielerlei Hinsicht den Gang der weiteren Menschheitsentwicklung bestimmten. Und dank des Einflusses des Oktober entstand die nationale Befreiungsbewegung, begann die Reformierung des kapitalistischen Systems selbst. Unter dem Einfluß der russischen Revolution vollzog sich der Zerfall des Kolonialsystems und der Zusammenbruch längst überlebter monarchistischer Regime.

Die Oktoberrevolution beförderte eine supranationale und überkonfessionelle Idee: die Idee der sozialen Befreiung und Gerechtigkeit. Auf ihrer Grundlage entstand erstmals in der Geschichte eine Union gleichberechtigter Völker – die UdSSR. Die Ideen und Taten des Oktober standen im Einklang mit den Zielen und dem Lebenswerk zahlreicher Titanen aus Kunst und Wissenschaft: Timirjasew und Wernadskij, Platonow und Majakowski, Scholochow und Eisenstein. [Die Rede ist vom Pflanzenphysiologen Kliment A. Timirjasew, vom Mineralogen und Geochemiker Wladimir I. Wernadskij, von den Schriftstellern Andrej P. Platonow und Michail Scholochow, vom Lyriker Wladimir Majakowski und vom Regisseur Sergei M. Eisenstein. – Konstantin E. Ziolkowski ist russischer Raumfahrtpionier.] Die dem Oktober innewohnende Kursbestimmung der Bewegung hin zu einer sozialistischen Zukunft fand seinerzeit die aktive Unterstützung herausragender Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Bernard Shaw und Picasso, Einstein und Ziolkowski.

Die sowjetische Geschichte verlief vielgestaltig

Der Oktober legte die Grundlage der sowjetischen Geschichte. Sie war kein Spaziergang auf dem Newskiprospekt. [Der Newskiprospekt ist die Hauptstraße in St. Petersburg.] In ihr gab es alles: gewaltige Errungenschaften und schreckliche Tragödien. Wir wissen nur zu gut darüber Bescheid, welch blutiger Bürgerkrieg nach der friedlichen Machtübernahme durch die Werktätigen in einem Großteil der Gouvernements Rußlands entbrannte, begleitet von ausländischer Intervention, von "weißem und von "rotem" Terror.

Der Sowjetmacht mangelte es natürlich an der erforderlichen historischen Erfahrung, und dadurch unterliefen ihr viele Fehler. Einer davon war die Politik des Kriegskommunismus [Im Kampf gegen Weißgardisten und ausländische Armeen wurde die Ökonomie Rußlands folgendermaßen geordnet: Zentralisierung der Produktion, allgemeine Arbeitspflicht, staatliche Verteilung der Konsumgüter, Abgabe aller Ernteüberschüsse. Diese Phase dauerte bis in den März 1921.], die eine allgemeine nationale Krise hervorrief. Es war das Verdienst der Bolschewiki, sich von ihr zu verabschieden und konsequent zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) [Mit der Neuen Ökonomischen Politik wurde die durch den Krieg völlig ruinierte Wirtschaft wieder aufgebaut. Zu den Maßnahmen gehörte die Wiederzulassung des Privathandels, Landwirte konnten ihre Überschüsse frei verkaufen.] überzugehen, zu jener Politik also, die das erste historische Modell erfolgreicher Verbindung von Grundelementen des Sozialismus und des Kapitalismus verkörperte. Zahlreiche ihrer Elemente wurden später in der Entwicklung einiger europäischer Länder und des modernen China angewendet. Die NÖP gestattete es, in kürzester Zeit die Kriegswunden zu heilen und die Wirtschaftskraft Rußlands auf das Vorkriegsniveau zu heben.

Gestützt auf die Erfahrung und die Bedeutung der NÖP erarbeitete Lenin den Plan zur weiteren Entwicklung des sowjetischen Staates, der radikale politische und ökonomische Umgestaltungen des Landes einschloß. Diese Veränderungen konzentrierten sich auf einen Durchbruch in der Entwicklung der Energiewirtschaft, der Kultur und der Bildung – in Sphären also, die nicht nur für das 20., sondern auch für das 21. Jahrhundert bestimmend werden sollten und sollen. Sie erforderten die Demokratisierung des politischen Systems vermittels der Einbeziehung der Arbeiter und Bauern in die Verwaltung des Staates und der Erneuerung der kommunistischen Partei. Letzteres schloß die Notwendigkeit ein, Stalin, der schon in dieser Phase seine Illoyalität, Grobheit und Neigung zum Machtmißbrauch an den Tag legte, vom Posten des Generalsekretärs abzulösen.

Allerdings wurden diese Vorhaben nicht entschieden genug verwirklicht. Das nach dem Tod Lenins [Lenin starb am 21. Januar 1924.] sich herausbildende machtfixierte Herrschaftssystem, das den Sozialismus als ureigenstes Ziel verkündete, bewirkte in der Praxis vieles, was dem widersprach. So wurde die vom Oktober proklamierte politische Freiheit der Bürger vollständig beseitigt. Als unangemessen hoch erwies sich der Preis, der für die Durchführung der Industrialisierung und Zwangskollektivierung bezahlt werden mußte. Im Ergebnis mutierte die Volksmacht der ersten Revolutionsjahre zur Herrschaft der Bürokratie unter ihrem Führer Stalin. Wir verweisen auf die Verbrechen der Stalinschen Massenrepressionen, auf die Verletzungen der Menschenrechte und der Rechte ganzer Völker in der UdSSR. All das diskreditierte die Ideale der Revolution und des Sozialismus.

Wir sind uns der genannten Fakten wohl bewußt, verwehren uns aber zugleich gegen im wissenschaftlichen Gewand daherkommende Lügen und einseitige, stumpfsinnige Propaganda die sowjetische Geschichte als Ganzes betreffend. Diese Geschichte war vielgestaltig; in ihr kämpften und verdrängten einander demokratische und bürokratische Tendenzen. So folgte der NÖP der Stalinsche Totalitarismus, der wiederum vom Chruschtschowschen Tauwetter [Nach dem Tod Stalins am 5.3.1953 übernahm Nikita Chruschtschow das Amt des Ersten Sekretärs der KPdSU. Mit seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag im Februar 1956 begann eine Phase der Auflösung des Stalinkults und der Verfolgung von Verbrechen aus jener Zeit.] abgelöst wurde. Später dann ersetzte den Breshnewschen Autoritarismus [Leonid Breshnew wurde 1964 zum Nachfolger von Chruschtschow gewählt. Er war Staatsoberhaupt der UdSSR bis 1982.] die Perestroika [Die Perestroika wurde vom Nachfolger Breshnews, Michail Gorbatschow, eingeführt. Der geplante Umbau des sowjetischen Wirtschaftssystems führte letztlich zur Auflösung des Sozialismus und der UdSSR.], die als ihr Ziel die Schaffung eines humanen, demokratischen Sozialismus verkündete.

Kein einziges Land kann auf eine unumstrittene Geschichte verweisen. Die Greuel der britischen und französischen Kolonialkriege oder die Sklavenhalterherrschaft in den USA waren wohl kaum besser als der sowjetische Gulag. Das verhinderte jedoch nicht die sozialen und kulturellen Errungenschaften in diesen Ländern. Warum also sollte man vergleichbare Leistungen des sowjetischen Volkes negieren, wie den hart errungenen Sieg über den Faschismus, die Schaffung einer unverwechselbaren Kultur und Literatur, das erreichte System der sozialen Sicherheit für die Bevölkerung, die ersten bahnbrechenden Schritte in den Kosmos? Man darf nicht vergessen, welche bislang ungekannte schöpferische Energie der Oktober bei der von den Massen getragenen Errichtung einer neuen Gesellschaft freisetzte, wie er viele Ideen des Internationalismus verwirklichte, wie er die früheren Unterschichten der russischen Gesellschaft an die Gipfel der nationalen und Weltkultur heranführte. Ebensowenig darf man aus der sowjetischen Geschichte jenen Enthusiasmus streichen, den die Volksmassen bei der Aneignung der neuesten Errungenschaften von Wissenschaft und Technik unter Beweis stellten. In ihm zeigten sich anschaulich die revolutionär-romantische Veranlagung und der Heroismus von Millionen Sowjetbürgern.

Warum das sowjetische Modell scheiterte

Es sei hier betont, daß wir unterschiedliche Ansichten bezüglich der Natur der Gesellschaftsordnung, die sich in der UdSSR herausgebildet hatte, vertreten. Aber wir stimmen darin überein, daß die Geringschätzung oder gar Aufgabe jener vom Oktober hervorgebrachten Prinzipien der Volksherrschaft, des Internationalismus, der Gerechtigkeit und des Humanismus früher oder später eine mit dem Aufbau des Sozialismus befaßte Gesellschaft in die Katastrophe führen mußte. Und eben dies ereignete sich in der Sowjetunion.

Die Fesselung der schöpferischen Initiative der Menschen unter den Bedingungen des totalitären Regimes begrenzte die Möglichkeiten des Wachstums der sowjetischen Wirtschaft immens. Das Warendefizit wurde zu ihrer charakteristischen Eigenschaft. Daraus resultierend gelang es uns nicht, den Wohlstand der Werktätigen auf das Niveau der entwickelten Länder der Welt zu heben, was zu einer der Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetordnung wurde. Eine zweite wichtige Ursache stellte das Fehlen realer politischer und ökonomischer Demokratie im Lande dar, ein Zustand, der besonders unter den Bedingungen der vollen Entfaltung der weltweiten technologischen und informationellen Revolution nicht mehr hinnehmbar war. Infolge all dessen kam es zur Entfremdung der bürokratischen Macht von den Werktätigen. Die Versuche, im Verlauf der Perestroika diese Entfremdung zu überwinden, erzielten nicht die notwendigen Resultate. Im Ergebnis wurden die KPdSU und die Sowjetmacht gestürzt. Diese Situation nutzten dann jene politischen Kräfte, die die UdSSR auflösten und Rußland auf den Weg hin zur Errichtung eines wild wuchernden oligarchischen Kapitalismus brachten, eines Kapitalismus mit Massenarbeitslosigkeit, Verfall des Lebensniveaus des Volkes, tiefgreifender sozialer Segmentierung der Gesellschaft, Aufblühen des Nationalismus und Wachstum der Kriminalität.

Aus dem Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsmodells ist nicht zu folgern, daß die Ideale des Oktober falsch sind. Ebensowenig wie die Ideen des Christentums für die Praxis der Inquisition verantwortlich gemacht werden können, vermochte der Stalinsche Totalitarismus die Ideale der Revolution zu zerstören. Das historische Projekt des Sozialismus wird nicht im ersten Anlauf verwirklicht. Schon formiert sich eine neue, junge Generation, welche das kapitalistische System nicht akzeptiert. Es gibt allen Grund zu hoffen, daß es ihr gelingt, die Ideale der Oktoberrevolution neu mit Leben zu erfüllen.

Wovon die Größe des modernen Rußland abhängt

Die Ideen der Oktoberrevolution vereinten nicht nur proletarische Internationalisten unter ihrem Banner, sondern auch Anhänger der Festigung und Entwicklung der russischen Großmachtposition. Diese Ideen ebneten jenem Sowjetbürger einen Weg, der die nationale Kultur Rußlands in dessen Randgebieten und in anderen Ländern verbreiten wollte, der, von patriotischen Gefühlen getragen, bereit war, das Sowjetland vor einem möglichen Aggressor zu verteidigen. Die von diesen Gefühlen ausgehende Kraft demonstrierte auf anschauliche Weise der Große Vaterländische Krieg [Die Rede ist vom Kampf der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.], der die Souveränität der UdSSR und die Errungenschaften des Oktober verteidigte.

Die Oktoberrevolution ist Beleg für das große geistige Potential des russischen Volkes, das bereit war, einen zum Kapitalismus alternativen Weg der Entwicklung des Landes einzuschlagen. Den Oktober als Verschwörung extremistischer Kräfte zu diffamieren ist auch deshalb gefährlich, weil dies Wasser auf die Mühlen antirussischer Geschichtsdeutung leitet. Derartigen Auslegungen zufolge birgt die angebliche Unberechenbarkeit Rußlands eine ständige Gefahr für die Welt in sich. Von Rußland, so behaupten hinreichend bekannte Kreise, kann man nichts weiter als Unannehmlichkeiten erwarten. Deshalb müsse man es an der kurzen Leine führen und dabei seine Naturreichtümer, energetischen und intellektuellen Ressourcen kontrollieren und ausbeuten.

Das moderne Rußland sollte derartige Provokationen nüchtern beurteilen und seinen Kurs fest verfolgen. Die Größe Rußlands besteht nicht im blinden Kopieren ausländischer Modelle und noch weniger in nationalistischem Hochmut gegenüber anderen Völkern. Sie ergibt sich vielmehr daraus, daß man sich auf die Talente und das kreative Potential des eigenen Volkes stützt und sich all jenes Wissen, all jene Erfahrungen, die von der Weltkultur hervorgebracht wurden, gründlich aneignet.

Nur indem das Land die Armut und die tiefe soziale Spaltung der Russen überwindet, das Leben seiner Bürger qualitativ verbessert, die sozialen und demokratischen Rechte tatsächlich ausweitet, aus seiner geschichtlichen Vergangenheit alles Bewahrenswerte übernimmt, kann es erneut zu einer Großmacht werden, mit der auch ihre Gegner rechnen müssen.

Die historische Bedeutung des Oktober ist nur schwer überzubewerten. Seine positiven Folgen sind augenscheinlich. Ein Drittel der Menschheit [Gemeint ist die Bevölkerung Chinas und der Warschauer Vertragsstaaten.] zog einen Teil seines Weges auf den von ihm angelegten Magistralen. Zahlreiche Länder setzen diese Bewegung heute fort, wobei sie die Lehren aus den Niederlagen und Tragödien der Vergangenheit berücksichtigen. Der Oktober bewies, daß eine andere, gerechtere Welt möglich ist. Diese streben heute unterschiedliche soziale und politische Kräfte, Länder und Völker an. Davon zeugt die neue Welle revolutionärer Veränderungen, die sich besonders kraftvoll in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas und Asiens entfalten.

Die Oktoberrevolution war und bleibt unser Schicksal, und wir können uns von ihr als dem wichtigsten Teil der Geschichte Rußlands nicht lossagen. Fehler treten immer und überall auf, auch die großen Revolutionen der Vergangenheit waren nicht frei von ihnen. Und trotzdem werden die Jubiläen dieser Revolutionen in allen Ländern würdig begangen, nicht zuletzt auf staatlicher Ebene. Allein in Rußland ist das nicht so. Hier setzt man die Verunglimpfung der revolutionären Vergangenheit fort.

Am Vorabend des 90. Jahrestages der Oktoberrevolution erheben wir unsere Stimme gegen diese Praxis. Dem Volk muß sein revolutionärer Feiertag und die Wahrheit über den Oktober zurückgegeben werden. Man darf nicht vergessen, daß wir in einem Land leben, dessen Geschichte eine große Revolution verzeichnet. Darauf kann und muß man stolz sein.

Prof. Dr. habil. W. G. Arslanow, Kulturwissenschaftler;
Prof. Dr. habil. G. A. Bagaturija, Philosoph;
Prof. Dr. habil. A. W. Busgalin, Ökonom;
Prof. Dr. habil. M. I. Bojekow, Ökonom;
A. I. Borobjow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften;
Prof. Dr. habil. A. A. Galkin, Historiker;
Prof. Dr. habil. S. S. Dsarassow, Ökonom;
Dr. habil. L. G. Istjagin, Historiker;
Prof. Dr. habil. D. Sch. Kelle, Philosoph;
Dr. habil. A. I. Kolganow, Ökonom;
Prof. Dr. habil. W. T. Loginow, Historiker;
Dr. habil. R. A. Medwedew, Historiker;
Prof. Dr. habil. E. N. Rudik, Ökonom;
M. F. Schatrow, Dramaturg;
Dr. habil. S. L. Serebrjakowa, Historikerin;
Prof. Dr. habil. B. F. Slawin, Philosoph;
Dr. habil. O. N. Smolin, Philosoph, Deputierter der Staatsduma

Übersetzung aus dem Russischen von Peter Borak.

Die Fußnoten enthalten redaktionelle Anmerkungen von "junge Welt".